Gericht / Entscheidungsdatum: AG Stade, Beschl. v. 27.08.2024 – 32 Cs 141 Js 18761/24 (283/24)
Eigener Leitsatz:
1. Bei einer drohenden Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen oder mehr kann im Einzelfall eine Verteidigung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten sein.
2. Bei Tatvorwürfen der Steuerhinterziehung über mehrere Veranlagungszeiträume, die auf Schätzungsgrundlagen beruhen, ist eine Verteidigung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage jedenfalls dann geboten, wenn weitere Umstände in der Person des Angeklagten hinzutreten, die befürchten lassen, dass der Angeklagte den Sachverhalt in seiner Komplexität nicht erfasst, was z.B: bei sprachlichen Schwierigkeiten und der Erforderlichkeit eines Dolmetschers der Fall sein kann.
In pp.
I.
Gegen die Angeklagte ist wegen Steuerhinterziehung in 15 Fällen durch das Amtsgericht Stade am 17.05.2024 ein Strafbefehl über 450 Tagessätze zu je 30 EUR Gesamtgeldstrafe erlassen worden. Ferner ist die Einziehung des Wertes des Erlangten in Höhe von 62.873,62 EUR angeordnet worden. Die Angeklagte hat durch ihren Verteidiger gegen den Strafbefehl rechtzeitig Einspruch eingelegt. Der Verteidiger hat beantragt, der Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden und für den Fall der Beiordnung das Wahlmandat niedergelegt. Die zu dem Antrag angehörte Staatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag abzulehnen. Weder die Schwere der Tat noch die zu erwartende Rechtsfolge rechtfertigt eine Beiordnung. Eine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ist nicht gegeben.
II.
Der Angeklagten ist ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
1. Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge gebietet die Mitwirkung eines Verteidigers. Die Erforderlichkeit der Mitwirkung eines Verteidigers ergibt sich sowohl aus der zu erwartenden Gesamtgeldstrafe als auch aus der zu erwartenden Einziehungsentscheidung. Bei der Rechtsfolgenbetrachtung sind sämtliche Umstände der zu erwartenden Rechtsfolgen in die Erwägungen einzubeziehen. Die in dem erlassenen Strafbefehl bestimmte Rechtsfolge von 450 Tagessätzen Geldstrafe ist dabei wegen der Geständnisfiktion des Strafbefehls als Mindestmaß der zu erwartenden Rechtsfolge für den Fall einer Verurteilung anzusehen.
Ob eine Verteidigung durch einen Verteidiger geboten ist, ist im Fall einer drohenden Verurteilung zu einer hohen Geldstrafe allein bisher – soweit ersichtlich – nicht durch höhere Gerichte entschieden worden. Einigkeit besteht sowohl in der Kommentierung als auch durch die Rechtsprechung der Gerichte, dass bei einem drohende Gesamtstrafenübel ab 1 Jahr Freiheitsstrafe eine Verteidigung durch einen Verteidiger geboten ist. Die drohende Verurteilung zu Geldstrafen wird insoweit ein geringeres Gewicht beigemessen. Dabei entsprach bis zum 30.09.2023 ein Tagessatz Geldstrafe auch in der Vollstreckung einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe; erst mit Wirkung zum 01.10.2023 entsprechen gem. § 43 Satz 2 StGB 2 Tagessätze Geldstrafe in der Vollstreckung einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe. Mithin ist im Fall einer Verurteilung zu der im Strafbefehl angesetzten Sanktion von 450 Tagessätzen Geldstrafe zwar nur eine Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 225 Tagen zu befürchten, wenn die Geldstrafe nicht bezahlt werden kann. Dies liegt insgesamt deutlich unter 1 Jahr. Jedoch ist der Geldstrafe auch ein eigener Wert beizumessen. gerade hohe Geldstrafen können erhebliche Einschränkungen für die Angeklagten zur Folge haben. Denn mit einer Verurteilung zu 360 Tagessätzen Geldstrafe werden dem Verletzten letztlich über 1 Jahr hinweg seine vollen Einnahmen entzogen. Dies trifft insbesondere Personen, die nicht über Vermögen verfügen oder wenigstens über eine gute familiäre Einbettung und Absicherung. Mithin ist mit einer erheblichen Einschränkung der Lebensführung über einen langen Zeitraum selbst dann zu rechnen, wenn eine Ratenzahlung gewährt wird. Dies verstärkt sich, wenn – wie vorliegend – eine geringe Tagessatzhöhe bestimmt ist. Denn diese legt nahe, dass das Einkommen sich nicht weit von dem Existenzminimum abhebt und mithin zur Begleichung von Geldstrafen nur geringe Mittel zur Verfügung stehen mit der Folge einer entsprechend langen Vollstreckungsdauer.
Entsprechend sieht das Gericht bei einer Tagessatzhöhe von 50 EUR oder weniger – dies entspricht einem monatlichen Nettoeinkommen von bis zu 1.500 EUR – und einer Geldstrafe von mehr als 360 Tagessätzen eine derart schwere Auswirkung auf die Lebensgestaltung der Angeklagten, dass eine Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO geboten ist. Denn unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten wird bei derart geringen Einkommen nicht damit zu rechnen sein, dass mehr als 1/3 des Monatsnettoeinkommens zur Tilgung der Geldstrafe verwendet werden kann, was dann eine Folge einer dreijährigen Vollstreckungsdauer hat. Ausnahmen sind lediglich dort zu treffen, wo ersichtlich ist, dass der Einsatz von Vermögen oder die Zuwendungen von dritter Seite – sei es zur Gewährung von Unterhalt – die Auswirkungen der Geldstrafe eingrenzen.
Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen dürfte aber auch im Fall einer Verurteilung wegen angeklagter Tatvorwürfe – insbesondere vor dem Wegfall der Geständnisfiktion des Strafbefehls – nicht von vorneherein auszuschließen sein, dass anstelle der Geldstrafen Freiheitsstrafen verhängt werden. Die Verhängung insbesondere hoher Geldstrafen erfolgt schließlich unter der Berücksichtigung etwa hoher krimineller Energie oder eines hohen Schadens oder anderer strafschärfender Gesichtspunkte, die durchaus auch geeignet sind – gerade bei Fortfall der Geständnisfiktion – die Verurteilung zu Freiheitsstrafen zu erfordern; insbesondere, wenn die Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB vorliegen und – wie hier – droht, dass eine Gesamtstrafe aus einer Vielzahl von Einzelstrafen gem. § 53 StGB zu bilden ist. Bei der Verhängung von Gesamtgeldstrafen ab 360 Tagessätzen dürfte nach diesen Grundsätzen auch durchaus mit einer äquivalenten Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr zu rechnen sein. Insgesamt geht das Gesetz bei dem Verhältnis von Freiheitsstrafe und Geldstrafe im Erkenntnisverfahren nämlich davon aus, dass eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen einem Monat Freiheitsstrafe entspricht, § 47 Abs. 2 Satz 2, 2. HS StGB.
2. Vorliegend erachtet das Gericht zudem auch die Schwierigkeit der Sach.- und Rechtslage für gegeben. Bei den vorliegenden Tatvorwürfen handelt es sich nicht um ein einfaches, leicht nachvollziehbares Delikt – wie Diebstahl, Körperverletzung oder Fahren ohne Fahrerlaubnis. Vorliegend geht es um Besteuerungsgrundlagen für 15 Tatzeiträume, die bereits 4 ½ bis 2 Jahre zurückliegen und sämtliche Besteuerungsgrundlagen auf Schätzungen beruhen. Es mag dahingestellt bleiben, ob allein dies ausreicht, um die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründet. Da die Angeklagte jedoch chinesischer Abstammung ist und der deutschen Sprache nicht mächtig ist, erachtet das Gericht es auch unter Berücksichtigung der gerichtlichen Bestellung eines Dolmetschers für die chinesische Sprache, für derart schwierig, dass eine Verteidigung durch die Angeklagte selbst nicht zielführend ist.
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