Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Saarbrücken, Beschl. v. 09.12.024 - 1 Ss (OWi) 102/24
Eigener Leitsatz:
Es ist im Regelfall erforderlich, in den Urteilsgründen mitzuteilen, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob und warum das Gericht der Einlassung folgt oder ob und inwieweit es die Einlassung als widerlegt ansieht. Nichts anderes gilt im Falle einer Abwesenheitsverurteilung nach § 74 OWiG.
1 Ss (OWi) 102/24
SAARLÄNDISCHES OBERLANDESGERICHT
BESCHLUSS
In der Bußgeldsache
gegen pp.
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
Verteidiger: Rechtsanwalt Alexander Gratz, Bous
hat der Bußgeldsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts in Saarbrücken am 9. Dezember 2024 gemäß § 80a Abs. 1 OWiG durch den Richter am Oberlandesgericht als Einzelrichter auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts St. Ingbert vom 23. November 2023 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts St. Ingbert zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Durch Urteil vom 23. November 2023 verhängte das Amtsgericht St. Ingbert gegen die von einem persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundene Betroffene in ihrer Abwesenheit wegen fahrlässigen Überschreitens der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 32 km/h eine Geldbuße von 260 Euro. Daneben ordnete es ein Fahrverbot von einem Monat an.
Gegen dieses Urteil hat der erstinstanzlich für die Betroffene tätige Verteidiger am 27. November 2023 Rechtsbeschwerde eingelegt. Am 8. Januar 2024 hat der nunmehrige Verteidiger der Betroffenen die Rechtsbeschwerde mit der Rüge der Verletzung sowohl formellen als auch materiellen Rechts begründet. Verfahrensrechtlich beanstandet der Verteidiger eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht durch unterlassene Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens, eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch Missachtung eines aus der fehlenden Speicherung von Rohmessdaten folgenden Beweisverwertungsverbots und eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durch Ablehnung eines im Hinblick auf nicht zur Verfügung gestellte Messunterlagen in der Hauptverhandlung gestellten Aussetzungsantrags. Eine zunächst mangels Vorlage einer schriftlichen Vollmacht unwirksame Zustellung der Urteilsgründe am 13. Dezember 2023 wurde am 6. Mai 2024 nachgeholt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil sowohl auf die Sachrüge als auch wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör infolge der Ablehnung der Verfahrensaussetzung bis zur Bereitstellung nicht bei der Bußgeldakte befindlicher, verteidigungsrelevanter Unterlagen hin mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht St. Ingbert zurückzuverweisen.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 OWiG statthafte und form- sowie fristgerecht eingelegte und begründete (§ 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Das angefochtene Urteil hält, ohne dass es einer Entscheidung über die verfahrensrechtlichen Rügen bedürfte, bereits materiell-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil es an einem Darstellungsmangel leidet. Da in den Urteilsgründen die Einlassung der Betroffenen nur bruchstückhaft wiedergegeben ist, vermag der Senat nicht zu prüfen, ob das Tatgericht seine Überzeugung vom Vorliegen eines Geschwindigkeitsverstoßes zu Recht allein auf die Verwendung eines standardisierten Messverfahrens stützen und ein Fahrverbot verhängen durfte.
1. Zwar sind an die Gründe eines tatrichterlichen Bußgeldurteils keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen. Gleichwohl gilt für sie gemäß § 46 Abs. 1 OWiG die Vorschrift des § 267 StPO sinngemäß und damit für ihren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren. Auch die Gründe eines Bußgeldurteils müssen so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird (vgl. nur BayObLG, Beschluss vom 29. Februar 2024 2020 ObOWi 140/24 , juris; OLG Dresden, Beschluss vom 25. Mai 2023 ORbs 21 SsBs 54/23 , juris; KG Berlin, Beschluss vom 12. Januar 2022 3 Ws (B) 8/22 , juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. September 2016 2 (7) SsBs 507/16 , juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 2. April 2015 2 Ss OWi 251/15 , juris, ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 24. Januar 2019 SsBs 107/2018 (76/18 OWi) , juris, 9. April 2019 Ss Bs 16/2019 (18/19 OWi) , 12. Juni 2019 Ss Bs 2/2019 (29/19 OWi) , 22. September 2020 Ss Bs 2/2020 (14/20 OWi) , 20. Oktober 2020 SsBs 88/2019 (11/20 OWi) , 9. Mai 2022 SsBs 14/22 (1 Ss (OWi) 15/22) und 3. Juli 2023 1 Ss (OWi) 14/23 , Bauer in: Göhler, OWiG, 19. Aufl., § 71 Rn. 42; Senge in: KK-OWiG, 5. Aufl., § 71 Rn. 106). Sie müssen insbesondere eine Überprüfung der Beweiswürdigung auf Lücken, Unklarheiten, Widersprüche sowie auf Verstöße gegen Denkgesetze und gesicherte Erfahrungssätze möglich machen (OLG Dresden a.a.O.; OLG Karlsruhe, a.a.O.; Senatsbeschlüsse a.a.O.; Bauer in: Göhler, a.a.O., § 71 Rn. 43; Senge in: KK-OWiG, a.a.O., § 71 Rn. 107). Dazu ist es im Regelfall erforderlich mitzuteilen, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob und warum das Gericht der Einlassung folgt oder ob und inwieweit es die Einlassung als widerlegt ansieht (vgl. nur OLG Karlsruhe, a.a.O.; OLG Oldenburg, a.a.O.; KG Berlin, Beschluss vom 12. Januar 2022 3 Ws (B) 8/22 , juris; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 30. März 2022 1 OLG 53 Ss-OWi 35/22 , juris; Senatsbeschlüsse a.a.O.; Bauer in: Göhler, a.a.O., § 71 Rn. 43; Senge in: KK-OWiG, a.a.O., § 71 Rn. 107 m.w.N.). Das Fehlen einer zumindest gestrafften Darstellung der Einlassung des Betroffenen in den Urteilsgründen begründet auch im Bußgeldverfahren in aller Regel einen sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils (vgl. OLG Bamberg, a.a.O.; KG Berlin a.a.O.; OLG Koblenz, Beschluss vom 18. Januar 2023 - 2 ORbs 31 SsBs 17/23 , juris; Senatsbeschlüsse a.a.O.; Senge in: KK-OWiG/Senge, a.a.O., § 71 Rn. 107 m.w.N.). Nur in sachlich und rechtlich einfach gelagerten Fällen von geringer Bedeutung kann auf die Wiedergabe der Einlassung und auf eine Auseinandersetzung mit ihr in den Urteilsgründen ohne Verstoß gegen die materiell-rechtliche Begründungspflicht verzichtet werden (vgl. BGH MDR 1975, 198; OLG Düsseldorf NStZ 1985, 323; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. August 2010 1 SsBs 97/10 , juris; Senatsbeschlüsse vom 12. Juni 2019 Ss Bs 2/2019 (29/19 OWi) , 22. September 2020 Ss Bs 2/2020 (14/20 OWi) und 20. Oktober 2020 SsBs 8872019 (11/20 OWi) ; Senge in: KK-OWiG, a.a.O., § 71 Rn. 107).
Nichts anderes gilt im Falle einer Abwesenheitsverurteilung nach § 74 OWiG, da hier ein mit Vertretungsvollmacht versehener Verteidiger (§ 73 Abs. 3 OWiG) berechtigt ist, für den Betroffenen Angaben zur Sache zu machen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. Februar 2020 IV-4 RBs 31/20 , juris; Senatsbeschlüsse vom 4. Januar 2024 1 Ss (OWi) 66/23 und vom 14. Mai 2024 1 Ss (OWi) 28/24 ; Bauer in: Göhler, a.a.O., § 74 Rn. 9). Findet die Hauptverhandlung ohne einen solchen Verteidiger statt, hat das Gericht nach § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG frühere Vernehmungen des Betroffenen und seine protokollierten und sonstigen Mitteilungen als Aussagemittler (Senatsbeschluss, a.a.O.; Bauer in: Göhler, a.a.O., § 74 Rn. 11) in die Hauptverhandlung einzuführen und infolgedessen auch diese in den Urteilsgründen darzulegen und zu würdigen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 28. April 2017 1 RBs 35/17, juris; Senatsbeschlüsse, a.a.O.). Dabei steht ein Sachvortrag des mit einer Verteidigungsvollmacht ausgestatteten Verteidigers eigenen Angaben des Betroffenen gleich (vgl. OLG Hamm a.a.O., KG Berlin, Beschluss vom 11. Februar 2022 3 Ws (B) 40/22 , juris; Senatsbeschlüsse, a.a.O.).
2. Hiernach leidet das angefochtene Urteil an einem Darstellungsmangel.
In Anbetracht dessen, dass das Amtsgericht gegen die Betroffene neben einer Geldbuße von 260 Euro auch ein Fahrverbot von einem Monat verhängt hat, liegt kein Fall von geringer Bedeutung vor, in dem auf die Wiedergabe der Einlassung der Betroffenen verzichtet werden könnte (vgl. Senatsbeschlüsse vom 12. Juni 2019 SsBs 2/2019 (29/19 OWi) , 20. Oktober 2020 SsBs 88/2019 (11/20 OWi) und vom 14. Mai 2024 1 Ss (OWi) 28/24 ).
Gleichwohl teilen die Urteilsgründe zu der Einlassung nur mit, dass die Betroffene die Messörtlichkeit mit dem erfassten Fahrzeug befahren habe, und beschränken sich im Übrigen auf folgende Darstellung:
„Ausgehend von einer solchen Messung im standardisierten Messverfahren bedurfte es keiner weiteren Beweisaufnahme zur Überprüfung der Messung. Konkrete Messfehler oder Unregelmäßigkeiten waren nicht ersichtlich, wurden auch seitens d. Betroffenen nicht vorgebracht. Der Vortrag beschränkte sich auf entscheidungsunerhebliche abstrakte Einwände gegen die Messung bzw. (UA S. 7)
,
Zwar erkennt der Senat keine Verpflichtung des Amtsgerichts, die Ausführungen zum Akteneinsichtsrecht näher darzulegen, weil es sich insoweit nicht um einen Teil der in der Beweiswürdigung darzulegenden und zu würdigenden Sacheinlassung handelt, sondern um die Geltendmachung von Verfahrensrechten. Teil der Sacheinlassung sind aber etwaige Einwände gegen das Messergebnis, zumal sich solche insbesondere auch aus den tatsächlichen Umständen der verfahrensgegenständlichen Messung ergeben können. Welche Einwände die Betroffene insoweit jedenfalls über ihren Verteidiger vorterminlich oder in der Hauptverhandlung vorgebracht, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Insbesondere kann der Senat, da die offensichtlich erhobenen Einwände ihrem Inhalt nach nicht näher mitgeteilt werden, anhand der Urteilsschrift nicht prüfen, ob die Einwände entsprechend der Bewertung des Amtsgerichts tatsächlich entscheidungsunerheblich waren. Davon kann im Einzelfall indes abhängen, ob das Amtsgericht zutreffend von einer Geschwindigkeitsmessung mittels eines standardisierten Messergebnisses ausgegangen ist und daher eine weitere Beweiserhebung zu dem festgestellten Geschwindigkeitsverstoß entbehrlich war (vgl. hierzu grundlegend BGHSt 39, 291; 43, 277) oder ob die Beweiswürdigung sich insoweit als lückenhaft erweist.
Gleiches gilt, soweit die Betroffene nach den Urteilsgründen keinen Grund vorgetragen haben soll, der es hätte rechtfertigen können, von der Verhängung des Regelfahrverbots abzusehen. Auch insoweit bleibt offen, ob und welchen Vortrag die Betroffene insoweit über ihren Verteidiger gehalten hat, weshalb dem Senat eine rechtliche Überprüfung verwehrt ist.
Das angefochtene Urteil war daher mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO i. V. mit § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Dabei hat der Senat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts St. Ingbert zurückzuverweisen (vgl. Bauer in: Göhler, OWiG, 19. Aufl., § 79 Rn. 48 m.w.N. zur Rspr.).
Einsender: RA A. Gratz, Bous
Anmerkung:
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