Gericht / Entscheidungsdatum: BayVGH, Beschl. v. 19.12.2024 – 11 CS 24.1933
Eigener Leitsatz:
Zur Frage der Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem und zur – verneinten - Unverhältnismäßigkeit bei beruflicher Angewiesenheit auf die Fahrerlaubnis.
In pp.
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, B/BE und C1/C1E (einschließlich Unterklassen) nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
Aufgrund einer Behördenauskunft aus dem Fahreignungsregister vom 13. April 2022, wonach der Antragsteller durch mehrere Ordnungswidrigkeiten insgesamt vier Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht habe, ermahnte ihn das Landratsamt Neumarkt i.d.OPf. (Fahrerlaubnisbehörde) mit Schreiben vom 14. April 2022 und wies auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Fahreignungsseminar mit der Folge eines Punkteabzugs hin. Der Ermahnung lagen jeweils mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid geahndete Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften am 30. September 2021, 14. November 2021, 19. April 2021 und 27. Juni 2019 zu Grunde.
Nach einer weiteren Behördenauskunft aus dem Fahreignungsregister verwarnte das Landratsamt den Antragsteller mit Schreiben vom 23. Februar 2024 bei einem Stand von sechs Punkten. Der Verwarnung lagen neben den vorgenannten Taten vom 30. September 2021, 14. November 2021 und 19. April 2021 zusätzliche, jeweils mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid geahndete Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit am 6. Februar und 5. Oktober 2022 sowie eine rechtskräftig geahndete Unterschreitung des erforderlichen Mindestabstands zum vorausfahrenden Fahrzeug am 23. Februar 2023 (29 m Abstand bei einer Geschwindigkeit von 145 km/h) zu Grunde.
Durch eine Behördenauskunft aus dem Fahreignungsregister vom 12. September 2024 erhielt das Landratsamt Kenntnis davon, dass gegen den Antragsteller ein weiterer rechtskräftiger Bußgeldbescheid wegen Unterschreitung des erforderlichen Mindestabstands zum vorausfahrenden Fahrzeug (20,5 m bei einer Geschwindigkeit von 137 km/h) am 5. August 2023 (bewertet mit zwei Punkten) erlassen worden war.
Mit Bescheid vom 2. Oktober 2024 entzog das Landratsamt dem Antragsteller nach Anhörung wegen Erreichens von acht Punkten die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn zur Ablieferung des Führerscheins.
Am 17. Oktober 2024 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Regensburg Klage (Az. RO 8 K 24.2467) gegen den Bescheid erheben, über die noch nicht entschieden ist. Den gleichzeitig gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. Oktober 2024 abgelehnt. Der Antrag sei unbegründet, da die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben werde und das öffentliche Interesse an einer vorbeugenden Gefahrenabwehr das Interesse des Antragstellers an einer weiteren Verkehrsteilnahme bis zur Entscheidung in der Hauptsache überwiege. Der Antragsteller habe mit der zuletzt geahndeten Tat vom 5. August 2023 einen Stand von acht Punkten erreicht und zuvor das Stufensystem ordnungsgemäß durchlaufen. Die Entziehung erweise sich auch im Hinblick auf die geltend gemachte berufliche Angewiesenheit des Antragstellers auf seine Fahrerlaubnis nicht als unverhältnismäßig.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern wäre. Die Entziehung der Fahrerlaubnis, die nach § 4 Abs. 9 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, 919), vor Erlass des Bescheids vom 2. Oktober 2024 zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. August 2024 (BGBl I Nr. 266), sofort vollziehbar ist, erweist sich bei einer summarischen Prüfung als rechtmäßig. Besondere Umstände, die eine Abweichung von der gesetzlichen Grundentscheidung für eine sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich. Damit überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung das Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Klageverfahrens von Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben.
1. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 40 i.V.m. Anlage 13 der Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV – vom 13.12.2010 [BGBl I S. 1980], vor Erlass des Bescheids ebenfalls zuletzt geändert durch das vorgenannte Gesetz vom 16.8.2024), ergeben.
Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem setzt allerdings voraus, dass der Fahrerlaubnisinhaber zuvor das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchlaufen hat (§ 4 Abs. 6 StVG), d.h. dass er bei Erreichen von vier oder fünf Punkten ermahnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) und bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten verwarnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) wurde.
2. Die Beschwerde stellt nicht in Frage, dass der Antragsteller acht Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht hat, vor der Entziehung der Fahrerlaubnis ordnungsgemäß ermahnt sowie verwarnt worden ist und der angegriffene Bescheid in Einklang mit der vorgenannten gesetzlichen Regelung steht. Sie setzt dem angegriffenen Beschluss vielmehr entgegen, hier liege ein Härtefall vor, der nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowohl im Hauptsacheverfahren als auch bei der im Eilverfahren gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen sei. Der Antragsteller habe, obwohl er beruflich bedingt sehr viel fahre, noch nie einen Unfall und bei Begehung der geahndeten Verkehrsverstöße auch keine konkreten Gefahren verursacht, werde sich, u.a. aufgrund der Verwendung eines Tempomaten, in Zukunft regelgerecht verhalten und könne seinen Beruf als Pharmareferent ohne Fahrerlaubnis nicht ausüben. Damit unterliege er faktisch einem Berufsverbot, das schwerwiegende Folgen für seine finanzielle und familiäre Situation habe. Diese Einwände greifen nicht durch.
a) Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung stellt die zwingende Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von acht Punkten keinen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar. Bei diesem Punktestand geht der Gesetzgeber davon aus, dass Kraftfahrer eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellen, und knüpft daran eine Ungeeignetheitsvermutung, die grundsätzlich nicht widerlegt werden kann (vgl. BT-Drs. 13/6914 S. 50 zum alten und BT-Drs. 17/12636 S. 41 zum neuen Punktesystem; s. dazu auch Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Auf. 2023, § 4 StVG Rn. 76, 32, 100). Diese Konzeption begegnet auch mit Blick auf das Übermaßgebot keinen Bedenken. Das abgestufte und transparente System mit Ermahnung und Verwarnung, mit Hilfestellungen durch Fahreignungsseminare mit und ohne Punktabzug, mit der Ankündigung der Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von acht Punkten, mit der Regelung des § 4 Abs. 6 StVG, die sicherstellt, dass alle Maßnahmenstufen durchlaufen werden, bevor nach Erreichen von acht Punkten unwiderlegbar von Ungeeignetheit auszugehen ist, und mit den Tilgungsregelungen rechtfertigt die Annahme, dass Personen als ungeeignet zum Führen von Kfz anzusehen sind, die acht oder mehr Punkte erreicht haben (vgl. OVG LSA – B.v. 9.9.2020 – 3 M 158/20 – juris Rn. 9; Dauer a.a.O. Rn. 32; Stieber in juris-PK Straßenverkehrsrecht, Stand 1.12.2021, § 4 StVG Rn. 56; ebenso zum früheren Punktsystem BayVGH, B.v. 17.1.2005 – 11 CS 04.2955 – zfs 2005, 209 = juris Rn. 38 ff.; OVG MV, B.v. 21.6.2006 – 1 M 10/06 – juris Rn. 14 ff.). Entgegen der Auffassung des Antragstellers kommt es insoweit auch weder darauf an, ob der Betroffene Unfälle im Straßenverkehr verursacht hat, noch bedarf es eines Nachweises, dass die Verstöße zu einer konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer geführt hätten. Abgesehen von der praktischen Schwierigkeit einer Ermittlung der Umstände des Einzelfalls kommt in den zahlreichen Zuwiderhandlungen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften jedenfalls ein Gefahrenpotential zum Ausdruck, das einen hinreichenden Anknüpfungspunkt für die Entziehung der Fahrerlaubnis bietet (vgl. BayVGH a.a.O. Rn. 44).
b) Wie das Verwaltungsgericht seinem Beschluss zutreffend zu Grunde legt, ist es auch mit Blick auf dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht geboten, zwischen Viel- und Wenigfahrern zu differenzieren. Eine Unterscheidung nach dem Ausmaß der Teilnahme am Straßenverkehr wäre praktisch nicht durchführbar, ist aber auch sachlich nicht erforderlich. Ein Vielfahrer läuft zwar in erhöhtem Maß Gefahr, Ordnungswidrigkeiten zu begehen, die Eintragungen im Fahreignungsregister nach sich ziehen. Diesem gesteigerten Risiko steht jedoch der Umstand gegenüber, dass er wegen seiner besonders umfangreichen Teilnahme am Straßenverkehr auch ein entsprechend größeres Gefahrenpotential darstellt. Das erhöhte Risiko von Vielfahrern, Dritte im Straßenverkehr zu schädigen, wird nicht stets durch einen Zuwachs an Erfahrung ausgeglichen (vgl. OVG LSA, B.v. 9.9.2020 a.a.O. Rn. 8; Dauer a.a.O. Rn. 32; Stieber a.a.O. Rn. 55; ebenso BayVGH, B.v. 17.1.2005 a.a.O. Rn. 35 zum alten Punktesystem).
c) Die Entziehung der Fahrerlaubnis zum Schutz von Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer erscheint schließlich auch insoweit als verhältnismäßig, als sie mit dem beruflichen, finanziellen und familiären Interesse des Antragstellers am Führen von Kraftfahrzeugen kollidiert. Denn dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen kommt angesichts der Gefahren durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zu, die einem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (vgl. BVerfG, B.v. 19.7.2007 – 1 BvR 305/07 – juris Rn. 6; B.v. 15.10.1998 – 2 BvQ 32/98 – DAR 1998, 466 = juris Rn. 5, zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO; OVG NW, B.v. 22.5.2012 – 16 B 536/12 – juris Rn. 33; BayVGH, B.v. 1.7.2022 – 11 CS 22.860 – Blutalkohol 59, 516 = juris Rn. 24; B.v. 3.9.2024 – 11 CS 24.1400 – zfs 2024, 713 = juris Rn. 15).
3. Davon ausgehend überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnis das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Der Schutz der Allgemeinheit vor der Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr hat besondere Bedeutung und rechtfertigt in der Regel auch die Anordnung oder Aufrechterhaltung der sofortigen Vollziehung einer Fahrerlaubnisvollziehung (vgl. BVerfG, B.v. 19.7.2007 a.a.O. Rn. 6; BVerwG, B.v. 5.11.2018 – 3 VR 1/18 u.a. – zfs 2019, 115 = juris Rn. 25). Mit anderen Worten ist bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung fehlt, das Erlassinteresse regelmäßig identisch mit dem Vollzugsinteresse (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 19.7.2021 – 11 CS 21.1280 – juris Rn. 30 m.w.N.). Diese Erwägung liegt ersichtlich auch der gesetzgeberischen Entscheidung für den grundsätzlichen Vorrang des Vollzugsinteresses im Fall der Entziehung nach dem Punktesystem (§ 4 Abs. 9 StVG) zu Grunde (vgl. dazu auch BT-Drs. 13/6914 S. 70, 67 zum alten Punktesystem). Demnach spricht hier Überwiegendes dafür, es bei dem Sofortvollzug der Fahrerlaubnisentziehung zu belassen. Die damit verbundenen nachteiligen Folgen für Beruf und Privatleben des Antragstellers stehen dem nach dem Vorgenannten ebenso wenig entgegen wie dessen Erklärung, sich in Zukunft regelgerecht verhalten und zur Vermeidung von Geschwindigkeitsverstößen einen Tempomaten nutzen zu wollen. Soweit er damit einen Einstellungswandel geltend macht, ist er vielmehr darauf zu verweisen, die Wiedererlangung der Fahreignung im Verfahren zur Neuerteilung der Fahrerlaubnis im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Untersuchung, die die Fahrerlaubnisbehörde in der Regel anzuordnen hat, zu belegen (§ 4 Abs. 10 StVG).
4. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1, 46.3 und Nr. 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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