Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 23.10.2024 – 3 ORs 28/24 – 161 SRs 9/24
Leitsatz des Gerichts:
Ein Polizeibeamter handelt nicht pflichtwidrig, wenn er in Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben einen Beschuldigten verfolgt und an der Weiterfahrt hindert und es hierbei aufgrund des herausfordernden Verhaltens des Beschuldigten zu einem Verkehrsunfall kommt, bei dem dieser geschädigt wird.
3 ORs 28/24 - 161 SRs 9/24
In der Strafsache
gegen pp.
wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt
hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts am 23. Oktober 2024 beschlossen:
Die Revision des Nebenklägers pp. gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 1. November 2023 wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Der Nebenkläger hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
I.
1. Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten antragsgemäß vom Tatvorwurf der angeklagten (vorsätzlichen) Körperverletzung im Amt aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, nachdem das Amtsgericht Tiergarten ihn in erster Instanz zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt verurteilt hatte.
2. Gegenstand des Verfahrens war ein Verkehrsunfall, der sich auf der Abfahrt F-straße der Autobahn 103 in Berlin nach einer etwa fünf Minuten andauernden Polizeiflucht des Nebenklägers ereignete, nachdem sich die Verfolgung bereits über Teile der Autobahnen 115 und 100 erstreckt hatte.
Das Landgericht hat in dem angegriffenen Urteil im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Der Angeklagte und der Zeuge PK T. befuhren am Tattag gemeinsam als erfahrene Zivilstreife im Straßenverkehrsbereich in einem PKW BMW die Autobahn 115 auf Höhe der „Avus-Tribüne“, als sie den Nebenkläger auf seinem Motorrad wahrnahmen, weil dieser sie mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit rechts überholte, eine Sperrfläche überfuhr und mit hoher Geschwindigkeit in die Kurve Richtung Autobahn 100 Süd einbog. Der Angeklagte – Fahrer des Polizeifahrzeugs – und sein Kollege nahmen deshalb die Verfolgung auf, wobei sie die Videoaufzeichnung des im Fahrzeug vorhandenen ProViDa-Verkehrsüberwachungssystems sowie zusätzlich die Tonaufzeichnung im Innenraum des PKWs aktivierten. Nach etwa drei Kilometern schaltete der Zeuge PK T. Blaulicht und Martinshorn ein, um den Nebenkläger zum Verlangsamen und Heranfahren zu veranlassen. Dieser Aufforderung, die der Nebenkläger eindeutig als ihm geltend erkannte, kam er jedoch nicht nach; vielmehr erhöhte er seine Geschwindigkeit noch und fuhr teilweise – bei um etwa 9 Uhr morgens dichtem Verkehrsaufkommen – von dem Zeugen PK T. gemessene Geschwindigkeiten von 158, 167, 194 und über 200 km/h, während er ohne Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers die Spuren wechselte, zwischen nebeneinander fahrenden PKWs auf der Fahrbahnmarkierung hindurchfuhr, dicht auf andere Verkehrsteilnehmer auffuhr und Sperrflächen querte. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug auf den befahrenen Teilen der Autobahnen zumeist 80 km/h, teilweise auch 60 km/h.
Ohne Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers bog der Nebenkläger schließlich mit einer Geschwindigkeit zwischen 150 und 160 km/h – die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt in diesem Abschnitt 60 km/h – in die zweispurige Abfahrt F-straße ein, um die Polizeistreife im Stadtverkehr abschütteln zu können. Am Ende der Abfahrt öffnet sich neben zwei Spuren – in denen jeweils zwei Fahrzeuge hintereinander hielten – eine weitere Fahrbahn für Rechtsabbieger, die zu diesem Zeitpunkt leer war. Die am Ende der Abfahrt befindliche Lichtzeichenanlage strahlte rot ab, weshalb der Nebenkläger, der nicht selbstgefährdend in den Querverkehr geraten wollte, zunächst plante anzuhalten. Der Angeklagte folgte dem Nebenkläger in die Abfahrt, auf der dieser in die rechte Spur wechselte und sein Tempo verlangsamte. Um den Nebenkläger zu stellen, seine Identität festzustellen und ihn aus Gründen der Gefahrenabwehr an einer Weiterfahrt im normalen Straßenverkehr zu hindern, fuhr der Angeklagte mit weiterhin eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn links (in der mittleren Spur) an ihm vorbei und wechselte unmittelbar vor den an der Ampel wartenden Fahrzeugen in die freie Rechtsabbiegerspur, wo er sechs Meter vor der Haltelinie am linken Fahrbahnrad der Spur zum Stehen kam. Zwischenzeitlich hatte die Lichtzeichenanlage auf grün gewechselt. Der Nebenkläger versuchte deshalb, obwohl ihm klar war, dass die Polizeistreife ihn stellen wollte und aus diesem Grund an ihm vorbeigezogen war und den Fahrstreifenwechsel vollzogen hatte, seine Flucht fortzusetzen. Da er zuvor sein Fahrzeug nicht weiter abgebremst hatte, gelang es ihm nun nicht mehr, ohne Berührung rechts an dem Polizeifahrzeug vorbeizufahren. Hierbei streifte er dieses, verlor die Kontrolle über das Motorrad und rutschte seitlich weg. Der Nebenkläger wurde von seinem Sitz geschleudert und stürzte zu Boden, wodurch er sich eine Fraktur des Brustbeins, eine Ellenbogenschleimbeutelentzündung sowie Wunden an den Knien und Füßen zuzog.
Zur Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens hat das Landgericht festgestellt, dass der Nebenkläger dieses noch sicher hätte vermeiden können, als das Polizeifahrzeug auf der Filandastraße links an ihm vorbeizog; es hätte zu diesem Zeitpunkt noch ausreichend Zeit bestanden, das Motorrad abzubremsen und anzuhalten. Das Landgericht hat weiter festgestellt, dass der Nebenkläger mit einem Spurwechsel des Angeklagten rechnen musste, weil dieser sich bislang nicht habe abschütteln lassen und es ihm offenkundig darauf ankam, den Flüchtenden zu stoppen; es sei zudem erkennbar gewesen, dass ohne den Spurwechsel die Gefahr des Auffahrens auf die auf den zwei weiteren Spuren befindlichen Fahrzeuge bestanden hätte.
Hinsichtlich des Angeklagten hat das Landgericht festgestellt, dass dieser den Unfall dann hätte vermeiden können, wenn er den Nebenkläger nicht auf der Abfahrt Filandastraße überholt und ihn somit über die Rechtsabbiegerspur hätte entkommen lassen.
Weiter führt die Kammer aus, dass der Angeklagte durch sein Verhalten eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung durch die Schaffung einer Gefahrenlage begangen habe, die für ihn jedoch subjektiv nicht vorhersehbar gewesen sei. Durch das Verhalten des Nebenklägers sei zudem der Kausalverlauf aufgrund einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung unterbrochen worden, weshalb der Angeklagte freizusprechen gewesen sei.
3. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Nebenklägers.
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat die Verwerfung des Rechtsmittels beantragt; die Gegenerklärung des Nebenklägers hierzu lag dem Senat vor, gab aber zu einer anderen Entscheidung keinen Anlass.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Zuschriften des Nebenklägers vom 12. Januar 2024 und 11. März 2024 und der Generalstaatsanwaltschaft vom 21. Februar 2024 verwiesen.
II.
1. Der Nebenkläger ist gemäß § 400 Abs. 1 StPO rechtsmittelbefugt. Er erstrebt die Aufhebung des Freispruchs und die Verurteilung des Angeklagten wegen (vorsätzlicher) Körperverletzung im Amt, die gemäß § 395 Abs. 1 Nr. 3 StPO eine zum Anschluss berechtigende Gesetzesverletzung ist.
Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der im Übrigen statthaften (§ 333 StPO) sowie form- und fristgerecht eingelegten und begründeten (§§ 341, 344, 345 StPO) Revision deckt aber keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf, weshalb ihr der Erfolg versagt bleibt.
2. Die den Anforderungen des § 267 Abs. 5 StPO genügenden Feststellungen des Landgerichts, die rechtsfehlerfrei beweiswürdigend unterlegt worden sind, tragen einen Freispruch.
Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, muss es in der Regel in einer geschlossenen Darstellung die als erwiesen angesehenen Tatsachen feststellen und davon ausgehend darlegen, dass sich diese Vorwürfe entweder aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen nicht bestätigt haben. Es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2021 – 4 StR 457/20 – m.w.N.). Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss zudem in der Beweiswürdigung dargelegt werden, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen ‒ zusätzlichen ‒ Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite nicht getroffen werden konnten (vgl. BGH, Urteile vom 27. Februar 2020 – 4 StR 568/19, NStZ 2021, 121 und vom 22. Mai 2019 ‒ 5 StR 36/19, NStZ-RR 2019, 254).
Diesen Anforderungen wird das Urteil gerecht.
a) Die Strafkammer hat in einer präzisen und ausführlichen Darstellung den äußeren Tatablauf beschrieben und dabei jeweils auch die subjektive Tatseite festgestellt. Eine lückenlose Aufzählung sämtlicher Umstände – wie es die Revisionsbegründung in Teilen fordert – ist in diesem Kontext weder geboten noch wünschenswert.
aa) Die Ausführungen des revidierenden Nebenklägers zu der Widersprüchlichkeit der Urteilsfeststellungen in Bezug auf die Verfolgungsfahrt und deren Ende teilt der Senat nicht.
Die Revisionsbegründung führt aus, es bestehe ein „unauflösbarer Widerspruch“ darin, dass die Kammer zunächst feststelle, der Nebenkläger wolle sich „unbedingt“ seiner Personenfeststellung entziehen und den Angeklagten „endgültig abschütteln“, dann aber davon ausgehe, dass er – der Nebenkläger – an der rot abstrahlenden Lichtzeichenanlage an der Abfahrt F-straße zunächst habe anhalten wollen, bevor er sich erneut umentschieden und zur weiteren Flucht entschlossen habe. Dem ist nicht zu folgen. Es liegt keine Widersprüchlichkeit darin, anzunehmen, dass der Nebenkläger sich – auch aus Eigenschutz vor dem Querverkehr – zunächst zum Halten entschloss, um sich sodann nach dem Umschalten der Lichtzeichenanlage auf grün anders zu besinnen. Die Feststellung, dass sich der Nebenkläger nach den geschilderten Umständen erneut zur Flucht entschloss, zumal er – wie die Revisionsbegründung selbst es ausdrückt – „nach üblichen [sic!] menschlichem Ermessen sicherlich bereits entgegen jeder Vernunft“ handelte, liegt im Rahmen des Vertretbaren. Dass der Angeklagte angesichts der zum Zeitpunkt des Beginns des Überholvorgangs auf rot stehenden Ampel hingegen mit einer anderen Reaktion – nämlich einem Abbremsen – rechnete, stellt sich dazu nicht als widersprüchlich dar, zumal es sich um ein hochvirulentes Geschehen handelte, in dem binnen Sekundenbruchteilen Entscheidungen getroffen werden und Abwägungen zu Verhaltensweisen anderer Verkehrsteilnehmer stattfinden mussten.
bb) Die darüber hinaus in der Revisionsbegründung geforderten Feststellungen zur Bauart des Fahrzeugs des Angeklagten sowie zu Schulter- und Spiegelblicken zum Verbleib des Nebenklägers führen nicht zur Lückenhaftigkeit der Feststellungen, weil dem Revisionsgericht auch anhand des bestehenden Urteilssachverhalts dessen rechtliche Bewertung möglich ist, die auch bei Mitteilung der genannten Umstände nicht ernsthaft hätte anders ausfallen können.
b) Die Beweiswürdigung der Kammer weist ebenfalls keine Rechtsfehler auf.
aa) Die Würdigung der Beweise ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO), dem allein es obliegt, sich unter dem Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Das Revisionsgericht kann demgegenüber nur prüfen, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überzogene Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.; vgl. BGH NJW 2005, 2322). Liegt ein solcher Rechtsfehler nicht vor, ist die vom Tatgericht vorgenommene Würdigung hinzunehmen, auch wenn ein anderes Ergebnis ebenso möglich gewesen wäre oder gar näher gelegen hätte (BGH, Urteil vom 4. April 2013 – 3 StR 521/12 –, juris). Die Beweiswürdigung kann zudem bereits ihrer Natur nach nicht in dem Sinne erschöpfend sein, dass alle irgendwie denkbaren Gesichtspunkte und Würdigungsvarianten ausdrücklich abgehandelt werden. Eine solche exzessive Erörterung überstiege die Möglichkeiten und Ressourcen der Gerichte, ohne dass jemals absolute Vollständigkeit erreicht werden könnte. Ausreichend ist die Angabe des für die Entscheidung Wesentlichen; die Urteilsgründe müssen deutlich machen, dass das Tatgericht naheliegende erhebliche Beweistatsachen nicht übersehen oder unvertretbar gewertet hat. Aus einzelnen tatsächlich bestehenden oder denkbaren Lücken der ausdrücklichen Erörterung kann nicht abgeleitet werden, das Tatgericht habe nach den sonstigen Urteilsgründen auf der Hand liegende Wertungsgesichtspunkte nicht bedacht. Eine revisionsrechtlich beachtliche Lücke liegt vielmehr erst vor, wenn eine wesentliche Feststellung überhaupt nicht erörtert oder ein aus den Urteilsgründen ersichtliches bedeutsames Beweisergebnis übergangen wird (vgl. BGH, Urteil vom 25. August 2022 – 3 StR 359/21 –, juris).
bb) An diesen Maßstäben gemessen ergibt sich das Folgende: Die Würdigung der Kammer, insbesondere zur Frage, ob und wann der Nebenkläger auf der Abfahrt Filandastraße anhalten wollte, sich erneut zur Flucht entschlossen hat und wie der Angeklagte diese Situation eingeschätzt hat, erweist sich zwar nicht als zwingend, aber sie ist möglich und in sich – entgegen dem Vorbringen des Nebenklägers – auch widerspruchsfrei.
Die Annahme des Tatgerichts, der Nebenkläger habe sich erneut zur Flucht entschlossen, beruht darauf, dass der Nebenkläger zwar zunächst seine Geschwindigkeit reduziert hatte, dann aber bei grün abstrahlender Lichtzeichenanlage trotz der drohenden Kollision kein – ihm mögliches – Bremsmanöver einleitete. Der seitens der Kammer festgestellten Annahme des Angeklagten, dass der Nebenkläger bremsen werde, steht auch nicht – wie der Revisionsführer meint – entgegen, dass dieser sich bereits über mehrere Minuten dem ihm mit Blaulicht und Martinshorn verfolgenden Polizeifahrzeug zu entziehen gesucht hatte. Denn eine Situation, in der es tatsächlich möglich gewesen wäre, den Nebenkläger zu stellen, hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht ergeben. Es erweist sich vor diesem Hintergrund als mögliche und nachvollziehbare Folgerung, dass der Angeklagte nunmehr, ob der veränderten Situation, mit einem Einsehen des Nebenklägers rechnete. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Kammer diese Würdigung tragend auch auf die Angaben des Angeklagten gestützt hat, die sie für glaubhaft befunden und durch weitere objektive Beweise untermauert gesehen hat. Da der Nebenkläger (weitestgehend) von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch gemacht hat, konnte eine weitere als die erfolgte Aufklärung ihn und den Angeklagten betreffender subjektiver Umstände nicht stattfinden.
Die Kammer hat zudem rechtsfehlerfrei auch die dokumentierten Äußerungen des Angeklagten direkt nach dem Unfallgeschehen in den Blick genommen und seinen Feststellungen zudem die Angaben eines KfZ-Sachverständigen zugrunde gelegt.
cc) Inwieweit die Beweiswürdigung die Feststellungen der Kammer zu den Umständen der subjektiven Vorhersehbarkeit tragen kann und ob die hieraus gezogenen rechtlichen Schlüsse zutreffend sind, kann im Übrigen dahinstehen, weil die Strafbarkeit bereits aus anderen Gründen ausscheidet (s. sogleich zu 3.).
3. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen der Kammer begründen keine Strafbarkeit des Angeklagten wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung im Amt.
Eine vorsätzliche Verletzungshandlung des Angeklagten scheidet nach den Feststellungen ohne Weiteres aus. Aber auch ein Fahrlässigkeitsvorwurf ist dem Angeklagten nicht zu machen.
a) Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Mai 2021 – 4 StR 19/20 – und Urteil vom 26. November 2019 – 2 StR 557/18 –, jew. juris m.w.N.). Pflichtwidrig handelt dabei, wer objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt, die dem Schutz des beeinträchtigen Rechtsgutes dient (BGH a.a.O.).
b) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs erweist sich das Verhalten des Angeklagten aber als rechtmäßig und damit gerade nicht als objektiv pflichtwidrig (vgl. Kudlich in BeckOK StGB, 62. Ed., § 15 Rn. 62). Die nachstehenden Ausführungen lassen sich dogmatisch alternativ ebenso dem Unterpunkt der Rechtswidrigkeit im Deliktsaufbau zuordnen, was zu demselben Ergebnis führt.
aa) Die Rechtmäßigkeit des Handelns staatlicher Hoheitsträger bei der Ausübung ihrer Hoheitsgewalt bestimmt sich dabei weder streng akzessorisch nach der materiellen Rechtmäßigkeit des zugrundeliegenden Rechtsgebiets noch nach der Rechtmäßigkeit entsprechend dem maßgeblichen Vollstreckungsrecht (std. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Juni 2015 – 1 StR 606/14 –, juris m.w.N.; Erb in MüKoStGB, 4. Aufl., § 32 Rn. 75 m.w.N.). Vielmehr ist es maßgeblich, ob der Vollstreckungsbeamte örtlich und sachlich zuständig war, die wesentlichen Förmlichkeiten bei der Vornahme der Handlung eingehalten und ein ihm etwa zustehendes Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2015, a.a.O.; KG, Urteil vom 27. August 2012 – (4) 161 Ss 154/12 (199/12) –, juris). Diese Auslegung berücksichtigt – in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 –, juris) – die Notwendigkeit, den Vollzugsbeamten in seiner Entschlusskraft bei der Amtsausübung zu schützen. Sie würde gelähmt, müsste der Beamte in der konkreten, oftmals unübersichtlichen und hektischen Entscheidungssituation eingehende rechtliche Erwägungen anstellen. Es kommt daher darauf an, ob er im Bewusstsein seiner Verantwortung und unter bestmöglicher pflichtgemäßer Abwägung aller ihm bekannten Umstände die Handlung für nötig und sachlich gerechtfertigt halten durfte. Dabei vermindern sich die Prüfungsanforderungen für den handelnden Amtsträger, je unüberschaubarer und ungesicherter die von ihm vorgefundene Situation ist. Eine Diensthandlung ist danach solange als rechtmäßig anzusehen, als sich der Amtsträger bei Beurteilung der Eingriffsvoraussetzungen im Rahmen des in der Vollstreckungssituation noch Vertretbaren gehalten hat, mag auch ein Gericht aufgrund nachträglicher Prüfung zu einer anderen Auffassung gelangen (vgl. KG a.a.O. und Beschluss vom 19. Juli 2022 – 6 Ws 54/22 –).
bb) Der Angeklagte war als Teil einer Zivilstreife auf Berliner Autobahnen zur Kontrolle der Einhaltung von Verkehrsregeln eingesetzt und damit als örtlich und sachlich zuständiger Vollzugsbeamter zur Umsetzung sowohl präventiver Maßnahmen nach dem ASOG Berlin als auch repressiver Maßnahmen nach der Strafprozessordnung befugt.
Nach den konkreten Gegebenheiten durfte der Angeklagte den Nebenkläger verfolgen und unter Anwendung unmittelbaren Zwangs auch anhalten.
(a) Der Angeklagte befand sich unter Nutzung des blauen Blinklichts und des Einsatzhorns auf einer Verfolgungsfahrt nach § 38 Abs. 1 Satz 1 StVO, bei der er die Sonderrechte gemäß § 35 Abs. 1 StVO nutzen durfte. Der Nebenkläger war daher – zumal nachdem er die polizeiliche Maßnahme als ihm geltend erkannte – zum rechts bzw. links Heranfahren und Halten gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO verpflichtet (vgl. OLG Celle, Urteil vom 2. November 2000 – 14 U 281/99 –, juris; Hühnermann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StVO 28. Aufl., § 38 Rn. 4). Dieser Anordnung leistete der Nebenkläger zu keinem Zeitpunkt Folge. Vielmehr entzog er sich ihr mittels grob verkehrswidrigen Verhaltens, das nicht nur den Tatverdacht schwerwiegender Ordnungswidrigkeiten, sondern auch denjenigen einer Straftat nach § 315d StGB (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 4 StR 225/20 –; OLG Köln, Urteil vom 5. Mai 2020 – III-1 RVs 45/20 –; OLG Stuttgart, Beschluss vom 4. Juli 2019 – 4 Rv 28 Ss 103/19 –, jew. juris) eröffnete. Der Angeklagte war hingegen in Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben gehalten, den Nebenkläger zum Zwecke der Gefahrenabwehr (§§ 1 Abs. 1 Satz 1, 13 Abs. 1 ASOG Berlin) und zur Ermittlung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (§163 StPO [i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG], § 53 OWiG) an einer Weiterfahrt zu hindern.
(b) Mit der Verfolgung des flüchtenden Fahrzeugs standen daher sowohl die Maßnahmen der Identitätsfeststellung (§§ 163 Abs. 1, 163b Abs. 1 Satz 1 StPO) und gegebenenfalls auch der vorläufigen Festnahme (§ 127 Abs. 1 StPO) sowie ein Vorgehen nach der Generalklausel des § 17 Abs. 1 ASOG an.
(c) Zur Durchsetzung der unter (b) genannten Maßnahmen war die Anwendung unmittelbaren Zwangs notwendig, die sich nach den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls auch als verhältnismäßig darstellt.
(aa) § 163b Abs. 1 Satz 1 StPO – dessen Voraussetzungen hier zweifelsfrei vorlagen – enthält die Befugnis, die zur Feststellung der Identität des Beschuldigten „erforderlichen Maßnahmen zu treffen“, wozu das Anhalten und gegebenenfalls auch Festhalten – beginnend mit der hoheitlichen Anordnung an den Betroffenen, sich nicht zu entfernen – zählen. Zur Durchsetzung der Maßnahme kann unmittelbarer Zwang angewendet werden, dessen Art und Umfang sich nach den polizeirechtlichen Bestimmungen des jeweiligen Landes richtet (vgl. Erb in Löwe-Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 163b Rn. 38; Weingarten in KK-StPO, 9. Aufl., § 163b Rn. 16). Nach dem hier maßgeblichen ASOG Berlin sowie dem UZwG Berlin (i.V.m. §§ 8 Abs. 1 Satz 1 VwVfG Berlin, 12 VwVG) durfte der Angeklagte den Nebenkläger ohne die vorherige Androhung des Zwangsmittels (§ 6 Abs. 2 VwVG) mittels seines Einsatzfahrzeugs als Hilfsmittel (§ 2 Abs. 1 UZwG Berlin) an seiner Weiterfahrt hindern.
Gleiches gilt für die Durchsetzung des § 17 Abs. 1 ASOG Berlin, dessen Voraussetzungen angesichts des festgestellten (Fahr-)Verhaltens des Nebenklägers ebenfalls unzweifelhaft vorlagen. Unter Berücksichtigung des § 11 ASOG Berlin i.V.m. den obengenannten Zwangsmitteln war das Handeln auch unter präventiven Gesichtspunkten gerechtfertigt.
(bb) Die Maßnahme des Angeklagten war geeignet und erforderlich, die Fahrt des Nebenklägers zu stoppen. Ein milderes Mittel, diesen zum Anhalten zu bewegen, war nach den festgestellten Umständen und der maßgeblichen Sichtweise ex ante nicht ersichtlich.
(cc) Die Handlung erweist sich auch als verhältnismäßig (§ 4 UZwG Berlin, § 9 Abs. 2 VwVG). Der Nebenkläger war – wie dargelegt – zu dem Zeitpunkt der Maßnahme nicht nur mehrerer Ordnungswidrigkeiten, sondern auch einer Straftat verdächtig. Von seinem extrem rücksichtlosen Verhalten ging zudem eine erhebliche Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer aus. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Verfolgung und Beendigung der Flucht auf die erfolgte Art und Weise als nicht außer Verhältnis zu dem Ziel der Ergreifung des Fliehenden stehend. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Nebenkläger kontrolliert zum Halten gebracht werden sollte, was zu Beginn des Überholvorgangs durch den Angeklagten auch noch möglich war, durch den Nebenkläger jedoch vereitelt wurde. Der Nebenkläger hatte das Verhalten des Angeklagten zudem, indem er über viele Kilometer hinweg unter gröbster Missachtung der Verkehrsregeln und mit massiv überhöhter Geschwindigkeit über die Autobahn raste, maßgeblich selbst herausgefordert. Das hieraus resultierende gesteigerte Verletzungsrisiko, das sich schließlich in seinem Sturz realisiert hat, fällt insoweit maßgeblich in seinen Verantwortungsbereich (vgl. zu ähnlichen Konstellationen im Zivilrecht und der Haftung des Fliehenden: BGH, Urteil vom 31. Januar 2012 – VI ZR 43/11 –; OLG Hamm, Urteil vom 8. Dezember 1997 – 3 U 80/97 –, jew. juris m.w.N.), zumal ihm bewusst war, dass ein Weiterfahren zu einem zwangsweisen Anhalten durch die Polizei führen würde. Dieses Ergebnis entspricht auch der Wertung des § 7 Abs. 2 StVG, wonach ein Verkehrsunfall als rechtlich unabwendbar eingestuft wird, wenn Polizeibeamte zur Erfüllung ihrer hoheitlichen Aufgaben ein fliehendes Fahrzeug verfolgen und es bei der Verfolgungsfahrt zu einer Kollision zwischen den beteiligten Fahrzeugen kommt (vgl. BGH, Urteil vom 31. Januar 2012 und OLG Hamm, a.a.O.). In der Rechtsprechung ist es daher auch – dem Gedanken unterschiedlicher Verantwortungsbereiche folgend – anerkannt, dass Verletzungen von Personen, die aufgrund von Berufspflichten rechtlich zum Eingreifen in Gefahrenlagen verpflichtet sind, demjenigen zuzurechnen sind, der die Gefahrenlage geschaffen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Mai 2021, a.a.O., [dort für Feuerwehrleute]). Dies war vorliegend angesichts seines groben Fehlverhalten zweifelsohne der Nebenkläger.
Der hiesige Fall liegt schließlich auch anders als diejenigen Konstellationen, in denen – beispielsweise durch Erzeugung eines künstlichen Staus (vgl. hierzu LG Bückeburg, Beschluss vom 5. Januar 2005 – Qs 77/04 –, juris) – gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen durch Inanspruchnahme nicht verantwortlicher und nicht verdächtiger Personen (§ 16 ASOG Berlin) erfolgen. Denn die an der Abfahrt F-straße an der Lichtzeichenanlage wartenden Fahrzeuge sollten gerade nicht (ggfs. als Hilfsmittel) in Anspruch genommen werden. Es entstand für sie auch keine konkrete Gefahrensituation, weil es seitens des Angeklagten zu keinem Zeitpunkt in Betracht kam, anstatt den vorgesehen Fahrstreifenwechsel vorzunehmen, auf diese aufzufahren.
Das Vorgehen des Angeklagten erweist sich damit als verhältnismäßig und somit insgesamt rechtmäßig, weshalb er freizusprechen war.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 und 3 StPO.
Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin
Anmerkung:
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