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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Beiordnungsgrund, Unfähigkeit der Selbstverteidigung, Zweifel, Artikulationsstörung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 07.01.2025 - 7 Qs 80/24

Eigener Leitsatz:

Für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen „Unfähigkeit der Selbstverteidigung“ muss nicht gänzliche Verteidigungsunfähigkeit gegeben sein. § 140 Abs. 2 StPO ist bereits dann anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das ist bei einer attestierten Dysarthrie (Artikulationsstörung) des Angeklagten der Fall, da dann erhebliche Zweifel bestehen, dass dieser in der Lage ist, seine Interessen selbst zu wahren und alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vorzunehmen.


Landgericht Nürnberg-Fürth
7 Qs 80/24

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

wegen Vergehens nach dem Gewaltschutzgesetz

erlässt das Landgericht Nürnberg-Fürth - 7. Strafkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 7. Januar 2025 folgenden
Beschluss
1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten pp. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 27.11.2024 wird dieser aufgehoben.
2. Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

Mit Verfügung vom 20.06.2024 erhob die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth unter dem Az. 214 Js 19808/24 gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen Nachstellung in Tateinheit mit Verstoß gegen das Gewaltschutzgesetz gern. § 4 GewSchG, §§ 238 Abs. 1 Nr. 1, 52 StGB zum Amtsgericht Nürnberg (BI. 49ff d.A.).

Auf die Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg vom 24.06.2024 (BI. 54 d.A.) wurde die Anklage-schrift dem Angeklagten am 04.07.2024 zugestellt (nach BI. 54 d.A.) und mit Beschluss vom 27.08.2024 sodann die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröff-net (BI. 54 d.A.). Weiter wurde mit Verfügung vom 27.08.2024 Termin zur Hauptverhandlung auf den 12.12.2024 bestimmt (BI. 55 d.A.).

Mit Schriftsatz vom 19.11.2024 beantragte der Wahlverteidiger RA pp. als Pflichtverteidiger bei-geordnet zu werden. Er begründete dies mit Verweis auf den vorgelegten Schwerbehindertenausweis des Zentrums Bayern Familie und Soziales (gültig vom 23.05.2024 bis 08/2027), woraus sich ergebe, dass der Angeklagte nicht in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen (BI. 66ff d.A.).

Mit Beschluss vom 27.11.2024, dem Verteidiger des Angeklagten zugestellt am 28.11.2024, hat das Amtsgericht Nürnberg eine Beiordnung abgelehnt. Es begründete seine Entscheidung damit, dass sich einer Behinderung des Grades 50 nicht die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO entnehmen ließen (BI. 71 d.A.).

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte und legte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 29.11.2024, eingegangen beim Amtsgericht am selben Tag, sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung verwies er erneut auf den Behinderungsgrad des Angeklagten sowie die Einschränkungen des Angeklagten aufgrund mehrerer Schlaganfälle (BI. 75f d.A.).

Das Amtsgericht Nürnberg hob mit Verfügung vom 03.12.2024 den Termin zur Hauptverhandlung am 12.12.2024 von Amts wegen auf (BI. 78f d.A.) und half der Beschwerde nicht ab (BI. 80 d.A.).

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth legte mit Verfügung vom 05.12.2024 die sofortige Beschwerde vor und beantragte diese als unbegründet zu verwerfen (BI. 83 d.A.).

Die Beschwerdekammer bat die Verteidigung des Angeklagten um nähere Darlegung der behaupteten kognitiven Beeinträchtigungen, die seine Verteidigung beeinträchtigen würden, sowie um die Einreichung entsprechender Unterlagen (BI. 84 d.A.).

Mit Schreiben vom 30.12.2024 übersandte die Verteidigung ein ärztliches Attest des Angeklagten vom 20.12.2024. Hinsichtlich des weiteren Inhalts des Schreibens sowie des Attestes wird auf das Schreiben mit Anlage Bezug genommen.

Die gem. §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässige Beschwerde ist begründet. Dem Angeklagten war ein Pflichtverteidiger zu bestellen, da ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegt.

1. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist immer dann erforderlich, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte/Angeklagte aus in seiner Person liegenden Gründen (geistige Fähigkeiten, Gesundheitszustand, sonstige Umstände) nicht in der Lage sein wird, alle Möglichkeiten einer sachgemäßen Verteidigung zu nutzen. Die Verteidigungsfähigkeit setzt mehr voraus als die bloße Verhandlungsfähigkeit (BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 140 Rn. 39 m.w.N.). Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte/Angeklagte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Zweifel können aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten, Einschränkungen aufgrund seiner speziellen Situation bestehen. Die Möglichkeit, der Verhandlung zu folgen und sich sachgemäß zu äußern, schließt die Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit nicht aus, da Verteidigung mehr beinhaltet. Eine gänzliche Verteidigungsunfähigkeit muss für ein Erfülltsein der Bestellungsvoraussetzungen nicht vorliegen (MüKoStPO/Kämpfer/Trayers, 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 47). § 140 Abs. 2 StPO ist bereits dann anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, 66. Auflage 2023, § 140 StPO, Rn. 30a).

Abzustellen ist nach diesem Maßstab nicht, wie vom Amtsgericht zu Recht angenommen, allein auf einen Grad der Behinderung von 50, weil hieraus allein keine Rückschlüsse auf die Fähigkeit, sich adäquat verteidigen zu können, gezogen werden können.

2. Aufgrund des vom Verteidiger vorgelegten Attestes und der darin u.a. attestieren Dysarthrie (Artikulationsstörung) des Angeklagten bestehen jedoch erhebliche Zweifel, dass dieser in der Lage ist, seine Interessen selbst zu wahren und alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vorzunehmen.

Diese Zweifel ergeben sich zum einen aus dem vorgelegten Schwerbehindertenausweis des Zentrums Bayern Familie und Soziales, wonach beim Angeklagten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einen Grad der Behinderung von 50 festgestellt worden ist, in Zusammenschau mit dem vorgelegten ärztlichen Attest, wonach bei dem Angeklagten u.a. eine Artikulationsstörung besteht.

Solche Einschränkungen legen die Annahme des § 140 Abs. 2 StPO nahe. Erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten sich zu verteidigen sind auf der genannten Grundlage im vorliegenden Fall angezeigt. Es kann nicht unterstellt werden, dass der Angeklagte bei den attestierten Störungen in der Lage ist, sich in der Hauptverhandlung entsprechend einzulassen und alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen alleine vornehmen kann.

Die Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung werden auch nicht dadurch entkräftet, dass der Schwerbehindertenausweis zeitlich begrenzt ergangen ist, da dieser erst ab Mai 2024 und weiterhin aktuell gültig ist. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass sich die Gesundheitsstörung des Angeklagten zwischenzeitlich gebessert haben könnte, bestehen nicht.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.


Einsender: RA R. E. Peisl, Nürnberg

Anmerkung:


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