Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23.12.2024 - 2 Ws 355/24
Eigener Leitsatz:
Zwar rechtfertigt ein längerer bloßer Zeitablauf nicht zwangsläufig die Annahme, der durch die Tatbegehung indizierte Eignungsmangel sei im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung entfallen. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis sind aber erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen.
2 Ws 355/24
Oberlandesgericht Karlsruhe
2. STRAFSENAT
Beschluss
In dem Strafverfahren gegen
Verteidiger:
wegen Nötigung u.a.
hier: Beschwerde des Angeklagten pp.
hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 2. Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 23. Dezember 2024 beschlossen:
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 13. November 2024 über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Angeklagten aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Freiburg vom 25.03.2024 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs, begangen am 10.04.2023 auf der BAB A 5 zwischen Freiburg und Basel, zu der Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 40,00 € verurteilt. Zugleich wurde dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen und die Aberkennung des Gebrauchsrechts der (schweizerischen) Fahrerlaubnis in Deutschland gemäß § 69b Abs. 1 StGB angeordnet sowie eine Sperrfrist von sechs Monaten verhängt. Zuvor hatte weder die Staatsanwaltschaft mit dem Strafbefehlsantrag vom 05.10.2023 einen Antrag auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gestellt, noch hat das Amtsgericht mit der Urteilsverkündung einen solchen Beschluss erlassen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt und der Angeklagte Revision. Der seit dem Eingang am 10.06.2024 mit dem Berufungsverfahren am Landgericht Freiburg befasste Vorsitzende der Strafkammer hat den Angeklagten, seinen Verteidiger und die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 26.07.2024 auf die in Betracht kommende vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis hingewiesen und insoweit zur Prüfung auch die Einholung einer Auskunft aus dem schweizerischen Strafregister angeordnet. Nach Auskunft der schweizerischen Justizbehörden - Bundesamt für Justiz -, eingegangen am 05.08.2024 beim Landgericht, ist der Angeklagte im dortigen Strafregister nicht verzeichnet. Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 13.09.2024 vorgetragen, dass die Voraussetzungen nach § 111a StPO nicht erfüllt seien. Ausweislich der angefochtenen Entscheidung hat der Vorsitzende der Berufungskammer zunächst von einer Entscheidung nach § 111a StPO abgesehen und mit Verfügung vom 04.09.2024 Termin zur Hauptverhandlung am 18.11.2024 bestimmt.-Mit Verfügung vom 30.09.2024 hat die Staatsanwaltschaft nunmehr beantragt die (schweizerische) Fahrerlaubnis für das Bundesgebiet vorläufig zu entziehen. Aufgrund einer unvorhergesehenen Operation des Vorsitzenden wurde der Hauptverhandlungstermin mit Verfügung vom 12.11.2024 auf den 27.01.2025 verlegt.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 13.11.2024 wurde die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 111a StPO angeordnet.
Die zulässige Beschwerde erweist sich auch in der Sache als begründet.
Zwar hat das Landgericht im Hinblick auf die erstinstanzlichen Feststellungen in dem Urteil vom 25.03.2024 mit zutreffenden Ausführungen angenommen, dass weiterhin dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass dem Angeklagten gemäß §§ 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 69a Abs. 1, 69b Abs. 1, 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB auch in der Berufungsentscheidung die Fahrerlaubnis zu entziehen sein wird.
Liegt - wie hier - ein mit der Berufung angefochtenes Urteil vor, kommt den Feststellungen des Tatrichters zu den Voraussetzungen des § 69 StGB für die zu treffende Beschwerdeentscheidung zwar keine Bindungs- aber eine Indizwirkung zu, da das Tatgericht auf Grund der durchgeführten Hauptverhandlung über eine größere Sachnähe und bessere Erkenntnismöglichkeiten verfügt als das Beschwerdegericht, das sich nur auf den Akteninhalt stützen kann.
Indes hat das Landgericht im Hinblick auf die Frage des nach § 111a StPO notwendigen vorläufigen Sicherungsbedürfnisses den Zeitablauf seit dem Tatvorwurf vom 10.04.2023 bis zu der angefochtenen Entscheidung am 13.11.2024 von über 18 Monaten nicht ausreichend gewürdigt. Die Frage des vorläufigen Sicherungsbedürfnisses nach diesem längeren Zeitablauf seit der Tat wurde in der angefochtenen Entscheidung nur formelhaft mit einem Satz begründet.
Zwar rechtfertigt ein längerer bloßer Zeitablauf nicht zwangsläufig die Annahme, der durch die Tatbegehung indizierte Eignungsmangel sei im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung entfallen (vgl. auch OLG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2007 - 1 Ws 513/07 -, NZV 2008, 47; KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, - 3 Ws 39/17 -, juris). Auch das Bundesverfassungsgericht hat keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO im Einzelfall der Sicherheit des Straßenverkehrs der Vorrang gegenüber dem eingetretenen Zeitablauf und der zu beobachtenden Verfahrensverzögerung eingeräumt wird (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15. März 2005 - 2 11/R 364/05 -, juris).
Wenngleich eine Fahrerlaubnis auch noch mit Erhebung der Anklage oder später noch in der Berufungsinstanz vorläufig entzogen werden kann, sind mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen. Bleibt dieser nach der ihm angelasteten Tat weiter im Besitze seiner Fahrerlaubnis und nimmt nach Aktenlage beanstandungsfrei am Straßenverkehr teil, wächst sein Vertrauen in den Bestand der Fahrerlaubnis, während die Möglichkeit ihres vorläufigen Entzuges nach § 111a StPO ihren Charakter als Eilmaßnahme zunehmend verliert (vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 1. April 2011 - 3 Ws 153/11 -, juris).
Der Zeitablauf zwingt damit zu einer besonders sorgfältigen Prüfung, ob dem Angeklagten nun unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten noch die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden kann. Insoweit konnte vorliegend zunächst nicht übersehen werden, dass der vom Amtsgericht für angemessen erachtete Zeitraum der Sperrfrist von nur sechs Monaten zwischenzeitlich rechnerisch um das Dreifache überschritten wäre. Zudem resultiert die Verfahrensverzögerung im vorliegenden Fall nicht etwa aus der Sphäre der Verteidigung bzw. des Angeklagten (vgl. auch zu einer Anordnung nach § 111a StPO nach 16 Monaten aufgrund einer verteidigungsbedingten Verzögerung: OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. Oktober 2021 -1 Ws 153/21 -, juris). Da die Berufungskammer nach der Einholung des negativen schweizerischen Strafregistereintrages weit über ein Jahr nach der Tatbegehung zunächst mit der Terminierung der Hauptverhandlung am 04.09.2024 zwei Monate später auf den 18.11.2024 keine Veranlassung für ein zeitnahes Sicherungsbedürfnis gesehen hat, rechtfertigt die bloße Verlegung des Hauptverhandlungstermins und die damit einhergehende weitere Verzögerung um etwa zwei Monate, die wiederum nicht der Sphäre des Angeklagten geschuldet ist, kein dringendes vorläufiges Sicherungsbedürfnis.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO. Eine Auslagenentscheidung ist nicht veranlasst, weil es sich um ein Zwischenverfahren handelt.
Einsender: RA P. Rinklin, Freiburg
Anmerkung:
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