Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bonn, Beschl. v. 23.12.2024 - 63 Qs 61/24
Eigener Leitsatz:
1. Eine Beschwer des Beschuldigten durch die Verweigerung einer nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung ist dann gegeben, wenn der Beschuldigte einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt hat, die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung offensichtlich vorgelegen haben, das Gebot der unverzüglichen Pflichtverteidigerbestellung missachtet wurde und dies auf behördeninterne Vorgänge zurückzuführen ist.
2. Zwar muss die Entscheidung über eine Pflichtverteidigerbestellung nicht sofort getroffen werden, aber so zügig, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt werden. Eine Entscheidung erst nach Ausermittlung ist nicht mehr „unverzüglich“.
3. Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Voraussetzung dieser Berücksichtigungspflicht ist dabei, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Gericht bekannt ist. Eine Aufklärungspflicht besteht insoweit nicht.
63 Qs 61/24
Landgericht Bonn
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
hat die 13. große Strafkammer des Landgerichts Bonn auf die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 23. Juli 2024 - Az: 50 Gs 2932/24 - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, den Richter am Landgericht und den Richter am Landgericht am 23. Dezember 2024 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers vom 31. Juli 2024 wird der Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 23. Juli 2024 aufgehoben.
Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
Die zulässige und auch im Übrigen statthafte sofortige Beschwerde vom 31.07.2024 hat Erfolg.
1. Im Ausgangspunkt zutreffend stellt das Amtsgericht fest, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt. Dies entspricht der gefestigten Kammerrechtsprechung (vgl. Kammerbeschlüsse vom 14.05.2021 – 63 Qs 33/21, BeckRS 2021, 30414; vom 19.07.2021 – 63 Qs 51/21, BeckRS 2021, 27463). Denn im Falle einer Einstellung des Verfahrens, sei es auch nur nach § 154 StPO, kann das Ziel, dem Beschuldigten eine angemessene Rechtsverteidigung zu ermöglichen, nicht mehr erreicht werden (Kammerbeschluss vom 14.05.2021 – 63 Qs 33/21, Tz. 16, BeckRS 2021, 30414). Insoweit folgt für das Beschwerdeverfahren, dass es hierfür grundsätzlich an einer Beschwer fehlt.
Wie die Kammer aber in gleichsam gefestigter Rechtsprechung ausgeführt hat, kann dies im Einzelfall auch anders zu beurteilen sein. Aus Sicht der Kammer ist eine Beschwer durch die Verweigerung der nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung nämlich dann gegeben, wenn
a) der Beschuldigte einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt hat,
b) die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung offensichtlich vorgelegen haben,
c) das Gebot der unverzüglichen Pflichtverteidigerbestellung missachtet wurde und
d) dies auf behördeninterne Vorgänge zurückzuführen
ist.
Dies beruht darauf, dass die Annahme eines Rückwirkungsverbotes nicht mehr tragfähig ist (vgl. OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020, Ws 962/20, Ws 963/20). Maßgeblich hierfür ist Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“), auf welchem das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 beruht, und das in diesem durch den Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 StPO neu eingeführte Antragsrecht des Beschuldigten. In den Gesetzesmaterialien heißt es hierzu, dass dieses Antragsrecht der Umsetzung der Vorgaben der PKH-Richtlinie diene, die, ausgehend von einem System der Prozesskostenhilfe, voraussetzt, dass der Beschuldigte – auch zur effektiven Ausübung seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – das Recht haben muss, die Beiordnung eines Verteidigers durch einen eigenen Antrag herbeizuführen (BT-Drs. 19/13829, S. 36).
Zur Wahrung dieser Rechte hat der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO geregelt, dass über diesen Antrag unverzüglich zu entscheiden ist und – aus Beschleunigungsgesichtspunkten – das Rechtsmittel der Beschwerde in § 142 Abs. 7 S. 1 StPO durch die sofortige Beschwerde ersetzt. Des Weiteren gilt die Ausnahmeregel des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach in den Fällen des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StPO die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, nur in den Fällen der Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen (§ 142 Abs. 2 StPO) und nicht in den Fällen eines Antrags des Beschuldigten (§ 142 Abs. 1 StPO).
2. Die Entscheidung über den Antrag am 23.07.2024 war angesichts der dargestellten Kriterien nicht mehr unverzüglich im Sinne des § 141 StPO. Ein Beurteilungsspielraum unter Berücksichtigung von fiskalischen Interessen besteht nicht (BT-Drs. 19/13829, S. 37). Zwar muss die Entscheidung nicht sofort getroffen werden, aber so zügig, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt werden (BT-Drs. 19/13829, a.a.O.). Gemessen hieran handelt es sich bei der gegebenen Sachlage um eine sachlich unbegründete Verzögerung der Sachentscheidung.
Die Kammer weist insofern darauf hin, dass die eingangs zitierte Rechtsprechung der Kammer zur grundsätzlich nicht rückwirkenden Beiordnung nicht dadurch missbraucht werden darf, indem vor Entscheidung des bereits gestellten Beiordnungsantrags auf die Einstellung des Verfahrens hingewirkt und so planmäßig die Verfahrensrechte der Beschuldigten unterlaufen werden.
Der Antrag des (ehemaligen) Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfolgte am 24.05.2024 bei der Kreispolizeibehörde Rhein-Sieg-Kreis. Soweit der Akte zu entnehmen ist, wurde in dem Verfahren anschließend über einen Monat lang keine weitere Maßnahme ergriffen. Die Übersendung des (gleichgelagerten) Antrags an die Staatsanwaltschaft erfolgte im Ursprungsverfahren. Im hiesigen Verfahren findet sich erst am 01.07.2024 der Vermerk, dass das sichergestellte Bubble ohne Inhalt war und keine Betäubungsmittel enthielt. Am 03.07.2024 ging die Akte bei der Staatsanwaltschaft ein, welche das Verfahren dann am 18.07.2024 einstellte und die Akte zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag an den Ermittlungsrichter übersandte. Dies geschah somit erst nach einer Ausermittlung des Verfahrens. Dies ist nicht mehr unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO.
3. Im Zeitpunkt der Antragstellung lag ferner offenkundig ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor. Dem (ehemaligen) Beschuldigten wäre gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der „Schwere der Tat“ ein Verteidiger beizuordnen gewesen. Die Schwere der Tat beurteilt sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung ist die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel geboten, wenn dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 140 Rn. 23/23a).
Neben der dem Beschuldigten in diesem Verfahren drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat. Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Voraussetzung dieser Berücksichtigungspflicht ist dabei, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Gericht bekannt ist. Eine Aufklärungspflicht besteht insoweit nicht (vgl. KG, Beschl. v. 06.01.2017, 4 Ws 212/16 – 161 AR 1960/16). Diese Berücksichtigung bedeutet aber keinen starren Schematismus. Ein geringfügiges Delikt wird nicht allein deshalb zur schweren Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO, weil die Strafe später voraussichtlich in einem anderen Verfahren in eine Gesamtstrafenbildung von mehr als einem Jahr einzubeziehen sein wird (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 02.03.2012, 2 Ws 37/12). In der Gesamtschau führt dies zu Folgendem: Drohen dem Beschuldigten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist im Regelfall, ohne starren Schematismus, die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig. Andernfalls hinge die Entscheidung, ob dem Beschuldigten ein Verteidiger beizuordnen ist, von bloßen Zufälligkeiten, nämlich u.a. davon ab, ob die verschiedenen Verfahren verbunden werden oder nicht (KG aaO m.w.N.).
Der (ehemalige) Beschuldigte ist vorliegend bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der Auszug aus dem Bundeszentralregister weist 29 Eintragungen auf. Wegen des Gesamtgeschehens vom 10.05.2024 ist gegen den (ehemaligen) Beschuldigten Anklage vor dem Schöffengericht Bonn erhoben worden. In diesem Verfahren ist Rechtsanwalt pp. dem (ehemaligen) Beschuldigten als Pflichtverteidiger beigeordnet. Der hiesige Vorwurf gehört zu diesem Lebenssachverhalt und wurde aus dem Verfahren ausgetrennt. In der Gesamtschau wäre daher mindestens im Wege der Gesamtstrafenbildung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder höher zu erwarten gewesen. Dass die hiesigen Vorwürfe derart gering zu erachten sind, dass diese im Wege der Gesamtstrafenbildung nicht beträchtlich ins Gewicht gefallen wären, ist nicht zu erkennen, zumal sie aus demselben Lebenssachverhalt stammen.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA Dr. P. R. Gülpen, Troisdorf,
Anmerkung:
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