Gericht / Entscheidungsdatum: VG Magdeburg, Beschl. v. 21.06.2024 - 1 B 95/24 MD
Leitsatz des Gerichts:
Ändert sich die Rechtslage zur Bestimmung der Fahreignung nach Erlass des Widerspruchsbescheides und ist dem Betroffenen unter Beachtung der neuen Rechtslage, anders, als nach der alten Rechtslage, die Fahreignung voraussichtlich nicht abzusprechen, so fehlt für eine sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis das besondere materielle Vollzugsinteresse.
In pp.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 7. November 2023 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Oktober 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 19. März 2024 wird bezüglich des verfügten Entzuges der Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen und bezüglich der Anordnung, den durch die Antragsgegnerin am 12. Mai 2023 ausgestellten Führerschein (Führerschein-Nr.: N1800….) innerhalb von 5 Tagen nach Zustellung des Bescheides bei der Antragsgegnerin abzugeben, wiederhergestellt.
Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, den von ihr am 12. Mai 2023 ausgestellten Führerschein (Führerschein-Nr.: N1800….) einstweilen wieder an den Antragsteller herauszugeben.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Fahrerlaubnisentziehung.
Der Antragsteller ist seit dem 5. Oktober 2016 Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse A1, seit dem 12. Mai 2023 auch der Klasse B.
Der Antragsteller wurde durch die Wasserschutzpolizei A-Stadt am 6. November 2022 im Rahmen einer Fischereikontrolle kontrolliert.
Am 6./7. November 2022 fertigte der POM L. eine Mittelung an die Antragsgegnerin, in welcher er festhielt, der Antragsteller sei mit einem Joint und Cannabis in Form einer Blüte angetroffen worden. Weiter habe der Antragsteller gegenüber den Beamten angegeben, dass er regelmäßig Cannabis konsumiere, um seine Psyche zu beruhigen. Er verwende es wie ein „Feierabendbier“. Die Aussagen gäben Grund zur Annahme, dass der Antragsteller regelmäßig Cannabis konsumiere und daher Zweifel an dessen Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bestünden.
Mit Schreiben vom 5. September 2023 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Oktober 2023, dem Antragsteller zugestellt am 26. Oktober 2023, entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen. Zudem ordnete sie an, dass der Antragsteller seinen am 12. Mai 2023 durch die Antragsgegnerin ausgestellten Führerschein (Führerschein-Nr.: N18001….) innerhalb von fünf Tagen nach Zustellung des Bescheides bei der Antragsgegnerin abzugeben habe. Bezüglich der Entziehung der Fahrerlaubnis sowie der Verfügung, den Führerschein abzugeben, ordnete die Antragsgegnerin ferner die sofortige Vollziehung an. Zudem drohte die Antragsgegnerin die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 1.000,00 Euro an, sollte der Antragsteller nicht fristgemäß seinen Führerschein bei der Antragsgegnerin abgeben. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, die gegenüber den Polizeibeamten getätigten Äußerungen belegten einen regelmäßigen Cannabiskonsum, weshalb die Fahreignung des Antragstellers zu verneinen sei. Die sofortige Vollziehung der getroffenen Anordnungen sei notwendig, um die erheblichen Gefahren, die von dem Antragsteller als einer zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeigneten Person für Leib, Leben und Eigentum anderer ausgingen, abzuwehren.
Am 1. November 2023 gab der Antragsteller seinen Führerschein bei der Antragsgegnerin ab.
Am 7. November 2023 erhob der Antragsteller Widerspruch gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Oktober 2023. Zur Begründung führte er aus, er habe zu keinem Zeitpunkt gegenüber den Polizeibeamten geäußert, dass er THC-haltiges Cannabis konsumiere. Er konsumiere lediglich Cannabis, welches Cannabidiol (CBD) enthalte, jedoch lediglich maximal 0,2 Prozent THC. Solches Cannabis sei frei verkäuflich und unterfalle nicht dem BtMG. Auch der (regelmäßige) Konsum von solchem Cannabis führe daher nicht zu einem Ausschluss der Fahreignung.
Mit Schreiben vom 5. Dezember 2023 legte die Antragsgegnerin den Vorgang zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers dem Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt vor.
Im Rahmen weiterer Ermittlungen durch das Landesverwaltungsamt wurde ausweislich einer Gesprächsnotiz vom 17. Januar 2024 festgehalten, dass bei der Wasserpolizei A-Stadt im System hinterlegt sei, Herr A. habe das im Rahmen der Kontrolle vom 6. November 2022 besessene Cannabis und den Joint bei Eintreffen der Polizeibeamten im Wasser vernichtet. Diesbezüglich seien auch Beweisbilder vorhanden. Ferner wurde ermittelt, dass der Umstand, dass trotz der erfolgten Mitteilung an die Antragsgegnerin über die Kontrolle des Antragstellers auf Grund eines internen Versehens dem Antragsteller (zusätzlich) am 12. Mai 2023 eine Fahrerlaubnis der Klasse B erteilt wurde. Aus personellen Gründen sei die Mitteilung der Wasserschutzpolizei vom 6./7. November 2022 erst am 5. September 2023 im System der Antragsgegnerin erfasst worden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19. März 2024, dem Antragsteller zugestellt am 21. März 2024, wies das Landesverwaltungsamtes des Landes Sachsen-Anhalt den Widerspruch zurück. In Ergänzung zu der Begründung des Bescheides der Antragsgegnerin führte es aus, dass im allgemeinen Sprachgebrauch THC-haltiges Cannabis, also Haschisch und Marihuana, gemeint sei, wenn von Cannabis die Rede sei. CBD hingegen seit weitgehend unbekannt. Dem Antragsteller könne als gewohnheitsmäßigem Konsumenten unterstellt werden, dass ihm dieser Unterschied bekannt sei. Hätte es sich bei dem regelmäßig von dem Antragsteller konsumierten Cannabis wirklich lediglich um ein CBD-haltiges Produkt gehandelt, hätte er dies gegenüber den Polizeibeamten im Rahmen der Kontrolle am 6. November 2023 so gesagt. Zudem sei der Antragsteller den amtlichen Feststellungen auch im Nachhinein nicht entgegengetreten und habe keine Korrektur der von ihm gemachten Angaben verlangt. Daher sei von einem regelmäßigen Konsum von THC-haltigen Cannabis auszugehen, was die Fahreignung ausschließe.
Am 19. April 2024 hat der Antragsteller bei dem beschließenden Gericht – gleichzeitig mit einer gegen den streitgegenständlichen Bescheid in Gestalt des Widerspruchs gerichteten Klage – einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.
Zu seinem Antrag führt er aus, dass nach aktueller Rechtslage die Fahreignung bei Cannabiskonsum nur dann ausgeschlossen sei, wenn eine Situation des Missbrauchs oder der Abhängigkeit vorliege. Beides sei jedoch in Bezug auf ihn nicht der Fall. Da die von der Antragsgegnerin verfügte Führerscheinabgabe diese weiterhin zum Einbehalten des Führerscheins berechtige, stelle diese Verfügung einen Dauerverwaltungsakt dar. Daher sei der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes. Doch selbst unter der alten Rechtslage liege kein regelmäßiger, die Fahreignung ausschließender Cannabiskonsum vor. Sowohl nach der vorigen, als auch nach der aktuellen Rechtslage müssten bei Eignungszweifeln nach Ziffer 2 der Vorbemerkung zur Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) ein ärztliches oder medizinisch-psychologisches Gutachten herangezogen werden. Dies sei jedoch nicht erfolgt. Zudem gelten nach der Ziffer 3 der Vorbemerkung die vorgenommenen Bewertungen nur für den Regelfall. Cannabis, welches fast ausschließlich CBD beinhalte, jedoch fast kein THC, wirke nicht bewusstseinsverändernd und schließe eine Fahreignung daher nicht aus. Auch treffe es nicht zu, dass er im Rahmen der Kontrolle am 6. November 2023 mit einer Cannabisblüte oder einem Joint angetroffen worden sei. Darüber hinaus hätten die Polizeibeamten und die Antragsgegnerin die Aussage des Antragstellers, dass er regelmäßig Cannabis konsumiere, nicht so werten dürfen, dass damit Cannabis gemeint sei, welches wegen seines THC-Gehaltes dem BtMG unterfiele. Bei Cannabis handele es sich zunächst ausschließlich um die Bezeichnung einer Pflanze. Über eine stoffliche Zusammensetzung der entsprechenden Erzeugnisse sei mit dieser Benennung noch nichts ausgesagt. Er habe zudem keine eigene Erklärung dahingehend abgegeben, dass sich sein Konsum auf die THC-haltige Variante der Cannabisblüten beziehe. Das bloße Abstellen auf die Wahrnehmungen der Polizeibeamten sei nicht ausreichend, um ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen.
In seiner Antragsschrift führt er zudem unter „III.“ gesondert zu seinem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aus, dass er dringend auf seine Fahrerlaubnis im Beruf angewiesen sei und ihm bei einer späteren Rückgabe der Fahrerlaubnis gravierende arbeitsrechtliche Konsequenzen drohten, die nicht mehr aufgefangen werden könnten.
Der Antragsteller beantragt wörtlich,
im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 7. November 2023 gegen den Entziehungsbescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2023 wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Verteidigung ihres Bescheides trägt die Antragsgegnerin ergänzend vor, die seit dem 1. April 2024 geltende Rechtslage sei unerheblich. Da der Widerspruchsbescheid vom 19. März 2024 dem Antragsteller noch am 21. März 2024 zugestellt wurde, sei für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit ihres Bescheides in Gestalt des Widerspruchsbescheides auf die vor dem 1. April 2024 geltende Rechtslage abzustellen.
II.
Die Kammer hat die ladungsfähige Anschrift des Antragstellers im Rubrum gemäß der aktuellen Melderegisterauskunft berichtigt.
Der von dem Antragsteller gestellte Antrag ist im Interesse des Antragstellers gem. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antrag nicht auch dahingehend verstanden werden soll, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage bezüglich der Zwangsgeldandrohung betreffend die Nichtablieferung des Führerscheins des Antragstellers bei der Antragsgegnerin anzuordnen, da sich insoweit wegen der bereits erfolgten Ablieferung des Führerscheins durch den Antragsteller bei der Antragsgegnerin der Verwaltungsakt erledigt hat, § 43 Abs. 2 VwVfG i. V. m. § 1 Abs. 1 VwVfG LSA. Zudem hat der Antragsteller zwar nicht explizit beantragt, der Antragsgegnerin aufzugeben, den durch die Beklagte am 12. Mai 2023 ausgestellten Führerschein (Führerschein-Nr.: N1800….) im Wege der Vollzugsfolgenbeseitigung (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO) an den Antragsteller herauszugeben, doch ist davon auszugehen, dass der Antragsteller wegen der in der Klage- und Antragsschrift unter „III.“ getätigten Ausführungen diesen Antrag von seinem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit umfasst wissen will. Der Antragsteller spricht zwar von der Rückgabe der „Fahrerlaubnis“, doch ist anzunehmen, dass damit in diesem Zusammenhang der Führerschein gemeint ist, den der Antragsteller bei der Antragsgegnerin abgegeben hat. Denn nur dieser kann als Legitimationspapier „zurückgegeben“ werden.
Der Antrag ist mithin so zu verstehen, dass beantragt wird, die aufschiebende Wirkung des Widerspruches des Antragstellers vom 7. November 2023 (vgl. zur Maßgeblichkeit der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs auch nach Erlass einer Widerspruchsentscheidung: VGH Hessen, Beschluss vom 29. Dezember 2014 – 7 B 1570/14 – juris Rn. 12) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Oktober 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 19. März 2024 bezüglich des verfügten Entzuges der Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen sowie bezüglich der Anordnung, den durch die Antragsgegnerin am 12. Mai 2023 ausgestellten Führerschein (Führerschein-Nr.: N1800…..) innerhalb von 5 Tagen nach Zustellung des Bescheides bei der Antragsgegnerin abzugeben, wiederherzustellen und der Antragsgegnerin einstweilen aufzugeben, den durch die Antragsgegnerin am 12. Mai 2023 ausgestellten Führerschein (Führerschein-Nr.: N1800…..) wieder an den Antragsteller herauszugeben.
Der so zu verstehende Antrag hat Erfolg.
1. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage bezüglich des für sofort vollziehbar erklärten Entzuges der Fahrerlaubnis des Antragstellers ist zulässig und begründet.
Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben der Widerspruch und die Anfechtungsklagegrundsätzlich aufschiebende Wirkung. Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird. Das Gericht kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO gegen einen für sofort vollziehbar erklärten Verwaltungsakt ganz oder teilweise wiederherstellen. In dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO soll eine vorläufige Regelung über die Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens getroffen werden. Das Verfahren soll grundsätzlich nicht an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten. Aufgrund dieses summarischen Charakters soll in der Regel keine umfassende Sachverhaltsaufklärung mittels förmlicher Beweisaufnahme erfolgen, sondern die Entscheidung auf präsente, also umgehend erreichbare Beweismittel, auf glaubhaft gemachte Tatsachen und überwiegende Wahrscheinlichkeiten gestützt werden. Das Gericht spricht zunächst die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung aus, wenn die formellen Voraussetzungen der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO nicht vorliegen. Andernfalls trifft es seine Entscheidung durch eine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einem sofortigen Vollzug des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Bei der Interessenabwägung kommt es vorrangig auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache an. Lässt sich der Erfolg in der Hauptsache sicher prognostizieren, da der Verwaltungsakt nach summarischer Prüfung rechtswidrig ist, fällt die Interessenabwägung grundsätzlich zugunsten des Antragstellers aus, weil kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung von rechtswidrigen Verwaltungsakten besteht. Erweist sich der Rechtsbehelf dagegen in der Hauptsache als erfolglos und die materiellen Voraussetzungen der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO liegen vor, fällt die Interessenabwägung regelmäßig zulasten des Antragstellers aus. Sind die Erfolgsaussichten offen, hat eine allgemeine Interessenabwägung zu erfolgen, bei der unter anderem das Gewicht der durch den Verwaltungsakt betroffenen Rechtsgüter sowie die Schwere der Beeinträchtigung der Rechtsgüter, die durch die Vollziehung bzw. Aussetzung des Verwaltungsakts betroffen werden, berücksichtigt werden (Folgenabschätzung). Von zentraler Bedeutung ist dabei, ob irreversible Folgen eintreten könnten, wenn die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren von der Entscheidung in der Hauptsache abweicht (vgl. zum Ganzen: Schenke in Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 23. Auflage 2017, § 80 Rn. 152; Bostedt in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Auflage 2016, § 80 VwGO Rn. 157 ff.; Gersdorf in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 01.07.2018, § 80 Rn. 187). Zudem muss ein materielles besonderes Vollzugsinteresse bestehen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Mai 2022 – 2 M 28/22 – juris Rn. 28 ff.)
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist der Antrag begründet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist zwar in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden (a.) und auch ist der Bescheid bezüglich der Fahrerlaubnisentziehung voraussichtlich rechtmäßig (b.), doch besteht an der sofortigen Vollziehung des Entzuges der Fahrerlaubnis kein besonderes, materielles Vollzugsinteresse (c.), sodass trotz des Umstandes, dass es im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung grundsätzlich auf die Erfolgsaussichten der Hauptsache ankommt, die durchzuführende Interessenabwägung zu Lasten der Antragsgegnerin ausfällt.
a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formal nicht zu beanstanden.
In den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen, § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Das Begründungserfordernis dient dem Zweck, der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen zu führen, den Betroffenen über die Gründe, die für die Anordnung der sofortigen Vollziehung maßgeblich gewesen sind, in Kenntnis zu setzen, und schließlich das Gericht im Falle eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO über die behördlichen Erwägungen zu unterrichten. Die Begründung muss dementsprechend erkennen lassen, dass und warum die Behörde in dem konkreten Einzelfall dem sofortigen Vollziehbarkeitsinteresse Vorrang vor dem Aussetzungsinteresse des Betroffenen einräumt. Ob die aufgeführten Gründe den Sofortvollzug inhaltlich rechtfertigen, ist hingegen keine Frage der formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, sondern der Interessenabwägung und damit des materiellen Rechts (VG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Februar 2020 – 6 L 3230/19 –, juris Rn. 22 m. w. N.; VG München, Beschluss vom 15. September 2021 – M 23 S 21.4748 –, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 5. August 2021 – 18 L 658/21 –, juris).
Allerdings darf sich die Behörde in bestimmten Fällen auch auf die den Verwaltungsakt selbst tragenden Erwägungen stützen, wenn die den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigenden Gründe zugleich die Dringlichkeit der Vollziehung belegen. Dabei rechtfertigen die hohe Bedeutung der Sicherheit des Straßenverkehrs und das erhebliche Gefährdungspotenzial ungeeigneter Verkehrsteilnehmer in aller Regel nicht nur den Erlass gefahrenabwehrender Ordnungsverfügungen, sondern auch die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit. Denn die für den Sachbereich des Fahrerlaubnisrechts spezifischen Gefahren liegen nicht in unbestimmter Zukunft, sondern können sich jederzeit realisieren. Daraus folgt, dass sich die Begründung für die Ordnungsverfügung selbst (Erlassinteresse) und diejenige für die Anordnung der sofortigen Vollziehung (Vollzugsinteresse) typischerweise weitgehend decken. Begründet die Behörde die Vollziehungsanordnung mit gewissen Wiederholungen und möglicherweise formelhaft klingenden Wendungen, liegt darin kein Verstoß gegen § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Hinzu kommt, dass Fahreignungsmängel (lediglich) abstrakte Gefahren darstellen, die sich bei der Verkehrsteilnahme aufgrund allgemeiner Erfahrungswerte realisieren können, ohne bei jeder einzelnen Fahrt auftreten zu müssen. Entsprechend können auch die Ausführungen der Fahrerlaubnisbehörde nur auf diese abstrakte Gefahrenlage abstellen (VG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Februar 2020 – 6 L 3230/19 –, juris Rn. 24 m. w. N.).
Dies vorangestellt genügen die Ausführungen des Antragsgegners den gesetzlichen Anforderungen. Er hat erkennen lassen, dass er sich des Ausnahmecharakters der Anordnung des Sofortvollzuges bewusst war und im Wesentlichen ausgeführt, dass wegen der schwerwiegenden Gefahren, die von einer weiteren Teilnahme des Antragstellers als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehenden Fahrerlaubnisinhaber für die Rechtsgüter Leib, Leben und Eigentum Dritter ein Abwarten des Abschlusses eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens nicht hingenommen werden kann.
b) Die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers ist auch bei summarischer Prüfung als rechtmäßig zu beurteilen.
Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i. V. m. § 46 Abs. 1 FeV in der bis zum 31. März 2024 geltenden Fassung, wonach die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen hat, wenn sich der Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
Dies ist hier der Fall, da das Gericht nach summarischer Prüfung zu der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinreichenden Gewissheit gelangt, dass der Antragsteller regelmäßiger Konsument von bis zum 31. März 2024 dem Betäubungsmittelgesetz unterfallendem nicht nur geringfügig THC-haltigem Cannabis ist.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Regelung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung – hier dem Erlass des Widerspruchsbescheides am 19. März 2023 – maßgeblich, weshalb es auf die mittlerweile eingetretene Rechtsänderung durch das Gesetz vom 27. März 2024 zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz - CanG) nicht ankommt (vgl. allgemein zum Maßstab: BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 3 C 3/13 –, juris Rn. 13; VGH Bayern, Beschluss vom 21. November 2023 – 11 CS 23.1206 –, juris Rn 14; siehe bereits zur Fortgeltung dieses Maßstabs unter Berücksichtigung des Cannabisgesetzes: VG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 24. April 2024 – 6 K 931/24 –, juris Rn. 11). Das Abstellen auf diesen Zeitpunkt ergibt sich aus dem maßgeblichen materiellen Recht, denn die Regelungen des Fahrerlaubnisrechts sehen in § 20 FeV ein Neuerteilungsverfahren vor. Somit ist zwischen dem Entziehungsverfahren und den Neuerteilungsverfahren zu unterscheiden. Würde das Gericht nach Abschluss des behördlichen Entziehungsverfahrens eine Überprüfung anhand einer später geänderten Rechtslage vornehmen, so unterliefe es die Regelungen des Neuerteilungsverfahrens. Abweichende Übergangsregelungen enthält das CanG nicht.
Nach § 46 Abs. 1 FeV i. V. m. Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV in der bis zum 31. März 2024 gültigen Fassung ist die Eignung oder bedingte Eignung nicht gegeben, wenn der Fahrerlaubnisinhaber regelmäßig Cannabis konsumiert. Von einem regelmäßigen Konsum ist jedenfalls dann auszugehen, wenn von einer täglichen oder zumindest nahezu täglichen Einnahme auszugehen ist (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 26.11.2003 – 10 S 2048/03 –, BeckRS 2004, 20216). Zum Beweis eines solchen Umstandes ist, entsprechend des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht erforderlich, dass sich eine dahingehende Überzeugung des Gerichtes aus den Ergebnissen einer Blutprobe ergibt. Auch ist nicht erforderlich, dass Zeugen vorhanden sind, die aus unmittelbarer Wahrnehmung den regelmäßigen Konsum wahrgenommen haben. Zum Beweis des regelmäßigen Konsums ist regelmäßig ausreichend, wenn Zeugen zur Verfügung stehen, die belegen können, dass der Betroffene eine Aussage getroffen hat, aus der sich ein regelmäßiger Konsum ergibt (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 25. April 2024 – 3 L 64/24 –, juris Rn. 7 ff.). Unter Beachtung dieses Maßstabs ist im Rahmen der hier nur möglichen summarischen Prüfung davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin zu Recht angenommen hat, dass dem Antragsteller aufgrund regelmäßigen Cannabiskonsums die Fahreignung fehlt.
Auf Grund der von dem POM L. in der Mitteilung an die Antragsgegnerin vom 6./7. November 2022 niedergelegten Äußerung des Antragstellers, dass dieser regelmäßig Cannabis konsumiere, um seine Psyche zu beruhigen und es wie „Feierabendbier“ verwende, konnte die Antragsgegnerin davon ausgehen, dass der Antragsteller nahezu täglich Cannabis konsumiert, welches nicht lediglich einen THC-Gehalt von nicht mehr als 0,2 Prozent beinhaltet. Dass die von dem Antragsteller getätigte Äußerung so zu verstehen ist, ergibt sich bereits daraus, dass der Antragsteller schon nicht gegenüber den ihn kontrollierenden Polizeibeamten geäußert hat, dass es sich bei dem von ihm konsumierten Cannabis um fast ausschließlich CBD beinhaltendes Cannabis handelt. Ausweislich des Vortrags des Antragstellers sind diesem die unterschiedliche rechtliche Bewertung bezüglich hoch THC-haltigem und hauptsächlich CBD-haltigem Cannabis bewusst. Auch weiß er ausweislich des Vortrags im gerichtlichen Verfahren um die unterschiedliche Wirkungsweise beider Cannabisprodukte. Daher ist anzunehmen, dass, hätte es sich bei dem von ihm konsumierten Cannabis tatsächlich nur um ein hauptsächlich CBD-haltiges Produkt gehandelt, er dies zum Anlass genommen hätte, er dies gegenüber den Polizeibeamten vorgebracht hätte. Auch ist davon auszugehen, dass ihm aller Voraussicht nach bewusst war, dass der bloße Bezug auf Cannabis ohne weitere Erläuterung ungeachtet des Umstandes, dass es sich biologisch nur um die Bezeichnung einer Pflanze handelt, von den Polizeibeamten so verstanden wird, dass er einen Konsum von zum damaligen Zeitpunkt noch dem Besitzverbot nach § 29 BtMG unterliegenden THC-haltigen Cannabis einräumt. Auch das weitere Verhalten des Antragstellers im Zusammenhang mit der Kontrolle durch die Wasserschutzpolizei am 6. November 2022 führt zu der Überzeugung, dass der Antragsteller regelmäßig THC-haltiges Cannabis konsumiert. Entsprechend der im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durchgeführten Ermittlungen geht das Gericht nach summarischer Prüfung davon aus, dass der Antragsteller Cannabis und einen Joint im Wasser vernichtet hat. Andernfalls wäre nicht nachvollziehbar, weshalb der Antragsteller in der Folge Angaben zu seinem Konsumverhalten betreffend Cannabis getätigt hat. Der Umstand, dass er einen Joint sowie eine Cannabisblüte vor dem Zugriff der Polizeibeamten ins Wasser geworfen hat, ist als Verhalten zu werten, dass ihm vor erwarteten straf- oder verwaltungsrechtlichen Konsequenzen bewahren sollte. Hätte es sich bei dem durch den Antragsteller vernichteten Cannabis tatsächlich nur um CBD-haltiges Cannabis gehandelt, ließe sich das Verhalten nicht plausibel erklären, da ihm in einem solchen Fall auch bereits zum damaligen Zeitpunkt sowohl was den Konsum als auch den Besitz von solchem Cannabis angeht, weder strafrechtliche, noch fahrerlaubnisrechtliche Konsequenzen gedroht hätten. Es erscheint als widersprüchlich, wenn der Antragsteller nun behauptet, er hätte im Rahmen einer weiteren Befragung des Polizeibeamten erklärt, dass er ausschließlich CBD-haltiges Cannabis konsumiert, auf der anderen Seite aber die Möglichkeit einer – von ihm jetzt geforderten – molekularbiologischen Untersuchung des von ihm besessenen Cannabis durch das Entsorgen im Wasser unmöglich gemacht hat.
Der Antragsteller kann auch nicht damit durchdringen, dass in seinem Fall eine Ausnahme von der Regelvermutung der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV anzunehmen ist. Mit Satz 1 der Vorbemerkung Nr. 3 zur Anlage 4 zur FeV wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bereits dahingehend Rechnung getragen, dass die Eignung in den in Anlage 4 zur FeV vorgenommenen Bewertungen – also auch im Fall von Nr. 9.2.1 – nur „in der Regel" und nicht ausnahmslos entfällt, sodass für den Betroffenen die Möglichkeit besteht, anhand besonderer Umstände des Einzelfalles darzulegen, dass seine Eignung dennoch gegeben ist. Für eine weitergehende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist angesichts des klaren Wortlautes von § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV und des gesetzgeberischen Willens kein Raum (vgl. VG Leipzig, Urteil vom 15. Januar 2021 – 1 K 999/20 –, juris Rn. 40, unter Verweis auf BayVGH, Beschluss vom 10. Juni 2014 – 11 CS 14.374 –, juris Rn. 8; SächsOVG, Beschluss vom 14. Februar 2012 – 3 B 357/11 –, juris Rn. 4). Ausnahmen von der Regelvermutung der Anlage 4 zur FeV sind nach der Vorbemerkung 3 zu dieser Anlage nur dann anzuerkennen, wenn in der Person des Betäubungsmittelkonsumenten Besonderheiten bestehen, die darauf schließen lassen, dass seine Fähigkeit, ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr sicher, umsichtig und verkehrsgerecht zu führen, sowie sein Vermögen, zwischen dem Konsum von Betäubungsmitteln und der Teilnahme am Straßenverkehr zu trennen, nicht erheblich herabgesetzt ist. Beispielhaft werden in Satz 2 der Vorbemerkung 3 der Anlage 4 zur FeV besondere menschliche Veranlagung, Gewöhnung, besondere Einstellung oder besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen genannt, durch die z. B. eine Kompensation drogenbedingter Einschränkungen erfolgen kann. Es obliegt insoweit dem Betroffenen, durch schlüssigen Vortrag die besonderen Umstände darzulegen und nachzuweisen, die ein Abweichen von der Regelvermutung rechtfertigen sollen (VGH Bayern, Beschlüsse vom 30. April 2019 – 11 CS 19.415 –, juris Rn. 15, und vom 27. Mai 2013 – 11 CS 13.718 –, juris Rn. 12 m. w. N.; vgl. auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 7. Dezember 2021 – 3 M 176/21 –, juris Rn. 3 sowie VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24. Mai 2002 – 10 S 835/02 –, NZV 2002, 475). Dies ist hier nicht der Fall. Gründe, die der Regelvermutung der Vorbemerkung entgegenstehen, hat der Antragsteller bereits nicht vorgetragen.
Der Antragsteller kann sich auch nicht mit Erfolg auf die Voraussetzungen der ins Feld geführten Vorbemerkung Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV berufen, da nicht ersichtlich ist, dass im Sinne des § 14 FeV in der bis zum 31. März 2024 geltenden Fassung Zweifel vorgelegen haben, die es erforderlich erscheinen lassen, eine mögliche Fahreignung des Antragstellers weitergehend zu untersuchen. Die Vorbemerkung Nr. 2 zur Anlage 4 der FeV stellt dabei klar, dass zur Ermittlung der Regelungen in der Anlage 4 bei Unklarheiten ein ärztliches oder medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen ist (vgl. zum Maßstab: Hahn/Kalus, Münchener Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2016, § 14 FeV Rn. 8 ff.). So kann die Behörde nach § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV in der anzuwendenden Fassung die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anordnen, wenn eine gelegentliche Einnahme von Cannabis vorliegt und weitere Tatsachen Zweifel an der Eignung begründen. Wie bereits aufgezeigt, ist davon auszugehen, dass der Antragsteller durch einen sogar regelmäßigen Cannabiskonsum die Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV in der anzuwendenden Fassung erfüllt und eine Fahreignung daher ausgeschlossen ist. Ein erforderlicher Zweifelsfall liegt nicht vor. In diesem Fall unterbleibt die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens gemäß § 11 Abs. 7 FeV.
c) Die Interessenabwägung fällt jedoch zuungunsten der Antragsgegnerin aus, da das im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO durch das Gericht zu prüfende überwiegende, besondere Vollzugsinteresse der Allgemeinheit an der sofortigen Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers nicht gegeben ist.
Ein solches, materielles Interesse am Vollzug vor Eintritt der Bestandskraft eines Veraltungsaktes muss stets vorliegen, da eine sofortige Vollziehung auf Basis einer behördlichen Anordnung eine Ausnahme von der gesetzlichen Regel darstellt, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung hat und daher das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das Vollzugsinteresse der Allgemeinheit grundsätzlich überwiegt. Es ist gesondert zu prüfen, ob das vorläufige Vollzugsinteresse der Allgemeinheit die Interessen des Betroffenen überwiegen. Dabei kommt es nicht alleine auf die Erfolgsaussichten eines Hauptsacheverfahrens an, sondern diese stellt lediglich einen Gesichtspunkt in der von dem Gericht vorzunehmenden Abwägung dar (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, NVwZ 1992, 687; VGH München, Beschluss vom 12. März 1996 – 14 CS 95.3873 –, NVwZ-RR 1997, 445; BVerfG, Beschluss vom 12. September 1995 – 2 BvR 1179/95 –, NVwZ 1996, 58; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 21. März 2014 – 8 ME 24/14 –, BeckRS 2014, 49116; VG München, Beschluss vom 11. Juni 2021 – M 7 S 21.1849, BeckRS 2021, 55414 Rn. 45; vgl. ebenfalls zum Maßstab: Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 80 Rn. 156 ff.). Hiernach überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Allgemeinheit an der Entziehung der Fahrerlaubnis. Dies ergibt sich maßgeblich aus der gesetzgeberischen Neubewertung und Neugewichtung des Gefährdungspotentials des Cannabiskonsums, nach der der dem Antragsteller zur Last gelegte Sachverhalt keine Eignungszweifel mehr begründen kann.
Mit dem zum 1. April 2024 in Kraft getretenen Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz – CanG) vom 27. März 2024 hat der Gesetzgeber in Artikel 14 dieses Gesetzes in Bezug auf die Beeinträchtigung der Fahreignung durch den Konsum von THC-haltigen Cannabis eine Neubewertung vorgenommen. Nach dieser neuen Bewertung ist eine Fahreignung bei Cannabiskonsum nur noch dann im Regelfall nicht gegeben, wenn Missbrauch (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV) vorliegt, oder eine Abhängigkeit (Nr. 9.2.3 der Anlage 4 zur FeV) festgestellt ist. Ob für die Bestimmung der Abhängigkeit auf die Maßstäbe der ICD-10F 12.2 (Psychische und Verhaltensstörung durch Konsum von Cannabinoiden Abhängigkeitssyndrom) abzustellen ist, oder ob andere Grundsätze gelten, kann dahinstehen. Denn in jedem Fall setzt eine Abhängigkeit auch im Vergleich zum Missbrauch eine quantitative Konsumsteigerung voraus (vgl. zur Alkoholproblematik: Siegmund, in: Freymann/Wellner, juris PK-Straßenverkehrsrecht, 2. Auflage, § 13 FeV (Stand: 6. Juni 2024) Rn. 26). Vorliegend sind indes selbst die Voraussetzungen eines Missbrauchs nicht feststellbar. Missbrauch ist nach der in der Nr. 9.2.1 enthaltenen Legaldefinition dann gegeben, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Cannabiskonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Mithin hat der Gesetzgeber auf Grund einer neuerlichen Gefährdungsbeurteilung des Cannabiskonsums diesen den in der Nr. 8 der Anlage 4 FeV enthaltenen Regelungen zur (regelmäßig fehlenden) Fahreignung bei Alkoholkonsum gleichgestellt. Anhaltspunkte für einen Missbrauch durch den Antragsteller sind nicht erkennbar. Es ist nicht durch die Antragsgegnerin ermittelt oder sonst feststellbar, dass der Antragsteller in zeitlicher Hinsicht nicht zwischen seinem Cannabiskonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen trennt. Hierfür bedürfte es Anhaltspunkte für einen fehlenden zeitlichen Abstand zwischen beiden oder für eine zeitliche Überlagerung von beiden Handlungen, wofür vorliegend jedoch nichts spricht. Auch aus der Aussage des Antragstellers, er konsumiere Cannabis wie ein „Feierabendbier“ folgt nicht, dass der Konsum des Antragstellers ein missbräuchlicher ist. Hierfür bedürfte es weiterer Anhaltspunkte, dass der Konsum quantitativ im Übermaß stattfindet oder der Antragsteller keine hinreichende Zeit nach dem Konsumakt verstreichen lässt, um erneut ein Fahrzeug zu führen. Aus dieser Neugewichtung durch den Gesetzgeber folgt, dass, wenn ein Missbrauch oder eine Abhängigkeit von Cannabis nicht feststellbar ist, keine Eignungszweifel bestehen. Mithin überwiegt in einem solchen Fall das Mobilitätsinteresse des Betroffenen die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit. Auf Grund der gesetzgeberischen Neubewertung ist in Fällen, in denen ein Missbrauch oder eine Abhängigkeit nicht gegeben ist, das Gefährdungspotential für die Rechtsgüter Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie das Eigentum (Art. 14 GG) der anderen Verkehrsteilnehmer als nicht hinreichend groß anzusehen, um dem Betroffenen die Teilnahme am Straßenverkehr zu versagen. Dass der Antragsteller im Klageverfahren voraussichtlich unterliegen wird, ändert hieran – wie dargestellt – nichts.
2. Auch der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bezüglich der angeordneten Führerscheinabgabe ist erfolgreich, da auch dieser zulässig und begründet ist.
Rechtsgrundlage für die von dem Antragsgegner konkretisierte Abgabepflicht bezüglich des Führerscheins des Antragstellers sind die §§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, 47 Abs. 1 FeV. Ein Betroffener kann jedoch auf Grundlage dieser Normen nur dann zur Abgabe seines Führerscheins verpflichtet werden, wenn die Entziehung der Fahrerlaubnis bestandskräftig ist, oder sie rechtswirksam für sofort vollziehbar erklärt wurde, vgl. § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV. Da die aufschiebende Wirkung bezüglich der Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers wiederherzustellen ist, ist auch bezüglich der hier in Rede stehenden Anordnung gegen den Antragsteller die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen.
3. Der Antrag gerichtet auf einstweilige Herausgabe des bei der Antragsgegnerin abgegebenen Führerscheins ist zulässig. Da die Verpflichtung des Antragstellers zur Abgabe seines Führerscheins bei der Antragsgegnerin durch Verwaltungsakt verfügt wurde, ist er als Antrag auf Beseitigung der Vollzugsfolgen nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO statthaft, welcher vor dem Hintergrund des § 123 Abs. 5 VwGO als speziellere Regelung Vorrang genießt vor einem Antrag auf Erlass einer Regelungsverfügung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO (vgl. hierzu: Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 123 Rn. 28 f, § Rn. 36 und Rn. 163 f.; zur Herausgabe eines Führerscheins im Wege der einstweiligen Vollzugsfolgenbeseitigung, siehe auch: VG A-Stadt, Beschluss vom 27. Februar 2024 – 1 B 42/24 MD – juris Rn. 38).
Der Antrag ist auch begründet. Der Führerschein des Antragstellers ist diesem vorläufig herauszugeben.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO kann das Gericht, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist, die Aufhebung der Vollziehung anordnen. So liegt es hier.
§ 80 Abs. 5 S. 3 VwGO ermöglicht dem Antragsteller, im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO mit einem Antrag zusätzlich zu dem auf Aufhebung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auch die zwischen Erlass des Verwaltungsaktes und Eintritt der aufschiebenden Wirkung vorgenommene Vollzugsmaßnahmen aufheben zu lassen, ohne einen ansonsten erforderlichen weiteren Antrag nach § 123 VwGO stellen zu müssen. Neben dieser verfahrensrechtlichen Funktion enthält § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO zugleich die Rechtsgrundlage für die gerichtliche Aufhebungsentscheidung. Da die gerichtliche Entscheidung über die Aufhebung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung grundsätzlich ex tunc, also auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts zurückwirkt, entfällt rückwirkend auch die Rechtsgrundlage für bereits getroffene Vollzugsmaßnahme (siehe: OVG Bremen, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 S 332/05 –, NVwZ-RR 2006, 692 f.) Für den Zeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung besitzt der Betroffene daher einen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch. Dabei handelt es sich um einen besonderen Anspruch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zur Sicherung des status quo. Die Regelung soll sicherstellen, dass die Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung faktisch nicht leerläuft, sondern ihre Entsprechung im tatsächlichen Bereich findet (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 14. März 1991 – 1 B 14/91 –, NVwZ 1991, 1194; OVG Sachsen, Urteil vom 12. Oktober 2005 – 5 B 471/04 –, juris Rn. 18; OVG Bremen, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 S 332/05 –, NVwZ-RR 2006, 692; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 80 Rn. 163 f.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1 und 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Unter Berücksichtigung von § 6 Abs. 3 Satz 1 FeV sowie in Anlehnung an die Empfehlungen in Ziffern 46.1 und 46.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 bemisst das Gericht den Wert des Streitgegenstandes pro Fahrerlaubnisklasse (A1 sowie B) jeweils mit 5.000,00 Euro, insgesamt also mit 10.000,00 Euro. In Anbetracht des hier begehrten vorläufigen Rechtsschutzes war der Streitwert zu halbieren, Ziffer 1.5 des Streitwertkataloges. Der Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch wirkt nicht streitwerterhöhend (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17. August 2023 – 3 M 57/23 –, juris Rn. 2, 18).
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