Gericht / Entscheidungsdatum: LG Köln, Beschl. v. 11.12.2024 - 111 Qs 118/24
Eigener Leitsatz:
1. Eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat oder sich die für die Bestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben. Unter dieser Voraussetzung kann die Aufhebung auch in Betracht kommen, wenn entgegen erwarteter Anklageerhebung zum Schöffengericht tatsächlich nur zum Strafrichter angeklagt wird. In diesem Fall wird aber unter besonderer Berücksichtigung der Umstände, die zunächst die Erwartung der Anklageerhebung zum Schöffengericht begründet haben, das Vorliegen notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 zu prüfen sein.
2. Von einem Fall der notwendigen Verteidigung wird regelmäßig erst ab einem Jahr drohender Freiheitsstrafe auszugehen sein.
3. Es kann aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist, wenn Mitangeklagte anwaltlich verteidigt werden, so etwa wenn die Angeklagten sich gegenseitig belasten oder die Gefahr gegenseitiger Belastung besteht.
111 Qs 118724
Landgericht Köln
Beschluss
In dem Beschwerdeverfahren
betreffend pp.
- Beschwerdeführer -
Verteidiger:
Kirchstraße 11, 53840 Troisdorf,
hat die 11. große Strafkammer des Landgerichts Köln auf die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 07.10.2024 - Az: 540 Ds 158/24 - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, den Richter am Landgericht und den Richter am 11.12.2024 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
Die zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.
Der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 07.10.2024 war aufgehoben, da die Aufhebung der Bestellung des Rechtsanwalts pp. als Pflichtverteidiger nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO rechtswidrig war. Es hat bei der Beiordnung des Rechtsanwalts pp. zu verbleiben.
Zwar kann die Bestellung aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Die Aufhebungsmöglichkeit nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO steht im Ermessen des Gerichts, so dass der Schutz des Vertrauens des Beschuldigten in den Fortbestand der Bestellung bei der Entscheidung zu berücksichtigen ist. Ist demnach die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet und ein Verteidiger bestellt worden, gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes hieran festzuhalten (KG BeckRS 2017, 109349; StV 2017, 154; 2016, 485; LG Halle BeckRS 2020, 30356). Generell reicht für die Aufhebung der Bestellung nach Abs. 2 S. 1 nicht, wenn sich bei unveränderter Sachlage lediglich die – subjektive – Bewertung des Vorliegens notwendiger Verteidigung geändert hat. Eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung kommt demgegenüber in Betracht, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat (KG BeckRS 2017, 109349; 2013, 19710) oder sich die für die Bestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben (KG BeckRS 2013, 19711). Unter dieser Voraussetzung kann die Aufhebung auch in Betracht kommen, wenn entgegen erwarteter Anklageerhebung zum Schöffengericht tatsächlich nur zum Strafrichter angeklagt wird (vgl. BT-Drs. 19/13829, 45). In diesem Fall wird aber unter besonderer Berücksichtigung der Umstände, die zunächst die Erwartung der Anklageerhebung zum Schöffengericht begründet haben, das Vorliegen notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 zu prüfen sein (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 53. Ed. 1.10.2024, StPO § 143 Rn. 8; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2.Auflage 2023, StPO § 143 Rn. 5, Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, 66. Auflage 2023, StPO § 143 Rn. 3).
Die Voraussetzungen einer Ausnahme sind auch im hiesigen Einzelfall erfüllt. Im Ermittlungsverfahren bestand der Anfangsverdacht eines gemeinschaftlichen Raubs gemäß § 249 StGB als Verbrechenstatbestand. Dahingehend lag ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs.1. Nr.2 StPO vor. Letztendlich wurde mit Anklageschrift vom 13.06.2024 – entgegen der vorherigen Erwartungen – eine gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung beim Amtsgericht – Strafrichter – angeklagt.
Ein etwaiger Verstoß gegen das rechtliche Gehör infolge der fehlenden Anhörung vor Aufhebung der Pflichtvereidigung ist jedenfalls mit der Stellungnahme im Beschwerdeverfahren geheilt.
Es ist aber ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben.
Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Entscheidend für das Vorliegen der Schwere der Tat oder der zu erwartenden Rechtsfolge ist die Bedeutung des Verfahrens für den Beschuldigten, die sich nach der zu erwartenden Freiheitsstrafe richtet. Von einem Fall der notwendigen Verteidigung wird dabei regelmäßig ab einem Jahr Freiheitsstrafe ausgegangen (OLG Hamm, Beschluss vom 29.01.2004 – 3 Ss 15/04; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.03.1991 - 3 Ss 201/90).
Zwar beginnt der Strafrahmen der gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 StGB bei einer Freiheitsstrafe ab 6 Monaten bis zu 10 Jahren und es erscheint bei dem bisher nicht vorbestraften Beschwerdeführer nicht wahrscheinlich, dass im hiesigen Verfahren eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verhängt wird
Jedoch führt der Umstand, dass die Mitangeklagten anwaltlich vertreten sind zu einem anderen Ergebnis. Es gibt besondere Konstellationen, in denen aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist, wenn die Mitangeklagten anwaltlich verteidigt werden, so etwa wenn die Angeklagten sich gegenseitig belasten oder eventuell im Jugendgerichtsverfahren (OLG Köln, Beschluss vom 20. 6. 2012 - 2 Ws 466/12).
Eine derartige Besonderheit ist hier gegeben. Im hiesigen Verfahren gab es eine körperliche Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen, wobei es zu wechselseitigen Verletzungen kam. Ob und wie sich die übrigen Mitangeklagten, die alle verteidigt werden, einlassen werden, steht bisher nicht fest. Auch eine Videoaufnahme dürfte in der Hauptverhandlung in Augenschein zu nehmen sein. Es besteht daher die Möglichkeit, dass die verschiedenen Mitangeklagten versuchen könnten, sich die Verantwortung für den gegen sie erhobenen Vorwurf gegenseitig zuzuschreiben (vgl. LG Kiel, Beschluss vom 10.10.2008 – 32 Qs 146/08; LG Freiburg Beschl. v. 28.5.2009 – 3 Qs 73/09, BeckRS 2009, 144325).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA Dr. P. R. Gülpen, Troisdorf,
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