Gericht / Entscheidungsdatum: AG Aschersleben, Urt. v. 24.09.2024 - 2 Ds 275 Js 34057/22 (69/24)
Leitsatz des Gerichts:
1. Die Auslegung der nicht geringe Menge in § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG gebietet aufgrund der Gesetzesbegründung zum CanG eine vom vormaligen Grenzwert von 7,5 g THC abweichenden Grenzwert.
2. Die nicht geringe Menge in § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG beträgt 37,5 g THC und orientiert sich an der fünffachen Menge der bei einer erlaubten Besitzmenge von 50 g und einem durchschnittlichen THC-Gehalt von 15 % auftretenden Wirkstoffmenge THC.
In pp.
1. Der Angeklagte ist schuldig des unerlaubten Besitzes von mehr als 60 Gramm Cannabis.
2. Er wird deshalb zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 20 € verurteilt.
3. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Angewendete Vorschriften:
§§ 1 Nr. 5, 2 Abs. 1 Nr. 1, 34 Abs. 1 Nr. 1b KCanG
Gründe
I.
...
II.
Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung am 22. Juni 2022, ..., in anderer Sache wurde durch die Polizei 68,7 g Haschisch mit einer Masse von mindestens 6,87 g reinem THC aufgefunden, dass er auf dem Küchentisch in der Küche aufbewahrte.
Dem Angeklagten war bewusst, dass der Umgang mit Haschisch in dieser Menge verboten war.
Haschisch unterfällt dem KCanG
III.
Die Darstellungen zu I. folgen aus den Angaben des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen sowie der Auskunft des Bundesamtes für Justiz vom 17. September 2024. Die Darstellungen zu Il. folgen aus der durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere der geständigen Einlassung des Angeklagten sowie dem in der Hauptverhandlung mit Zustimmung der Beteiligten verlesenen Sicherstellungsprotokolls.
...
IV.
Der Angeklagte hat sich daher wegen unerlaubten Besitzes von insgesamt mehr als 60 Gramm Cannabis strafbar gemacht, §§ 1 Nr. 5, 2 Abs. 1 Nr. 1, 34 Abs. 1 Nr. 1b KCanG. Ein besonders schwerer Fall nach § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG liegt demgegenüber nicht vor. Voraussetzung dafür ist, dass sich eine Straftat nach § 34 Abs. 1 KCanG auf eine nicht geringe Menge bezieht.
In Abweichung von der Rechtsprechung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 18 April 2024 (BGH NJW 2024, 1968, beck-online, sowie BGH Beschl. v. 15.5.2024 - 6 StR 73/24, BeckRS 2024, 12475 Rn. 7, 8, beck-online) kann die nichtgeringe Menge nicht auf 7,5 g reinen THC festgesetzt werden. Sie ist abweichend - aber unter Zugrundelegung der bereits entwickelten Maßstäbe - auf 37,5 g reines THC zu bemessen.
1. Für den für THC geltenden Grenzwert vor in Krafttreten des KCanG am 01. April 2024 galt vereinfacht gesagt die fünffache Menge der regelmäßig zu einer Einstellung führenden Menge als nicht geringe Menge im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG. Ausgehend von der für Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft früher üblichen 10 g Cannabisprodukten und einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von 15 % ergaben sich 1,5g reines THC im Durchschnitt. Die fünffache Menge dessen betrug 7,5 g reines THC. Wendet man diese Maßstäbe auf die heute geltenden erlaubten 50 g Cannabis an (die Strafbarkeit beginnt erst ab 60 g, der Besitz von mehr als 50 g Cannabis stellt jedoch bereits eine Ordnungswidrigkeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1b KCanG dar), erhält man eine durchschnittliche Wirkstoffmenge von 7,5 g reinem THC. Die fünffache Menge hierzu beträgt 37,5 g reinem THC, die aufgrund der hier aufgefundenen Menge von 68,7 g Haschisch nicht erreicht werden können.
2. Mit Inkrafttreten des KCanG kann nicht mehr an der früheren Grenze von 7,5 g reinem THC festgehalten werden.
In der Gesetzesbegründung zum CanG heißt es:
Der konkrete Wert einer nicht geringen Menge wird abhängig vom jeweiligen THC-Gehalt des Cannabis von der Rechtsprechung aufgrund der geänderten Risikobewertung zu entwickeln sein. Im Lichte der legalisierten Mengen wird man an der bisherigen Definition der nicht geringen Menge nicht mehr festhalten können und wird der Grenzwert deutlich höher liegen müssen als in der Vergangenheit.
(BT-Drs. 20/8704, Seite 132)
Eine dem widersprechende Auslegung der Norm ist, wie sie der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der zitierten Entscheidung vorgenommen hat nicht möglich.
Die Gesetzesbegründung entfaltet für die Gerichte keine Bindung, im Sinne einer strengen Gesetzesbindung. Sie zu beachten folgt jedoch aus der Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (a)) und insbesondere der Gewaltenteilung sowie des Demokratieprinzips (b)).
a) Die Gerichte sind nach Art 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Den Inhalt der jeweiligen Rechtsnorm zu ermitteln und nachzuprüfen, ob der den Gerichten zur Entscheidung unterbreitete Fall der Rechtsnorm tatsächlich unterfällt, ist demgegenüber Kernbereich rechtsprechender Tätigkeit. Der Bereich der Rechtssetzung und Rechtsprechung lässt sich daher auch unter Geltung der in Art 20 Abs. 3 GG angesprochenen Bindung nicht trennscharf abgrenzen (NK-StGB/Kargl, 6. Aufl. 2023, StGB § 1 Rn. 108b, beck-online). Will man jedoch die Bindung an das Gesetz nicht unnötig aushölen, muss dieser Bindung dadurch Geltung verschafft werden, dass sich die Gerichte so weit wie möglich aus der gesetzgeberischen Tätigkeit heraushalten. Die rechtsschöpfende Rechtsfindung durch die Gerichte muss auf Fälle beschränkt bleiben, in denen durch den Gesetzgeber keine Entscheidung der jeweiligen Konfliktsituation vorgegeben ist oder in denen der Gesetzgeber den jeweiligen Konflikt - beispielsweise aufgrund technischer oder gesellschaftlicher Änderungen - nicht absehen konnte. Dies bedingt einen Vorrang der als subjektiven Auslegung gekennzeichneten Methoden. Dem Willen und den Interessen des Gesetzgebers ist bei der Anwendung der üblichen Auslegungsregeln (Wortlaut, Historie, Teleologie und Systematik) Geltung zu verschaffen. Im Wege der Wortlautauslegung ist daher regelmäßig auch zu fragen, wie der Gesetzgeber die gewählten Worte verstanden hat und welchen Sinn er dem Gesetz beilegen wollte. Alles andere würde darauf hinauslaufen, dass nicht der demokratisch gewählte Gesetzgeber dem Gesetz einen konkreten Sinn gibt, sondern die jeweiligen, an der gerichtlichen Entscheidung beteiligten Personen. Vor diesem Hintergrund würde die Bindung der Gerichte an das Gesetz leerlaufen und den Gesetzgeber zwingen immer umfassendere Gesetze zu erlassen.
Der Ansicht kann auch nicht entgegengehalten werden, die Gerichte würden sich so zum gleichsam blinden Vollzieher der Gesetze machen. Einerseits ist das ihre von der Verfassung vorgesehene Aufgabe. Andererseits sieht die Verfassung ausreichende Mittel vor, etwaige Bedenken im Vollzug des gesetzgeberischen Willens einer verfassungskonformen Klärung zuzuführen. Es bedarf nämlich neben Art 100 GG keine, über die Auslegung von Gesetzen verschleierte Verwerfungskompetenz der Gerichte. Schließlich fördert die Auslegung der Gesetze orientiert am Willen des Gesetzgebers auch die Rechtssicherheit, da für den Normunterworfenen mit der Gesetzesbegründung und dem Gesetzgebungsprozess Materialien zur Anwendung des Gesetzes zur Verfügung stehen. Die Prognose der Entscheidung der Gerichte wird - wie der hiesige Fall sehr gut zeigt - durch eine am Willen des Gesetzgebers orientierte Auslegung zuverlässiger, als sie unter Geltung der entgegenstehenden Ansicht möglich wäre.
b) Die in Art 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende Gewaltenteilung verpflichtet die Gerichte ebenfalls den gesetzgeberischen Willen bei der Auslegung von Gesetzen zu berücksichtigen.
Andernfalls würde das Gericht, wie dargestellt, in die Tätigkeit der Gesetzgebung übergreifen.
Der Orientierung am Willen des Gesetzgebers kann daher nicht entgegengehalten werden, die am Gesetzgebungsprozess Beteiligten seien nicht selbst der Gesetzgeber. Das trifft zwar zu, sie sind aber in jedem Fall viel eher Teil des Gesetzgebers, als es der einzelne Richter ist; die demokratische Legitimationskette ist wesentlich kürzer. Die Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip aus Art 20 Abs. 1 GG fordern daher ebenfalls den Vollzug des Gesetzes durch die Gerichte, orientiert am Willen des Gesetzgebers.
Gemessen daran ist die nicht geringe Menge aus § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG wie oben dargestellt festzusetzen. Sie entspricht, ebenfalls in Abweichung der Entscheidung des 1. Strafsenates auch einer geänderten Risikobewertung. Der Bundesgerichtshof führt hierzu aus:
Mit Blick auf die unveränderte Wirkweise und Gefährlichkeit des Tetrahydrocannabinols hält der Senat das Merkmal "nicht geringe Menge" der Strafzumessungsregel in § 34 III 2 Nr. 4 KCanG für erfüllt, wenn das tatgegenständliche Cannabisprodukt mindestens 7,5 g THC enthält.
Die auf chemisch-toxikologischer Grundlage getroffene Feststellung, wonach zur Erzielung eines Rauschzustands durch Rauchen einer Zubereitung von Cannabisprodukten im Durchschnitt 15 mg THC erforderlich sind, gilt nach wie vor. Auch die im Vergleich zur harten Droge Heroin entwickelte Anzahl der Konsumeinheiten beansprucht unverändert Geltung; das pharmakodynamische Wirkungsverhältnis von THC zu Heroin ist heute nicht anders zu beurteilen als im Zeitpunkt der erstmaligen Grenzwertbestimmung. Dafür spricht auch die Wechselwirkung zwischen den Grenzwerten der verschiedenen Betäubungsmittel, die auf der Grundlage des Gefährlichkeitsvergleichs in unmittelbarer Abhängigkeit voneinander stehen. Die im Vergleich zu anderen Betäubungsmitteln geringere Gefährlichkeit von Cannabisprodukten hat der BGH bereits bei der Festsetzung des Grenzwerts von 7,5 g THC berücksichtigt (zum Stufenverhältnis von sog. harten Drogen wie Heroin, Fentanyl, Kokain und Crack über Amphetamin, das auf der Gefährlichkeitsskala einen mittleren Platz einnimmt, bis hin zu sog. weichen Drogen wie Cannabis vgl. etwa BGH 11.10.2018 - 4 StR 274/18, BeckRS 2018, 28287 Rn. 7; NStZ-RR 2017, 310; NStZ 2016, 614; 26.3.2014 - 2 StR 202/13, BeckRS 2014, 12009 Rn. 20). Die einzelnen vom BGH festgesetzten Grenzwerte und ihre Abstufung werden schließlich sowohl in der Praxis als auch im Schrifttum als praktikabel angesehen und gemeinhin akzeptiert (vgl. Krumm NJ 2024, 151 (153); Patzak/Volkmer/Fabricius BtMG § 29a Rn. 50 mwN; Weber/Kornprobst/Maier BtMG, 6. Aufl., BtMG § 29a Rn. 68).
(BGH NJW 2024, 1968 Rn. 12, 13, beck-online)
Mutmaßlich stellt der Senat damit auf die in der 1980er Jahren entwickelte Risikobewertung ab (MüKoStGB, BtMG vor § 29 Rn. 155, beck-online), was nach heutigen Erkenntnissen und vor allem unter Zugrundelegung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG,Beschluß vom 09-03-1994 - 2 BvL 43/92 - NJW 1994, 1577, beck-online) kaum nachvollziehbar ist. Ungeachtet des Umstandes, dass die zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schon deutlich macht, dass der Risikogehalt von Cannabis anders zu bewerten ist, als es bei Gesetzeserlass der Fall war (aus der Entscheidung: Obwohl sich danach die von Cannabisprodukte ausgehenden Gesundheitsgefahren aus heutiger Sicht als geringer darstellen, als der Gesetzgeber bei Erlaß des Gesetzes angenommen hat, ...), ist auch durch die Entscheidung deutlich zum Ausdruck gekommen, dass dem Bundesverfassungsgericht damals die Einschätzung des Gesetzgebers und die möglichen Einstellungstatbestande aufgrund einer unsicheren Datenbasis noch ausreichen (Der Gesetzgeber darf abwarten, ob der neugeschaffene, speziell auf Konsumentenvergehen im Betäubungsmittelrecht zugeschnittene Tatbestand des § 31a BtMG zu einer im wesentlichen gleichmäßigen Rechtsanwendung in diesem Rechtsbereich führt oder ob weitere gesetzliche Konkretisierungen der Einstellungsvoraussetzungen erforderlich sind. BVerfG, a.a.O.).
Angesichts gestiegener Konsumentenzahlen, tendenziell gesunkener Strafen und neuer Studienlagen, sprechen auch tatsächliche Gründe gegen die Annahme, die Risikobewertung habe sich nicht geändert. Sowohl der politisch seit den 1990er Jahren unterschiedlich besetzte Gesetzgeber, als auch die Gerichte erweckten zu keiner Zeit den Anschein, als nähme die Gefahr durch Cannabisabhängigkeit und dem spezifisch damit verbundenen Schwarzmarkt zu.
Das Gegenteil war zu beobachten und stimmt im Übrigen mit der in dieser Zeitspanne gewonnen wissenschaftlichen Erkenntnissen überein (eine Zusammenfassung der spezifisch verkehrsrechtlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse enthalten die Empfehlungen der interdisziplinären Expertengruppe Festlegung eines THC-Grenzwertes im Straßenverkehr (§ 24a Straßenverkehrsgesetz) aus März 2024, abrufbar https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/K/cannabis-expertengruppe-langfassung.pdf? blob=publicationFile, zuletzt abgerufen am 29. Oktober 2024; die in den Empfehlungen enthaltenen Erkenntnisse sind über den Straßenverkehr hinaus für eine Risikobewertung verwertbar).
Die vorzunehmende Risikobewertung hat sich auch deswegen geändert, weil die Risikobewertung keine rein naturwissenschaftliche Risikobewertung ist. Sie enthält notwendigerweise eine gesellschaftliche Wertentscheidung. Diese geänderte gesellschaftliche Wertentscheidung kommt im CanG zum Ausdruck. Würde man der Argumentation des Senats folgen, wäre die rein naturwissenschaftlich vorzunehmende Risikobewertung von Alkohol angesichts der damit verbundenen Verkehrs- und Gewaltdelikte so verheerend, dass es kaum noch Gründe für einen legalen Verzehr gäbe. Die dagegen (Erfahrung des erkennenden Gerichts) verschwind geringen Fallzahlen, bei denen im Zusammenhang mit (ausschließlich) Cannabis Straftaten begangen werden sprechen eine deutliche Sprache. Die Anzahl der Straftaten im Zusammenhang mit (ausschließlich) alkoholbedingter Enthemmung sorgen hingegen für hohe Fallzahlen.
Da in die Risikobewertung mithin auch gesellschaftliche Entwicklungen einzustellen sind, ist auch aus diesem Grund eine abweichende nicht geringe Menge wie oben dargestellt zu bestimmen.
Schließlich ist auch deshalb eine andere nicht geringe Menge festzusetzen, weil es sonst zu Wertungswidersprüchen im Gesetz kommt, die der Senat selbst sieht, aber in Kauf nimmt (BGH a.a.O. Rn. 19, beck-online).
V.
...
Die Kostenentscheidung folgt aus § 465 StPO.
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Anmerkung:
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