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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Aufhebung der Bestellung, inhaftierter Mandant, Haftentlassung, Unfähigkeit der Selbstverteidigung, Abwägung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Siegen, Beschl. v. 14.11.2024 - 10 Qs-69 Js 794/24-94/24

Eigener Leitsatz:

1. Eine nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte aus der Haft entlassen worden ist und die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen. Es ist aber zu prüfen, ob nicht aus anderen Gründen ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.
2. Zur Unfähigkeit der Selbstverteidigung.


10 Qs-69 Js 794/24-94/24

Landgericht Siegen

Beschluss

In dem Beschwerdeverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

hat die zweite große Strafkammer des Landgerichts Siegen

durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter am Landgericht am 14.11.2024 beschlossen:

Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Siegen vom 24.10.2024 wird auf Kosten des Beschwerdeführers zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Dem Angeschuldigten wird zur Last gelegt, am 08.07.2024 gegen 11:00 Uhr einen Diebstahl geringwertiger Sachen begangen zu haben, als er aus den Auslagen des dm-Marktes im Hauptmarkt 1 in Siegen drei Proteinriegel im Gesamtwert von EUR 3,05 nahm und in seine Tasche steckte.

Die Staatsanwaltschaft Siegen hat am 07.08.2024 wegen dieser vorgeworfenen Tat Anklage erhoben (BI. 14-15 d.A.). Am 07.08.2024 um 10:22 Uhr wurde der Angeschuldigte in die JVA Altendom zwecks Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 45 Tagen bis zum 20.09.2024 verbracht (BI. 21-22 d.A.).

Mit Fax vom 14.08.2024 beantragte Rechtsanwalt pp. bei der KPB Siegen Wittgenstein als notwendiger Verteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bestellt zu werden. Das Fax wurde am 15.08.2024 an die Staatsanwaltschaft Siegen weitergeleitet, wo es am 20.08.2024 einging (BI. 18 d.A.). Nachdem die Staatsanwaltschaft Auskunft hinsichtlich der Vollstreckung eingeholt hatte (BI. 20R d.A.) wurde mit Verfügung vom 05.09.2024 die Akte das Schreiben an das Amtsgericht Siegen weitergeleitet mit dem Vermerk, dem Beiordnungsantrag dürfte zu entsprechen sein; die Akte ging am 12.09.2024 beim Amtsgericht Siegen ein (BI. 23R d.A.). Mit Fax vom 04.09.2024 legte er Dienstaufsichtsbeschwerde wegen beruflicher Untätigkeit ein (BI. 26-27 d.A.).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Siegen vom 12.09.2024 (BI. 30 d.A.) wurde für den Angeschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt. Mit Verfügung vom gleichen Tag wurde dem Verteidiger mitgeteilt, dass das Amtsgericht beabsichtige, die Pflichtverteidigerbestellung nach dem 21.09.2024 nach § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO wieder aufzuheben. Hierzu nahm der Verteidiger mit Schreiben vom 23.09.2024, gerichtet an die Staatsanwaltschaft Siegen, Stellung (BI. 33-34 d.A.).

Nachdem der Angeschuldigte am 20.09.2024 um 08:15 Uhr aus der JVA entlassen wurde (BI. 46 d.A.) hob das Amtsgericht Siegen mit Beschluss vom 24.09.2024 die Pflichtverteidigerbestellung auf (BI. 54-55 d.A.). Gegen den am 28.10.2024 zugestellten Beschluss (BI. 59-59R d.A.) legte der Verteidiger namens und im Auftrag des Angeschuldigten am 31.10.2024 sofortige Beschwerde ein (BI. 60-63 d.A.).

Die nach § 143 Abs. 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig jedoch unbegründet.

Das Amtsgericht Siegen konnte die Pflichtverteidigerbestellung nach § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO aufheben, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt.

Die Voraussetzungen nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO sind mit der Entlassung des Angeschuldigten aus der JVA entfallen. Die insoweit geltende Einschränkung des § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO durch Satz 2 ist hier gewährleistet, weil bislang weder das Hauptverfahren eröffnet noch ein Hauptverhandlungstermin bestimmt wurde.

Es liegt auch kein Fall des § 140 Abs. 2 StPO vor. Eine besonders schwierige Sach- und Rechtslage ist nicht ersichtlich. Dem Angeschuldigten wird vorgeworfen, drei Proteinriegel in seine Tasche gesteckt haben soll um diese ohne zu bezahlen für sich zu behalten. Es handelt sich um einen überschaubaren Sachverhalt, für den die Staatsanwaltschaft nur einen Zeugen benannt hat, ohne erhebliche Rechtsfragen. Die Tat wiegt auch nicht besonders schwer und die Rechtsfolgen dürften — wie das Amtsgericht Siegen bereits ausgeführt hat — trotz der Vorstrafen in einem Rahmen bleiben, der unterhalb dessen ist, ab dem eine notwendige Verteidigung erforderlich ist.

Es ist auch nicht feststellbar, dass der Angeschuldigte daran gehindert ist, sich selbst ausreichend zu verteidigen. Zwar ist der Verteidigung zuzustimmen, dass eine mögliche Schuldunfähigkeit einen notwendigen Verteidiger erforderlich machen kann (bspw. OLG Nürnberg, Beschluss vom 25.07.2007 -2 Ws 452/07, in der trotz eines Betreuers eine notwendige Verteidigung für erforderlich gesehen wurde, OLG Celle, Beschluss vom 19.01.2007 - 1 Ws 6/07 in einem Fall, in dem der Widerruf einer Strafaussetzung einer 15monatigen Freiheitsstrafe drohte und für die Entscheidung die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens erforderlich war sowie OLG Hamm Beschluss vom 23.11.1983 — 1 Ws 172/83, BeckRS 2008, 7678 in der die Schwierigkeit der Sachlage bejaht wurde und zusätzlich Zweifel an der Schuldfähigkeit bestanden).

Vorliegend ist dies jedoch — trotz der Ausführungen der Verteidigung — nicht anzunehmen. Die genannten Diagnosen des Angeschuldigten dürften — dies wurde von der Verteidigung nicht weiter ausgeführt — aus dem Sachverständigengutachten von Dr. pp. vom 12.07.2019 entnommen sein. Mit diesem Gutachten sowie dessen bisheriger Entwicklung, insbesondere auch mit seinem Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum, hat sich das Landgericht Siegen umfassend in seinem Beschluss vom 26.06.2020 (Az: 21 KLs 36/19) auseinandergesetzt. Hier kam das Landgericht Siegen zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht vorliegen und das Gutachten insoweit auch nicht ausreichend begründet sei. Zum einen, weil die Diagnosen sich nicht mit den Tatabläufen decken und zum anderen, weil es teilweise an Ausführungen fehlte.

Auch im vorliegenden Fall decken sich die Diagnosen einer paranoiden Schizophrenie mit Halluzinationen nicht mit dem Ermittlungsergebnis, auch nicht unter dem Aspekt einer möglichen Beschaffungskriminalität. Der Angeschuldigte wurde vom Zeugen pp. gebeten, ihm zu folgen, was er ohne Weiteres machte und bereitwillig die Proteinriegel herausgab. Weder der Zeuge pp. noch die Polizeibeamten haben ein irgendwie auffälliges Verhalten des Angeschuldigten beschrieben. Dass er in einem schuldunfähigen Zustand handelte, ist daher nicht ersichtlich. Auch eine Beschaffungskriminalität ist nicht anzunehmen. Selbst wenn zu dem hiesigen Tatvorwurf der drei Proteinriegel die auf Bi. 4 d.A. genannten weiteren Strafanzeigen wegen des Fischerhutes und der Unterhose mitberücksichtigt werden, handelt es sich eher um Gegenstände die für einen spontanen Eigenverbrauch bzw. —nutz vorgesehen waren und nicht als Tauschmittel für Betäubungsmittel.

Soweit ausgeführt wurde, dass Amtsgericht habe nicht von seinem Ermessen — die Formulierung „kann" in § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO - Gebrauch gemacht, kann dies im Hinblick auf die umfassende Abwägung nicht gesehen werden.

Zwar ist der Verteidigung zuzustimmen, dass sich das Amtsgericht in seinem Beschluss nicht mit den Ausführungen der Verteidigung aus dem Schriftsatz vom 23.09.2024 auseinandergesetzt hat. Dies war jedoch bereits zeitlich nicht möglich, weil dieser Schriftsatz nur einen Tag vor Beschlussfassung übersandt wurde. Zudem wurde es an die Staatsanwaltschaft und nicht an das Gericht übersendet, womit die Verteidigung damit rechnen musste, dass die Weiterleitung eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird. Von der Abänderungsmöglichkeit des § 311 Abs. 3 Satz 2 StPO hat das Amtsgericht Siegen vor der Übersendung der Akte an die Beschwerdekammer jedenfalls keinen Gebrauch gemacht, so dass nicht davon auszugehen ist, dass das Amtsgericht bei rechtzeitiger Kenntnis zu einem abweichenden Ergebnis gekommen wäre.

III.

Die Entscheidung über die Kosten ergeht nach § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.


Einsender: RA H. Terjung, Köln

Anmerkung:


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