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Entscheidungen

Zivilrecht

Linksabbiegender PKW, überholender Motorradfahrer, zu schnell fahrendes Motorrad, Kollision, Haftungsquote, Schmerzensgeld

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Urt. v. 01.10.2024 – 7 U 145/23

Leitsatz des Gerichts:

1. Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs dar. Darin liegt zugleich ein wesentlicher Verfahrensmangel.
2. Die Entscheidung bei einem wesentlichen Verfahrensmangel zwischen Zurückverweisung und eigenen Sachentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass eine Zurückverweisung in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreites führt und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen kann.
3. Wenn sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereignet, spricht der Anschein dafür, dass der Linksabbieger die ihm obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet hat. Es genügt nicht, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel zu kontrollieren.
4. Eine unklare Verkehrslage ist gegeben, wenn der Überholer nach den Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht rechnen darf, was insbesondere dann der Fall ist, wenn er nicht verlässlich beurteilen kann, was der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sogleich tun werde.
5. Der Umfang eines etwaigen des Mitverschuldens des Verletzten an der Entstehung seiner unfallbedingten Verletzungen ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.


In pp.

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 11.10.2023 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 10. Zivilkammer des Landgerichts Kiel (10 O 78/20) mit dem ihm zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Kiel zurückverwiesen.
2. Gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind und die durch die Berufung entstanden sind, werden nicht erhoben. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der abschließenden Entscheidung des Landgerichts vorbehalten.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall am Vormittag des 17.06.2018 in M. bei B. (Kreis R-E. Einmündung von der B4 in Richtung D-moor).

Der Zeuge C. fuhr mit dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug auf der Bundesstraße 4 in Fahrtrichtung N.. Er beabsichtigte nach links in die Straße H. einzubiegen. Der Kläger fuhr mit einem Motorrad der Marke Honda CBR 900 Fireblade SC 33 (EZ 13.06.1997) hinter dem Beklagtenfahrzeug und setzte zum Überholen an. Hierdurch kam es zum Unfall dessen Einzelheiten zwischen den Parteien streitig sind. Streitig ist insbesondere ob und wann der Zeuge C. den Fahrtrichtungsanzeiger betätigte.

Durch den Unfall wurde der Kläger (geb. 1974) verletzt und musste stationär sowie ambulant behandelt werden. Er erlitt eine Sprengung des Schultergelenks links (Typ Rockwood 5, also mit Riss sowohl des Bandapparats als auch der Muskulatur), Schürfwunden und im Behandlungsverlauf eine Wundheilungsstörung. Die Bewegungsfähigkeit der Schulter ist dauerhaft beeinträchtigt. Der Kläger kann den linken Arm nicht mehr über die Horizontalebene heben. Für die weiteren Einzelheiten zum Behandlungsverlauf wird auf die Darstellung im angefochtenen Urteil verwiesen.

Der Kläger hat mit der Klage neben umfassender Feststellung die Beklagte auf Zahlung von Verdienstausfallschaden und Schmerzensgeld in Anspruch genommen, hierbei wurde der begehrte Verdienstausfall bis Ende März 2020 mit 33.858,43 € und Übrigen als monatliche Zahlung in Höhe von 3.183,20 € bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze geltend gemacht. Der Kläger ist Linkshänder und hat vor dem Unfall als Maler bei einer dänischen Zeitarbeitsfirma gearbeitet. Seit Dezember 2018 bezieht er Leistungen vom Jobcenter N.. Ausweislich des Rückübertragungs- und Abtretungsvertrages vom 21.02.2022 vereinbarte der Kläger mit dem Jobcenter eine Rückübertragung der auf das Jobcenter übergegangenen Schadensersatzansprüche zum Zwecke der gerichtlichen Geltendmachung. Die Beklagte zahlte zur Erfüllung eines Schmerzensgeldanspruchs an den Kläger insgesamt 6.000,00 € (2.000,00 € am 15.08.2018, 1.000,00 € am 05.11.2018, 3.000,00 € am 10.07.2019). Auf den geltend gemachten Verdienstausfallschaden leistete die Beklagte Zahlungen in Höhe von 28.921,21 €.

Der Kläger hat beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an ihn 33.858,43 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an ihn ab dem 01.04.2020 einen Betrag von 3.183,20 € monatlich, zahlbar zum jeweils 1. eines jeden Monats im monatlichen Voraus bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm aus dem Unfallereignis vom 17.06.2018, 10:15 Uhr auf der Bundesstraße 4 Höhe H. entstanden sind bzw. noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen sind.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an ihn ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch in Höhe von weiteren 19.000,00 €, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme (Zeugenvernehmung, Beiziehung der Ermittlungsakte sowie der Zivilakte aus dem Parallelverfahren Amtsgericht R. - und Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens - schriftliches fachchirurgisches Gutachten Prof. S. vom 09.11.2021 nebst mündlicher Erläuterung) der Klage auf Basis einer Haftungsverteilung von 80 % zu 20 % zu Lasten der Beklagten stattgegeben. Beim Verdienstausfall hat es hierbei anspruchsmindernd aufgrund Verletzung einer Erwerbsobliegenheit (ab dem 1.1.2022) einen fiktiven Verdienst in Höhe von 1.000 € pro Monat (entsprechend 30 Wochenstunden) in Abzug gebracht. Soweit der Kläger die den Verdienstausfall betreffende Klage beziffert hat (bis Ende März 2020), hat das Landgericht (auch unter Berücksichtigung gezahlten Krankengeldes) ihm 13.202,63 € zuzüglich Rechtshängigkeitszinsen und zudem eine Erwerbsschadenrente von monatlich 1.219,26 € bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze zugesprochen. Zudem hat das Landgericht die Beklagte zur Zahlung von weiteren 19.000 € Schmerzensgeld verurteilt.

Gegen die Entscheidung des Landgerichts wendet sich die Beklagte mit der Berufung und begehrt die vollständige Klagabweisung. Sie bestreitet weiterhin grundsätzlich ihre Haftung, bemängelt die fehlende Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens und rügt die Schadensberechnung durch das Landgericht. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, das Landgericht habe fehlerhaft einen Verstoß des Zeugen C. gegen § 9 Abs. 1 StVO angenommen. Der Zeuge C. habe entgegen den Feststellungen des Landgerichts den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Der Fahrtrichtungsanzeiger sei auch rechtzeitig i. S. v. § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO betätigt worden. Dies folge aus den Angaben des Zeugen P.. Zudem liege ein Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (Überholen bei unklarer Verkehrslage) vor. Durch den Fahrtrichtungsanzeiger und die stark verlangsamte Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeuges sei erkennbar gewesen, dass es nach links abbiegen würde. Jedenfalls habe es sich für den Kläger um eine unklare Verkehrslage gehandelt. Der Kläger sei mit mindestens 70 km/h bei zulässigen 50 km/h unterwegs gewesen. Das Landgericht sei gehalten gewesen, den tatsächlichen Geschwindigkeitsverstoß des Klägers festzustellen, in die Haftungsabwägung einzustellen und hierfür ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten einzuholen. Der vorgerichtlich gegenüber dem Kläger regulierte Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 6.000 € sei ausreichend. Das Landgericht habe zwar in den Gründen angeführt, den Mitverursachungsanteil des Klägers berücksichtigt zu haben, dann hätten dem Kläger allerdings höchstens 15.000 € zugesprochen werden dürfen. Beim Erwerbsschaden müsse sich der Kläger einen höheren Betrag wegen Versäumung der Schadensminderungspflicht anrechnen lassen. Zudem müsse er sich Entgeltfortzahlungen bzw. Leistungen im Krankheitsfall nach dänischem Recht anrechnen lassen. Bei der Tenorierung des Feststellungsausspruchs sei eine ggf. zukünftig bezogene Erwerbsminderungsrente zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und
die Klage insgesamt abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit nach § 538 Abs. 2 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Eine zunächst unter Erweiterungsvorbehalt eingelegte Anschlussberufung im Umfang von 1 € hat der Kläger im Verhandlungstermin zurückgenommen, nachdem der Senat hierfür keine Prozesskostenhilfe bewilligt hat.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg. Auf den entsprechenden Hilfsantrag ist das angefochtene Urteil nebst dem ihm zugrundeliegenden Verfahren nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO aufzuheben und an das Landgericht K. zurückzuverweisen. Das Verfahren im ersten Rechtszug leidet an einem wesentlichen Mangel, der eine aufwändige Beweisaufnahme notwendig macht (§ 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO).

1. a) Das Landgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, indem es erheblichen und unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten übergangen hat. Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erschöpfung der Beweismittel als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG dar (BVerfG E 50, 32, NJW 2003, 125, 127). Da es sich bei dem Gebot der Ausschöpfung der angebotenen Beweise um das Kernstück des Zivilprozesses handelt, liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne von § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO vor (BGH, Urteil vom 20. Juli 2011, IV ZR 291/10, juris Rn. 21 = VersR 2011, 1392, 1394; OLG Schleswig, Urteil vom 13. Juni 2019, 7 U 140/18; OLG München, Urteil vom 20. Februar 2015, 10 U 1722/14 juris, Rn. 33 m.w.N.).

Die Beklagte hatte bereits mit der Klagerwiderung vom 20.08.2020 vorgetragen und unter Beweis gestellt (u. a. Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens), dass der Kläger mit seinem Motorrad mit überhöhter Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h (bei erlaubten 50 km/h) in die linke Seite des Beklagtenfahrzeugs hineingefahren sei, als dieses sich bereits auf der Gegenfahrspur im Abbiegevorgang befunden habe. Der Kläger hat eine überhöhte Geschwindigkeit von ca. 55 bis maximal 60 km/h zugestanden, eine Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h aber ausdrücklich bestritten. Mit Verfügung vom 26.01.2021 hatte das Landgericht eine Begutachtung zum Unfallgeschehen auch in Aussicht gestellt. Soweit das Landgericht diesem Beweisangebot dann letztlich nicht nachgegangen ist, liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler und damit zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor. Mangelhafte Beweiserhebungen insbesondere in Verbindung mit der Nichtgewährung rechtlichen Gehörs stellen den wichtigsten Anwendungsfall eines wesentlichen Verfahrensfehlers im Sinne von § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO dar (Zöller-Hessler, ZPO, 35. Aufl., § 538, Rn. 25 und 28).

Die Sache ist deshalb an das Landgericht K. zurückzuverweisen. Das Landgericht hat zwar im Urteil ausdrücklich die Einholung eines Gutachtens zur Unfallrekonstruktion mit der Begründung abgelehnt, die festgesetzte Quote von 80% zu 20% zu Lasten der Beklagten sei auch gerechtfertigt, wenn unterstellt werde, der Kläger wäre 70 km/h gefahren. Ein Beweisantrag kann zwar abgelehnt werden, wenn die vorgebrachte Tatsache als wahr unterstellt wird (vgl. BGH, Urteil vom 17. 2. 1970 - III ZR 139/67, NJW 1970, 946, 950; MüKoZPO/Prütting, 6. Aufl. 2020, ZPO § 284 Rn. 101). Das Landgericht hätte dann aber die Geschwindigkeitsüberschreitung von 70 km/h - und damit einen gravierenden Verstoß gegen § 3 StVO - auch tatsächlich in die Abwägung nach § 17 StVG einstellen müssen. Das ist ersichtlich nicht erfolgt, da das Landgericht zu Lasten des Klägers nur die einfache Betriebsgefahr mit 20% berücksichtigt hat.

b) Zur Quotenbildung nach Ermittlung der Verursachungsanteile weist der Senat auf Folgendes hin:

Da ein unabwendbares Ereignis im Sinne von §§ 17, Abs. 3, 18 Abs. 3 StVO hier nicht vorliegt, ist im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Absatz 1 u. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (vgl. BGH, NZV 1996, S. 231).

Hier streitet zu Lasten der Beklagten zwar bereits der Anscheinsbeweis der Unfallverursachung durch ein Fehlverhalten beim Linksabbiegen. Insoweit kann dahinstehen, ob der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs, der unerreichbar nach Rumänien verzogene Zeuge C., geblinkt hat und wann. Der einzige unbeteiligte Zeuge K. konnte zur Frage des Fahrverhaltens des Zeugen C. vor dem Unfall nichts Wesentliches beitragen, insbesondere nicht zur Frage, ob der Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wurde. Hierauf kommt es aber letztlich auch nicht entscheidend an, da der Zeuge C. jedenfalls, wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, gegen die doppelte Rückschaupflicht verstoßen hat (§ 9 Abs. 1 Satz 4 StVO). Soweit sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereignet, spricht nach aller Lebenserfahrung vieles dafür (Anscheinsbeweis), dass der Linksabbieger die ihm nach § 9 Abs. 1 StVO obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet hat. Der Zeuge C. hat (als Zeuge in dem Parallelverfahren vor dem Amtsgericht R.) ausdrücklich bestätigt, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel kontrolliert zu haben. Dies ist nicht ausreichend, denn es bedarf vor dem Linksabbiegen auch des Blicks über die Schulter (vgl. OLG Hamm Urt. v. 8.7.2022 – 7 U 106/20, NJOZ 2022, 1550, 1551). Zudem spricht der Unfallhergang dagegen, dass der Zeuge C. den rückwärtigen Verkehr vor dem Abbiegen gemäß dem durch § 9 Abs. 1 StVO vorgegebenen Maßstab beachtet hat.

Zu Lasten des Klägers streitet jedoch schon der von ihm zugestandene Verstoß gegen § 3 StVO. Schon dieser Umstand führt dazu, dass die zu seinen Lasten festzusetzende Quote nicht in Höhe der einfachen Betriebsgefahr von 20% festgesetzt werden kann, sondern mindestens 30% betragen muss. Zudem könnte, je nach dem Ergebnis des noch einzuholenden unfallanalytischen Gutachtens, eine noch höhere Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrads, ein mangelnder Sicherheitsabstand nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO sowie ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO bewiesen werden. Das Überholen bei unklarer Verkehrslage ist unzulässig. Eine unklare Verkehrslage ist gegeben, wenn der Überholer nach allen Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht rechnen darf, was insbesondere dann der Fall ist, wenn er nicht verlässlich beurteilen kann, was der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sogleich tun werde (vgl. KG, Beschluss vom 21. 1. 2010 - 12 U 50/09, NZV 2010, 506).

Hier spricht vieles dafür, dass ein solcher Fall gegeben ist. Der Kläger hat sich im Ermittlungsverfahren nach Angaben der Polizei dahingehend eingelassen, dass der PKW des Unfallgegners „komisch“ gefahren sei, mal etwas schneller, mal etwas langsamer. In dem Parallelverfahren vor dem Amtsgericht R. wurde der Kläger als Zeuge vernommen. Dort hat er ausgeführt:

„Ich bin schon eine ganze Weile hinter dem Unfallgegner hinterhergefahren. Der ist immer mal wieder schneller und dann wieder langsamer geworden, warum er das gemacht hat weiß ich nicht. Vielleicht haben sie sich unterhalten oder er hat aufs Handy geguckt.“

Hierin liegt der klassische Fall einer Verkehrslage, bei der ein Verkehrsteilnehmer nicht weiß, was der vorausfahrende Fahrer sogleich tun werde, also der Fall einer „unklaren Verkehrslage“. Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, dass sich die Geschwindigkeitsänderungen des Unfallgegners und sein entsprechendes Fahrverhalten auf die Strecke vor dem Unfall bezogen habe, als noch eine Geschwindigkeit von 70 km/h gegolten habe. Nach der Änderung der Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h, also auf dem Streckenabschnitt des Unfalls, habe der Unfallgegner - so der Kläger - seine Geschwindigkeit auf 45 km/h reduziert. Auch diese reduzierte Geschwindigkeit, gerade in der Zusammenschau mit den vorherigen Geschwindigkeitswechseln, könnte für den Kläger die verlässliche Beurteilung des Fahrverhaltens des Zeugen C. in Frage stellen. Gleiches gilt für die Frage des ausreichenden Sicherheitsabstandes nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO. Der Kläger hat im Rahmen seiner Anhörung erklärt, dieser habe vor dem Überholen lediglich „ca. 2 Autolängen“ betragen.

Ein höherer Haftungsanteil als 30% ist möglich, wenn der Beklagten tatsächlich der Beweis ihrer Behauptungen gelingt, dass die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit des Klägers noch deutlich über den zugestandenen Verstoß hinausging, der erforderliche Sicherheitsabstand vor dem Unfall nicht eingehalten wurde und zudem eine unklare Verkehrslage vorlag. Zur Klärung dieser Fragen bedarf es zum Haftungsgrund der Einholung eines technischen Unfallrekonstruktionsgutachtens.

c) Zur Höhe des Schmerzensgeldes weist der Senat auf Folgendes hin: Die Höhe eines dem Geschädigten zustehenden Schmerzensgeldes ist aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (vgl. BGH, Urteil vom 10.07.2018 - VI ZR 259/15, r+s 2018, 678). Das Schmerzensgeld hat hiernach einerseits die Ausgleichsfunktion, dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich zu bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind, andererseits die Genugtuungsfunktion, die dem Gedanken Rechnung tragen soll, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (BGH, Beschluss vom 11.05.2017 - 2 StR 337/14, BeckRS 2017, 118215). Bei Verkehrsunfällen kommt der Ausgleichsfunktion die maßgebliche Bedeutung zu und die Genugtuungsfunktion tritt normalerweise in den Hintergrund (OLG Düsseldorf, Urteil vom 28.03.2019 - 1 U 66/18, NJOZ 2020, 19, 21).

Der Senat kann zur Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes noch nicht abschließend Stellung nehmen, da der Umfang des noch nicht festgestellten Mitverschuldens des Verletzten an der Entstehung der erlittenen Verletzungen als wichtiger Bemessungsfaktor zu beachten ist (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 7.7.2021 – 1 U 31/20, NJOZ 2021, 1351,2358; BeckOK BGB/Spindler/Flume, 70. Ed. 1.5.2024, BGB § 253 Rn. 68).

Ohne Berücksichtigung eines Mitverschuldens sieht der Senat im vorliegenden Fall aufgrund des eingetretenen Dauerschadens, der Auswirkungen auf die weitere Berufstätigkeit des Klägers in seinem erlernten Beruf und den Komplikationen beim Behandlungsverlauf ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 35.000 € als angemessen an. Hierauf hat die Beklagte vorgerichtlich 6.000 € gezahlt.

2. Abwägung nach § 538 ZPO

Aufgrund des o.g. Verfahrensmangels ist eine umfangreiche ergänzende Beweisaufnahme notwendig. Neben der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens wird auch ein arbeitsmedizinisches Gutachten wegen der Höhe des anzurechnenden Verdienstes infolge einer Verletzung der Schadensminderungspflicht durch den Kläger (§ 254 Abs. 2 BGB) einzuholen sein. Die Beklagte hat mit der Berufung eingewendet, der Kläger hätte die Möglichkeit gehabt, über den Einsatz seiner Arbeitskraft mehr als die vom Landgericht angenommenen 1.000 € monatlich erzielen zu können. Dies wäre, wenn die Beklagte diese Behauptung aufrechterhalten will, durch Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens zu überprüfen. Das vom Landgericht eingeholte fachchirurgische Gutachten Prof. S. vom 09.11.2021 ist hierfür - allein - nicht ausreichend. Denn die vom Landgericht angeführte Begründung der für den Kläger gegebenen Möglichkeit, 30 Stunden wöchentlich zu Mindestlohnbedingungen tätig zu sein, stützt sich allein auf eine Bewertung der vom Sachverständigen Prof. S. festgestellten unfallbedingten Beschwerden. Für die Annahme der Verletzung einer Erwerbsobliegenheit wäre aber zu untersuchen, ob der Kläger trotz seiner hinzutretenden Vorerkrankung (u. a. Bandscheiben-OP im Jahr 2010 mit über einjähriger Arbeitsunfähigkeit) am Arbeitsmarkt überhaupt einen über 1.000 € hinausgehenden Verdienst (ab 01.01.2022) erzielen kann und falls ja, in welcher Höhe.

Von der Zurückverweisung kann in diesem Fall nicht abgesehen werden. Die Entscheidung zwischen der Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 ZPO und einer eigenen Sachentscheidung nach § 538 Abs. 1 ZPO steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung ist insbesondere auch zu erwägen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreites führt und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 10. März 2005, VII ZR 220/03 -, NJW-RR 2005, 928 - 929). Nach sorgfältiger Abwägung sämtlicher Umstände ist der Senat zu der Einschätzung gelangt, dass das Interesse der Parteien an der Durchführung eines verfahrensfehlerfreien erstinstanzlichen Verfahrens die vorgenannten Gesichtspunkte der Prozessökonomie überwiegt. Eine eigene Entscheidung scheint dem Senat nicht sachdienlich, bedarf es doch bis zur Entscheidungsreife voraussichtlich der Wiederholung und Ergänzung einer aufwändigen Beweisaufnahme. Die Beklagte hat ein schützenswertes Interesse daran, dass das Verfahren nicht mit Verfahrensmängeln belastet wird.

3. Die Kostenentscheidung ist dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (vgl. OLG München, Urteil vom 20. Februar 2015, 10 U 1722/14, juris, Rn. 41 m.w.N.). Gerichtskosten, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, sowie die Gerichtskosten für das Berufungsverfahren waren gem. § 21 Abs. 1 S. 1 GKG niederzuschlagen, weil ein wesentlicher Verfahrensmangel, welcher allein gem. § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann, denknotwendig eine unrichtige Sachbehandlung im Sinne des § 21 GKG darstellt (vgl. OLG München, Urteil vom 20. Februar 2015, a.a.O., juris, Rn. 42 m.w.N.).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH, Urteil vom 24. November 1976, IV ZR 3/75, MDR 1977, 480; OLG München, Urteil vom 10. Februar 2015, a.a.O., juris, Rn. 43).

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Die Entscheidung betrifft einen Einzelfall, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen. Die Sache hat ihren Schwerpunkt in der Feststellung und Würdigung von Tatsachen. Der Rechtssache kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.


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