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Entscheidungen

Zivilrecht

Rechtsabbiegender PKW, querender Radfahrer, verbotswidriges Befahren eines Gehwegs, Kollision, Haftungsquote

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Urt. v. 19.11.2024 – 7 U 90/23

Eigener Leitsatz:

1. Ein erwachsener Fahrradfahrer, der verbotswidrig mit 10 – 27,5 km/h auf einem Fußweg fährt, muss sich als Geschädigter ein erhebliches unfallursächliches Verschulden von 75 % entgegenhalten lassen, wenn er eine Straße über den abgesenkten Bordstein überquert, ohne seiner Wartepflicht nachzukommen.
2. Dem rechts abbiegenden Autofahrer, der mit dem verbotswidrig den parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg nutzenden Radfahrer kollidiert, kann kein kausaler Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO oder § 9 Abs. 1 S. 4 und Abs. 3 S. 1 StVO angelastet werden. Von diesen Regelungen wird nur der berechtigte nachfolgende Verkehr geschützt. Der Geschädigte kann für sich den besonderen Schutz aus den besonderen Abbiege- und Vorfahrtsregelungen nicht in Anspruch nehmen, wenn er als Radfahrer verbotswidrig einen parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg befahren hat.
3. Dem rechts abbiegenden Autofahrer kann aber ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO angelastet werden, wenn er bei gehöriger Sorgfalt den Radfahrer rechtzeitig hätte erkennen und die Kollision vermeiden können. Diese Pflicht beinhaltet, sich bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt unfallverhütend zu verhalten.
4. Rechtsabbiegende Autofahrer müssen damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Straße, in die eingebogen werden soll, in verkehrswidriger queren (hier Radfahrer auf einem Gehweg in Schulhofnähe).


In pp.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der Einzelrichterin der 10. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 21.04.2023 wird zurückgewiesen.
Die Beklagten tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.
Dieses und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche sowie die Feststellung der Ersatzpflicht künftiger Schäden aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 16.05.2019 gegen 18:00 Uhr bei trockener Fahrbahn an der Einmündung H-weg / S.-straße in P. ereignet hat.

Der damals 18-jährige Kläger befuhr mit seinem Fahrrad, einem sog. All-Terrain-Bike, den entlang des H.-weges verlaufenden, mit dem Zeichen 239 gekennzeichneten und damit ausschließlich Fußgängern vorbehaltene Gehweg von der Lichtzeichenanlage kommend in Richtung P. Stadtzentrum. Im Verlauf zur Einmündung S.-straße hin wird der Gehweg zum Fahrbahnbereich des H.-wegs durch einen Zaun und einen Grünstreifen begrenzt, bevor die letzten Meter des Gehweges bis zum abgesenkten Bordstein zur Einmündung Schulstraße wieder ohne Begrenzung zur Fahrbahn verlaufen. Hinsichtlich des vom Kläger befahrenen Gehwegs in Fahrtrichtung ab der Lichtzeichenanlage und dem Zeichen 239 sowie die links daneben verlaufende Fahrspur des Beklagten zu 2) wird auf das als Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 21.07.2022 eingereichte Lichtbild Bezug genommen.

Der Beklagte zu 2) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und als Taxi genutzten Pkw VW Caddy mit dem amtlichen Kennzeichen P-XX 4711 den H-weg in gleicher Fahrtrichtung und beabsichtigte, nach rechts in die S.-straße einzubiegen. Als der Kläger seinerseits die Einmündung S.-straße mit dem Fahrrad passieren wollte, wurde er von dem vom Beklagten zu 2) geführten Fahrzeug erfasst, vom Fahrrad gestoßen und überrollt. Der PKW kam auf dem gegenüberliegenden Fußgängerweg der Einmündung zur S.-straße zum Stehen.

Der Kläger erlitt durch den Unfall ein Polytrauma im Sinne eines Überrolltraumas, mehrere Rippenfrakturen, einen Leberriss, eine Blasenruptur, eine Querfortsatzfraktur sowie eine Becken- C-Fraktur und eine Schenkelhalsfraktur rechts. Er wurde stationär bis zum 04.06.2019 im UKSH behandelt. Die Beckenfraktur musste operativ versorgt werden. Im Anschluss erfolgte eine ambulante Rehabilitation und eine erneute stationäre Behandlung im UKSH in der Zeit vom 28.04.2021 bis zum 29.04.2021 zur Entfernung der dynamischen Hüftschraube und der Antirotationsschraube im Bereich der rechten Hüfte. Die Reko-Platte wurde im Bereich des vorderen Beckenringes belassen. Im Folgejahr wurde der Kläger in der Zeit vom 29.03.2022 bis zum 15.04.2022 wegen massiver Schmerzen im Bereich der rechten Hüfte stationär in der O-Klinik in D. behandelt. Es wurde eine Hüftkopfnekrose rechts diagnostiziert und schließlich am 30.03.2022 eine Hüftgelenkstotalendoprothese (HTEP) rechts eingesetzt, was letztlich zu einer deutlichen Verbesserung der Beschwerden des Klägers führte.

Die Beklagte zu 1) zahlte auf die von dem Kläger geltend gemachten Ansprüche außergerichtlich auf das Schmerzensgeld einen Betrag in Höhe von 2.000,00 €. Das gegen den Beklagten zu 2) geführte Strafverfahren vor dem Amtsgericht wurde nach Zahlung von 200,00 Euro, die auf das Schmerzensgeld anzurechnen sind, gemäß § 153a StPO endgültig eingestellt.

Der Kläger hat behauptet, der Beklagte zu 2) müsse im Abbiegevorgang mindestens 30 km/h gefahren sein. Der Beklagte zu 2) habe pflichtwidrig nicht darauf geachtet, ob sich von rechts Fußgänger oder Radfahrer genähert hätten. Sein Fahrweg sei für den Beklagten zu 2) problemlos einsehbar gewesen. Der Kläger hat seinen Sachschaden auf 1.888,00 Euro beziffert und hiervon unter Berücksichtigung einer Mithaftung von 25 % anteilig 1.416,00 Euro zzgl. 20,00 Euro Unkostenpauschale geltend gemacht. Der Kläger hat gemeint, dass ihm zwar eine Mithaftung in Höhe von 25 % anzulasten sei, er aber dennoch ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 20.500,00 € beanspruchen könne.

Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 1.436,00 € nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens aber 20.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtliche zukünftige Schäden, die ihm aufgrund des Verkehrsunfalls vom 16.05.2019 in P. entstehen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind, zu ersetzen.

Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagten haben behaupten, für den Beklagten zu 2) sei der Unfall unvermeidbar gewesen, weswegen eine Haftung der Beklagten ausgeschlossen sei. Der Beklagte zu 2) habe seine Geschwindigkeit verringert und mit Blick in den Spiegel und über die Schulter sich dahin vergewissert, dass er gefahrlos abbiegen könne. Dabei habe er darauf vertrauen dürfen, dass der ihm bekannte Gehweg nicht durch Radfahrer verbotswidrig und mit hoher Geschwindigkeit genutzt werden würde. Er selbst habe beim Abbiegen bis Schrittgeschwindigkeit verlangsamt. Der Kläger sei hingegen mit seinem Fahrrad mindestens 25 km/h bis 30 km/h gefahren.

Wegen der tatsächlichen Feststellungen im Übrigen wird auf das angefochtene Urteil nebst darin enthaltener Verweisungen Bezug genommen.

Das Landgericht hat nach Parteianhörung die Beklagten auf Basis einer Haftungsquote von 25 % zur Zahlung weiterer 7.810 Euro verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass im Rahmen der Abwägung nach §§ 7, 9 StVG i.V.m. § 254 BGB eine Haftungsquotelung von 75 % zu 25 % zu Lasten des Klägers vorzunehmen sei. Das überwiegende Verschulden für den Unfall läge beim Kläger. Er habe grob fahrlässig gehandelt. Der Kläger habe mit seinem Fahrrad verbotswidrig den mit dem Zeichen 239 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO beschilderten Gehweg befahren und habe damit gegen § 2 Abs. 1, Abs. 5 StVO verstoßen. Zudem habe er seine Pflichten aus § 10 StVO verletzt, da er seiner Wartepflicht beim Fahren über den abgesenkten Bordstein auf die Fahrbahn der S.-straße nicht nachgekommen sei. Dem Beklagten zu 2) sei zwar keine Vorfahrtpflichtverletzung (§ 8 Abs. 1 StVO) und auch kein keine Verletzung der Pflicht zur Gewährung von Vorrang gegenüber Radfahrern (§ 9 Abs. 3 StVO) vorzuwerfen, allerdings sei ihm ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 StVO anzulasten, weil der Abbiegevorgang des Beklagten zu 2) nicht in Gänze mit der erforderlichen Sorgfalt verbunden gewesen sei. Der Kläger wäre bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt so rechtzeitig für den Beklagten zu 2) zu erkennen gewesen, dass dieser sein Fahrverhalten darauf einstellen und den Unfall hätte vermeiden können. Entsprechend der Haftungsquote hat das Landgericht den zu ersetzenden materiellen Schaden im Zeitwert des beschädigten Fahrrades, der bei dem Unfall zerstörte Oberbekleidung des Klägers zuzüglich einer Unkostenpauschale (insgesamt 440 € nach Schätzung gemäß § 287 ZPO) auf 110 € festgesetzt. Des Weiteren hat das Landgericht einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von insgesamt 10.000,00 Euro für angemessen gehalten. Bei der Bemessung hat das Landgericht die erheblichen Verletzungen des Klägers infolge des Unfalls, seine umfangreiche medizinische Versorgung und die mehrfach erforderlichen stationären Behandlungen innerhalb eines Zeitraums von 3 Jahren nach dem Unfall, sowie den erforderlichen Einsatz einer „künstlichen Hüfte“ berücksichtigt. Hiervon hat es bereits geleistete Zahlungen der Beklagten i.H.v. 2.300 € in Abzug gebracht. Den Feststellungsantrag hat das Landgericht aufgrund des jungen Alters des Klägers und der Probleme, die der Einsatz einer Prothetik üblicherweise mit sich bringt (insbesondere zu erwartende weitere Operationen) in Höhe des Haftungsanteils von 25 % für begründet erachtet.

Hiergegen wenden sich die Beklagten mit der Berufung, mit der sie die Abweisung der Klage verfolgen. Der Unfall sei für den Beklagten zu 2) unvermeidbar gewesen, eine Betriebsgefahr des Fahrzeuges der Beklagten dürfe bei der Haftungsabwägung daher nicht berücksichtigt werden. Das Landgericht habe zu Unrecht das in § 1 Abs. 2 StVO normierte allgemeine Rücksichtnahmegebot für die Haftung der Beklagten herangezogen. Entgegen der Auffassung des Landgerichts habe der Beklagte zu 2) den Abbiegevorgang mit der notwendigen Sorgfalt vorgenommen. Zu Unrecht vertrete das Landgericht allein unter Betrachtung und Würdigung der in der Akte befindlichen Lichtbilder zur Unfallörtlichkeit die Auffassung, der Beklagte zu 2) hätte bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt den Kläger so rechtzeitig erkennen und sein Fahrverhalten darauf einstellen können, dass der Unfall hätte verhindert werden können. Jedenfalls aber sei diese Annahme nicht ohne weitere Beweisaufnahme, insbesondere durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Örtlichkeit, haltbar. Denn aus der Position des Beklagten zu 2) sei es zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen, den rechts gelegenen Gehweg einzusehen und den Kläger heran kommen zu sehen, weswegen ihm eine unfallverhütende Reaktion nicht mehr möglich gewesen sei. Hinsichtlich der Höhe des Schmerzensgeldes habe das Landgericht sicher alle zur Bemessung heranzuziehenden Kriterien zutreffend berücksichtigt, allerdings sei unter Bewertung des Mitverschuldens, welches schmerzensgeldmindernd zu berücksichtigen wäre, allenfalls ein Betrag von 5.000,00 € unter Abzug des bislang von der Beklagten zu 1) gezahlten Betrages angemessen.

Die Beklagten beantragen,
das Urteil des Landgerichts Kiel vom 21.4.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Der Senat hat ein Sachverständigengutachten zu der Behauptung der Beklagten, der Unfall sei für den Beklagten zu 2) unvermeidbar gewesen, eingeholt. Der Sachverständige hat alle Tatsachen zusammengetragen und die vorhandenen Spuren ausgewertet. Wegen des Inhalts wird auf das Gutachten des Sachverständigen M. vom 15.04.2024 und die Ergänzungen im Termin am 15.10 2024 Bezug genommen.

II.

Die statthafte und auch im übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Gemäß § 513 ZPO kann eine Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen. Beides liegt für die Berufung der Beklagten nicht vor.

Das Landgericht ist im Ergebnis zu Recht von einer 25%igen Mithaftung der Beklagten ausgegangen und hat sie entsprechend dieser Quote zur Zahlung verurteilt sowie dem entsprechenden Feststellungsantrag stattgegeben.

Dem Kläger steht gegen die Beklagten über die bereits geleistete Zahlung von 2.300,00 Euro hinaus der durch das Landgericht ausgeurteilte Anspruch auf Ersatz seines materiellen Schadens in Höhe von 110 Euro und Schmerzensgeld in Höhe von weiteren 7.700,00 Euro, damit insgesamt 7.810,00 Euro, gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG, 115 VVG zu.

1. Die Beklagten haften gemäß §§ 7, 9 StVG, § 254 BGB zu 25 % für die Folgen des Unfalls, weil der Kläger beim Betrieb des bei der Beklagten zu 1) versicherten und von dem Beklagten zu 2) gehaltenen und geführten Kraftfahrzeugs verletzt worden ist und den Beklagten zu 2) eine Mitschuld an dem Unfall trifft. Höhere Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG liegt nicht vor.

Der Umfang der jeweiligen Ersatzpflicht für die unfallbedingten Schäden des anderen Unfallbeteiligten hängt insoweit vom Gewicht der beiderseitigen Mitverursachungsanteile ab (§ 9 StVG i.V.m. § 254 BGB). Gemäß § 9 StVG findet die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätzen. In die Abwägung sind alle, aber auch nur diejenigen unstreitigen oder erwiesenen Faktoren einzubeziehen, die eingetreten sind, zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und einem der Beteiligten zuzurechnen sind (BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, juris, Rn. 15). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben. Hierbei kann eine Abwägung zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruches führen, wenn das Verschulden des Geschädigten derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 13. Februar 2014, 4 U 59/13, juris Rn. 24-26).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze ist die vom Landgericht ausgeurteilte Haftungsquote nicht zu beanstanden.

a) Zunächst muss sich der Kläger - wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat - wegen seines grob fahrlässigen Verstoßes gemäß § 9 StVG i. V. m. § 254 BGB ein erhebliches unfallursächliches Verschulden entgegenhalten lassen. Der Kläger hat grob fahrlässig seine Pflichten aus § 10 StVO verletzt, als er mit seinem Fahrrad, mit welchem er zuvor verbotswidrig den mit dem Zeichen 239 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO beschilderten Gehweg befuhr, zum Überqueren der Schulstraße über den abgesenkten Bordstein auf die Straße einfuhr, ohne seiner Wartepflicht nachzukommen.

b) Dem Beklagten zu 2) kann zwar kein kausaler Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO oder § 8 Abs. 1 StVO vorgeworfen werden. Allerdings ist ihm nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO vorzuwerfen, da er bei gehöriger Sorgfalt den Radfahrer rechtzeitig hätte erkennen können. Ein Rücktritt der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges hinter den Verursachungsbeitrag des Klägers kommt nicht in Betracht.

(1) Gemäß § 9 Abs. 3 S. 1 StVO hat der rechts Abbiegende dem auf oder neben der Fahrbahn in gleiche Richtung fahrenden Radfahrer Vorrang einzuräumen. Dies gilt auch, wenn der Radfahrer einen Radweg, einen kombinierten Geh- und Radweg oder einen für Radfahrer freigegebenen Gehweg (Zeichen 239 mit dem Zusatzzeichen 1022-10) benutzt. Da der Kläger den für Radfahrer nicht freigegebenen Gehweg befuhr, kann er diesen Vorrang jedoch nicht für sich in Anspruch nehmen. Dem Beklagten kann insoweit kein Verstoß vorgeworfen werden.

Gleiches gilt für einen etwaigen Verstoß gegen die Rückschaupflicht aus § 9 Abs. 1 S. 4 StVG. Gemäß § 9 Abs. 1 S. 4 StVO muss, wer abbiegen will, vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr achten (doppelte Rückschaupflicht). Parallel zum Fahrbahnrand verlaufende Rad- und Gehwege muss er im Auge behalten und den Nachfolgenden Vorfahrt gewähren. Der Kläger kann für sich diesen „Vorfahrtsvorrang“ jedoch nicht in Anspruch nehmen, da er als Radfahrer verbotswidrig den parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg befahren hat. Ihm ist der Schutzbereich des § 9 Abs. 1 S. 4 StVO wegen seines eigenen Verstoßes gegen § 2 Abs. 1, Abs. 5 StVO verwehrt. Von § 9 Abs. 1 S. 4 StVO wird nur der berechtigte nachfolgende Verkehr geschützt.

Auch ist dem Beklagten zu 2) kein Vorfahrtsverstoß i.S.d. § 8 Abs. 1 StVO anzulasten. Danach hat an Kreuzungen und Einmündungen derjenige Vorfahrt, der von rechts kommt. Der Kläger, welcher aus der Sicht des Beklagten zu 2) zwar von hinten rechts angefahren kam, befuhr jedoch verbotswidrig den mit dem Zeichen 239 versehenen Gehweg und über einen abgesenkten Bordstein die Einmündung, so dass er auch insoweit für sich keinen entsprechenden Vorrang in Anspruch nehmen durfte.

(2) Den Beklagten zu 2) trifft allerdings die Pflicht aus § 1 Abs. 2 StVO, wonach sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten hat, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt wird (allgemeines Rücksichtnahmegebot und Gefährdungsverbot im Straßenverkehr). Diese Pflicht beinhaltet, sich bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt unfallverhütend zu verhalten, also gegebenenfalls abzubremsen, um eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer (hier des radfahrenden Klägers) zu vermeiden. Gegen diese Pflicht hat der Beklagte zu 2) schuldhaft verstoßen. Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens steht fest, dass der Unfall für den Beklagten zu 2) in allen Varianten technisch/räumlich bzw. zeitlich vermeidbar war.

Der Sachverständige Dipl.-Ing. M. hat ausgeführt, dass eine gänzliche Rekonstruktion des Unfallhergangs insbesondere zur Kollisionsstellung aufgrund nicht dokumentierter Schäden am Fahrrad und nicht ausreichend dokumentierter Schäden am VW Caddy technisch zweifellos nicht mehr möglich war. Geeignete Crashtests für die genaue Festlegung der Kollisionsgeschwindigkeiten waren in den Crashdatenbanken nach Auskunft des Sachverständigen nicht zu finden. Aufgrund der langen Auslaufwegstrecke des Beklagtenfahrzeugs von rund 15,3 m hat der Sachverständige die Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs in einer Bandbreite von 10-20 km/h geschätzt. Für den Radfahrer wurden in den geprüften Varianten jeweils die von den Parteien angegebenen Geschwindigkeiten von 10 km/h (Klägervortrag) und 25-30 km/h (Beklagtenvortrag) zugrunde gelegt, wobei der Sachverständige bei seinen Berechnungen nach oben hin einen Mittelwert von 27,5 km/h angenommen hat. Hieraus ergab sich für den Kläger eine geschätzte Kollisionsgeschwindigkeit in einer Bandbreite von 10-27,5 km/h. Anhand der vorliegenden Lichtbilder unter Betrachtung von Referenzfahrzeugen sowie der Angaben der Parteien zur Geschwindigkeit von PKW und Fahrrad konnte der Sachverständige in vier Varianten die Frage der Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit aus Sicht des Beklagten prüfen. Er hat ausgeführt, dass es für den Beklagten zu 2) in sämtlichen Varianten jeweils durch rechtzeitigen Blick über die Schulter nach rechts durch die Windschutzscheibe und die Seitenfenster auf der Beifahrerseite unmittelbar vor dem Abbiegen räumlich und zeitlich möglich gewesen wäre, den Kläger rechtzeitig wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren.

Die Ausführungen des Sachverständigen zur Sichtmöglichkeit des Beklagten zu 2) im Bereich der Einmündung und seine Schlussfolgerungen sind eine überzeugende Grundlage für den Senat. Der Sachverständige verfügt über eine langjährige berufliche Erfahrung als Diplom-Ingenieur für Fahrzeugtechnik und Gutachter für Verkehrsunfallrekonstruktion sowie als gerichtlicher Sachverständiger. Seine Aussagen hat er aufgrund sorgfältiger Auswertung der tatsächlichen Grundlagen und unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände getroffen. Umfassend hat er die örtlichen Gegebenheiten ausgewertet, die möglichen Sichtbehinderungen von Hecken, Sträuchern und Zaunelementen auch unter Beachtung der jahreszeitlichen Vegetation berücksichtigt. Insbesondere anhand der dem Gutachten beigefügten Lichtbilder ist die Einschätzung des Sachverständigen für den Senat nachvollziehbar. Den jeweils von den Parteien geschilderten Unfallhergang hat der Sachverständige rechnerisch analysiert. Dabei hat er auch die unterschiedlichen Geschwindigkeitsangaben der Parteien, den Kollisionsort und -winkel unter Zuhilfenahme der Schadenszuordnung und dokumentierten Spuren am Unfallort, sowie die Endposition des PKW des Beklagten zu 2) berücksichtigt, mit dem Ergebnis, dass der radfahrende Kläger für den Beklagten zu 2) bei jedem durch die Parteien vorgetragenen Unfallszenario im Einmündungsbereich vor dem Abbiegen durch Seitenblick sichtbar gewesen ist. Seine Ausführungen hat der Sachverständige überzeugend und anschaulich mithilfe von Skizzen und Abbildungen dargestellt.

Der von dem Sachverständigen aus technischer Sicht als erforderlich geschilderte Schulterblick durch die rechte Seitenscheibe des Caddys war auch rechtlich aus Gründen des Rücksichtsnahmegebots zur Unfallverhütung geboten und zumutbar. Ein solcher Schulterblick erfordert die Drehung des Kopfes zur Seite, um den Blick über die Schulter zu richten. Nach den ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen in Termin wäre ein solches Vorgehen ausreichend aber auch erforderlich gewesen, um durch die Seitenscheibe des PKW schauen zu können und den Unfall - zumindest zeitlich - zu vermeiden. Eine unzumutbare Verrenkung, wie von Beklagtenseite im Termin behauptet, erforderte der Schulterblick nicht, zumal auch der gesamte Einmündungsbereich für den Autofahrer jederzeit wegen des weiten Sichtwinkels einsehbar war. Der ortskundige Beklagte zu 2) wusste als Taxifahrer, dass sich in der Ecke H.-weg/S.-straße eine Schule mit Schulhof befand und beim Abbiegen bereits deshalb besondere Vorsicht geboten war.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats auch fest, dass der Beklagte zu 2) bei jeder der von dem Sachverständigen geprüften Unfallversionen den Unfall hätte durch rechtzeitiges Bremsen verhindern können. Der Sachverständige hat eine angemessene (Brems-) Reaktionszeit und Bremsverzögerung zwischen 6,5 und 7,2 m/s² zugrunde gelegt. Nachvollziehbar hat er aus der ermittelten Anstoßgeschwindigkeit des PKW und dem Umstand, dass der Kläger überfahren und nicht weggestoßen wurde, die Geschwindigkeit des Beklagten zu 2) auf 10 bis 20 km/h ermittelt. Mit dieser Geschwindigkeit wäre es dem Beklagten zu 2) möglich gewesen, eine rechtzeitige Gefahrenbremsung einzuleiten. Der Unfall wäre in allen vier Varianten vermeidbar gewesen.

(3) Die Haftung des Beklagten zu 2) ist auch nicht allein wegen des groben Pflichtverstoßes des Klägers gänzlich ausgeschlossen. Rechtsabbiegende Autofahrer müssen damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Straße, in die eingebogen werden soll, queren, wobei auch damit zu rechnen ist, dass Radfahrer dabei Fußwege benutzen (bei Kindern bis zehn Jahren wäre dies sogar erlaubt) und die Wartepflicht am abgesenkten Bordstein nicht einhalten (vgl. auch Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 27.01.1989, RReg 2 St 276/88, juris Rn. 7). Allerdings steht dem Verschuldensanteil des PKW-Fahrers in einem solchen Fall ein grob verkehrswidriges Verhalten des Radfahrers gegenüber, was bei der Abwägung der jeweiligen Verursachungs- bzw. Verschuldensanteile zu berücksichtigen ist. Da den Beklagten ein kausaler Pflichtverstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO anzulasten ist, ist hier von einer gesteigerten Betriebsgefahr auszugehen.

Aus der Abwägung der jeweiligen Verursachungs- bzw. Verschuldensanteile ergibt sich infolge des grob fahrlässigen Verstoßes des Klägers und des demgegenüber eher leichten Verstoßes des Beklagten zu 2) unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr eine Haftungsquote von 25 % zulasten der Beklagten.

2. Schadenshöhe

a) Materieller Schaden

Die durch das Landgericht festgestellte Höhe des materiellen Schadens (270 Euro für das Fahrrad, 150 Euro für die Oberbekleidung und einer Kostenpauschale von 20 Euro) wird mit der Berufung nicht angegriffen. Nach der vorgenannten Haftungsquote steht dem Kläger ein Ersatz in Höhe von 110 Euro zu.

b) Immaterieller Schaden

In Übereinstimmung mit dem Landgericht, auf dessen Urteil ergänzend gemäß § 543 Abs. 1 ZPO Bezug genommen wird, hält der Senat ein Schmerzensgeld i.H.v. insgesamt 10.000 Euro für angemessen, aber auch ausreichend. Nach Abzug der bereits gezahlten Summe von 2.300,00 Euro steht dem Kläger noch ein Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 7.700,00 Euro gemäß §§ 11 S. 2 StVG, 253, 254 BGB § 287 ZPO zu.

Maßgebliche und allgemein anerkannte Kriterien der Bemessung des Schmerzensgeldes sind die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion. Dem Verletzten soll in erster Linie ein Ausgleich für die erlittenen Schmerzen und die entgangene Lebensfreude zukommen. Außerdem soll ihm Genugtuung dafür verschafft werden, was ihm der Schädiger angetan hat (BGH NJW 1993, 781, 782; BGH NJW 1976, 1147, 1148). Bei verkehrsbedingten Unfallverletzungen steht die Ausgleichspflicht ganz im Vordergrund. Da die Entschädigung im wohl verstandenen Sinne „billig“ sein soll, sind alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Von besonderem Gewicht sind hierbei das Ausmaß, die Schwere und die Dauer der körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Anerkannt ist ferner, dass bereits ergangene Urteile für vergleichbare Fälle, darunter auch die Schmerzensgeldtabellen, als Orientierungsrahmen herangezogen werden können. Schließlich sind Verursachungsbeiträge und Mitverschulden zu berücksichtigen.

Das Landgericht hat nach diesen Grundsätzen zutreffend und umfassend die zur Bemessung der Höhe heranzuziehenden Kriterien, insbesondere die erheblichen Verletzungen des noch verhältnismäßig jungen Klägers (geborenen am 04.02.2001), die umfassende und langwierige medizinische Versorgung mit mehrfachen stationären Aufenthalten und dem Einsatz einer künstlichen Hüfte berücksichtigt. Zutreffend hat das Landgericht auch vergleichbare Verletzungsfälle herangezogen und die Entschädigungshöhen als Orientierung genutzt (z.B. OLG Stuttgart, Urteil vom 21. Oktober 2009, 3 U 86/09, juris; OLG Oldenburg, Urteil vom 16. Dezember 2021, 14 U 32/21, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 16. August 2001, 3 U 160/00, juris, wegen höherem Mitverschuldensanteil des Geschädigten 66 %: 50.000,00 DM). Insbesondere hat das Landgericht dabei den hohen Mitverschuldensanteil des geschädigten Klägers berücksichtigt. Der Kläger hat den streitgegenständlichen Verkehrsunfall zu 75 % selbst verschuldet. In Übereinstimmung mit dem Landgericht ist nach Abwägung aller Gesamtumstände ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 € angemessen, aber auch ausreichend.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 BGB.

2. Den Feststellungsantrag hat das Landgericht gemäß § 256 ZPO zutreffend aufgrund des jungen Alters des mittlerweile 23-jährigen Klägers und den üblicherweise zu erwartenden Problemen, die der Einsatz der Hüftprothese zukünftig mit sich bringen wird (weitere Operationen dürften zu erwarten sein) für zulässig und in Höhe des Haftungsanteils von 25 % für begründet erachtet.

Ein Feststellungsantrag ist bereits dann zulässig, wenn die bloße Möglichkeit eines künftigen Schadenseintritts besteht. Es reicht bei der Verletzung eines absoluten Rechtsguts aus, wenn künftige Schadensfolgen (wenn auch nur entfernt) möglich, ihre Art und ihr Umfang, sogar ihr Eintritt aber noch ungewiss sind. Ob darüber hinaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu verlangen ist, kann offenbleiben (OLG Schleswig, Urteil vom 14.09.2017, 7 U 17/14, juris Rn. 40).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Der Schwerpunkt des Falls liegt in den tatsächlichen Feststellungen.


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