Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Celle, Beschl. v. 15.11.2024 - 1 AR 29/24
Leitsatz des Gerichts mit Ergänzungen/Änderungen:
1. Der Vergleichsmaßstab für die Prüfung eines besonderen Verfahrensumfangs gemäß § 51 RVG ist ausnahmsweise ein durchschnittliches Verfahren aus dem gesamten Spektrum aller erstinstanzlichen Verfahren, wenn ein Staatsschutzverfahren bereits im ersten Hauptverhandlungstermin eingestellt worden ist.
2. Zur Erforderlichkeit einer (ausreichenden) Begründung des Pauschgebührantrags.
Oberlandesgericht Celle
Beschluss
1 AR 29/24
In der Strafsache
gegen pp.
wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf den Antrag des Verteidigers Rechtsanwalt pp. vom 26. August 2024 nach Anhörung der Vertreterin der Landeskasse am 15. November 2024 beschlossen:
Dem Antragsteller wird über die Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis hinaus für die Verteidigung des Angeklagten eine Pauschvergütung in Höhe 636 Euro zzgl. Umsatzsteuer bewilligt.
Gründe:
Dem Antragsteller war auf seinen - unbezifferten - Antrag gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG eine Pauschgebühr zu bewilligen, weil die gesetzlichen Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis wegen des besonderen Umfangs der vorliegenden Strafsache unzumutbar sind.
1. Nach der Rechtsprechung des Senats ist eine Strafsache besonders umfangreich im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz1 RVG, wenn der vom Verteidiger hierfür erbrachte zeitliche Aufwand erheblich über dem Zeitaufwand liegt, den er in einer "normalen" Sache zu erbringen hat (OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2011 – 1 ARs 84/10 P –, juris). Allerdings stellt die Bewilligung einer Pauschgebühr die Ausnahme dar; die anwaltliche Mühewaltung muss sich deshalb bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls von sonstigen – auch überdurchschnittlichen Sachen – in exorbitanter Weise abheben (BGH, Beschluss vom 1. Juni 2015 - 4 StR 267/11, NJW 2015, 2437). Entscheidendes Kriterium ist dabei das Gesamtgepräge des Verfahrens (OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2011 – 1 ARs 84/10 P –, juris).
2. Hieran gemessen liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG vor.
Das vorliegende Verfahren ist wesentlich dadurch geprägt, dass das Verfahren bereits im ersten und einzigen Hauptverhandlungstermin vorläufig eingestellt worden ist. Der Schwerpunkt des vom Antragsteller erbrachten Arbeitsaufwandes lag deshalb in der Einarbeitung und in der Verfahrensbearbeitung außerhalb der Hauptverhandlung. Dies hat zur Folge, dass zur Prüfung eines besonderen Umfangs der Sache und eines besonderen Arbeitsaufwandes des Verteidigers ausnahmsweise nicht auf einen Vergleich mit anderen Staatsschutzverfahren abgestellt werden kann. Denn diese sind üblicherweise durch eine große Anzahl an Sitzungstagen geprägt. In solchen Verfahren schlagen sich regelmäßig ein besonderer Einarbeitungsaufwand, die Komplexität des Verfahrens sowie der Umfang der Akten gerade in der Anzahl und Dauer der Hauptverhandlungstage nieder und führen dadurch zumindest mittelbar zu einer höheren Vergütung des Verteidigers (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 7. März 2024 – 2 ARs 10/22 –, Rn. 19, juris). Dies wirkt sich umso mehr aus, als die Terminsgebühr für den Pflichtverteidiger in Staatsschutzverfahren (Nr. 4120 VV RVG) deutlich höher ist als in gewöhnlichen Verfahren vor der Strafkammer (Nr. 4114 VV RVG).
Im vorliegenden Ausnahmefall findet der typischerweise größere Umfang von Staatsschutzverfahren demgegenüber in den gesetzlichen Gebühren kaum Berücksichtigung, weil nur eine einzige Terminsgebühr entstanden ist und die Tätigkeit des Antragstellers ganz überwiegend im Anwendungsbereich der Grundgebühr und der Verfahrensgebühren erfolgt ist. Die Höhe der Grundgebühr (Nr. 4100 VV RVG) und der Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren (Nr. 4104 VV RVG) unterscheidet sich in Staatsschutzverfahren indes nicht von anderen Strafverfahren, selbst wenn diese letztlich vor dem Strafrichter verhandelt werden. Die Verfahrensgebühr für das gerichtliche Verfahren ist in Staatsschutzsachen (Nr. 4118 VV RVG) zwar mehr als doppelt so hoch als in Verfahren vor dem Amtsgericht (Nr. 4106 VV RVG) und in gewöhnlichen Strafkammerverfahren (Nr. 4112 VV RVG). Der absolute Unterschied liegt aber bei lediglich bei rund 200 Euro. Er bildet deshalb ersichtlich nicht den für Staatsschutzverfahren typischen Aufwand für das Studium umfangreicher Akten ab (vgl. BT-Drs. 15/1971, S. 201).
Daraus folgt, dass im vorliegenden Verfahren – das durch die Tätigkeit vor der Hauptverhandlung geprägt ist – für die Prüfung gemäß § 51 Abs. 1 RVG als Vergleichsmaßstab ausnahmsweise nicht der Umfang eines typischen Staatsschutzverfahrens herangezogen werden kann, sondern dieses Verfahren mit einem durchschnittlichen Verfahren aus dem gesamten Spektrum aller erstinstanzlichen Verfahren einschließlich solcher vor dem Amtsgericht verglichen werden muss.
Angesichts der mehr als 70-seitigen Anklageschrift, der beträchtlichen Anzahl an Aktenbänden und der Einschätzung des Vorsitzenden der Staatsschutzkammer zum Verfahrensumfang steht dabei außer Frage, dass sich das vorliegende Verfahren nach diesem Maßstab exorbitant von durchschnittlichen Verfahren abhebt und besonders umfangreich war. Die gesetzlichen Gebühren erweisen sich in Anbetracht des Verfahrensumfangs als unzumutbar niedrig.
3. Mit der bewilligten Pauschgebühr von 636 Euro wird der gesetzliche Gebührenanspruch im Ergebnis um den Betrag erhöht, mit dem nach dem gesetzlichen Vergütungsverzeichnis ein zusätzlicher Arbeitstag des Verteidigers im Rahmen einer Hauptverhandlung vergütet würde (Nr. 4120, 4122 VV RVG a. F.). Damit ist zumindest das Durcharbeiten der umfangreichen Anklageschrift sowie die grobe Sichtung der Akten angemessen abgegolten.
Der Bewilligung eines höheren Pauschbetrages, namentlich zur Abgeltung eines intensiven Studiums der Verfahrensakten, kam hingegen nicht in Betracht. Denn dies hätte nähere Darlegungen des Antragstellers dazu erfordert, welche Teile der Nebenakten nach Sichtprüfung zur Vorbereitung einer ordnungsgemäßen Verteidigung genauer studiert werden mussten (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31. Mai 2016 – III-3 AR 118/16 –, juris; Burhoff in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, § 51 RVG, Rn. 70 m.w.N.). Der Antragsteller hat jedoch trotz des diesbezüglichen Hinweises in der Stellungnahme der Bezirksrevisorin keine substantiierten Angaben hierzu gemacht, sondern ausdrücklich von einer ausführlichen sachlichen Auseinandersetzung mit der Stellungnahme abgesehen. Seine vorgelegte Zeitübersicht kann solche Darlegungen nicht ersetzen. Denn sie betrifft nur rund 1370 Minuten und damit lediglich einen Bruchteil des vom Antragsteller angegebenen Gesamtaufwandes von rund 70 Stunden, insbesondere die wiederholte „Postbearbeitung“. Die Übersicht passt zudem nicht zum Antragsvorbringen, wonach diese 1370 Minuten „den eher organisatorischen Teil“ betreffen sollen und daneben weitere 10 Stunden für Kommunikation unter anderem mit dem Mandanten angefallen sein sollen, denn in der Übersicht findet sich auch der Aufwand für ein langes Mandantengespräch. Die Übersicht stellt deshalb keine taugliche Grundlage für eine tragfähige Einschätzung des zum Aktenstudium erforderlichen Aufwandes dar.
Bei der Bemessung der Pauschgebühr konnte deshalb nur der Aufwand berücksichtigt werden, der sich ohne weiteres bereits aus der Verfahrensakte erschließt; dem Gericht obliegt es nicht, nach tatsächlichen Anhaltspunkten für den Arbeitsaufwand des Anwalts in den Sachakten zu suchen oder hierüber zu mutmaßen (OLG Koblenz, Beschluss vom 12. März 2012 – 1 AR 43/11 –, juris).
4. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 51 Abs. 2 Satz 1 RVG).
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