Gericht / Entscheidungsdatum: LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 - 21 Qs 80/24
Leitsatz:
1. Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig.
2. Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen. Daher hindert die Rechtskraft eines Beschlusses mit dem eine Bestellungsantrag des Beschuldigten (zunächst) abgewiesen worden ist, nicht die spätere Beiordnung auf Antrag eines (Wahl)Verteidigers.
In pp.
Verteidiger:
wegen Sachbeschädigung
hat die 1. große Strafkammer - Beschwerdekammer - des Landgerichts Magdeburg durch die unterzeichnenden Richter am 21. November 2024 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird ihm unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Magdeburg vom 16.10.2024 Rechtsanwalt pp. aus Braunschweig als Pflichtverteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten hierbei entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe:
I.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem vorbestrafen Angeklagten vor, eine Sachbeschädigung am 10.04.2024 in Magdeburg begangen zu haben. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht Magdeburg den Strafbefehl vom 30.07.2024 (14 Cs 742 Js 23807/24 (404/24)) erlassen.
Konkret wird ihm vorgeworfen, an dem betreffenden Tag gegen 20:15 Uhr die Wohnung der Zeugin J. B. aufgesucht zu haben und aus Verärgerung darüber, dass die Zeugin ihm nicht die Tür geöffnet habe, eine Bierflasche gegen die Tür des Mehrfamilienhauses geworfen zu haben.
Das Amtsgericht Magdeburg (14 Ds 377 Js 36906/20 (556/22)) hat den Angeklagten am 08.01.2024 in einem anderen Verfahren zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr verurteilt (Einzelstrafen: acht Monate Freiheitsstrafe und sechs Monate Freiheitsstrafe). Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit Schriftsatz vom 15.01.2024 Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren ist derzeit bei der 8. kleinen Strafkammer des Landgerichts Magdeburg anhängig (28 NBs 377 Js 36906/20 (39/24)).
Mit Schriftsatz vom 25.04.2024 zeigte Herr Rechtsanwalt pp. an, dass er den Angeklagten verteidigt. Mit selben Schriftsatz beantragte der Verteidiger für den Angeklagten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und erklärte, im Falle der Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen.
Mit Beschluss vom 31.05.2024 (Az.: 5 Gs 742 Js 23807/24 (852/24)), dem Angeklagten am 05.06.2024 per Postzustellungsurkunde zugestellt, wies das Amtsgericht Magdeburg den Antrag zurück.
Mit Schriftsatz vom 13.06.2024, eingegangen bei Gericht per EGVP am selbigen Tage, legte der Verteidiger für den Angeklagten die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Magdeburg ein. Zur Begründung führte der Verteidiger aus, dass eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit vorliege. Wenn bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung eine Gesamtfreiheitstrafe von über einem Jahr drohe, sei ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.
Mit Beschluss vom 16.07.2024 hat die 5. große Strafkammer des Landgerichts Magdeburg die sofortige Beschwerde des Angeklagten als unzulässig verworfen, da sie gemäß § 311 Abs. 2 StPO verfristet war.
Gegen den Strafbefehl vorn 30.07.2024 des Amtsgerichts Magdeburg legte der Verteidiger mit Schriftsatz vorn 04.09.2024 für den Angeklagten Einspruch ein. Mit dem selben Schriftsatz beantragte der Verteidiger erneut für den Angeklagten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und erklärte, im Falle der Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen.
Mit Beschluss vom 16.10.2024, dem Angeklagten per Postzustellungsurkunde am 24.10.2024 zugestellt, wies das Amtsgericht Magdeburg den Antrag des Angeklagten zurück. Der erneute Antrag sei unzulässig. Nach Eintritt der Rechtskraft der ablehnenden Entscheidung des zunächst gestellten Antrags sei ein wiederholter Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht möglich.
Gegen diesen Beschluss legte der Verteidiger für den Angeklagten mit Schriftsatz vorn 28.10.2024, eingegangen bei Gericht per EGVP am selbigen Tage, sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung verweist der Verteidiger erneut auf die potentielle Gesamtstrafenfähigkeit. Zudem sei der neue Antrag nicht unzulässig, denn das Landgericht Magdeburg habe die Sache selbst nicht entschieden, sondern lediglich über eine verfristete Beschwerde.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
1. Die Beschwerde ist gemäß § 142 Abs. 7 StPO statthaft. Dem steht nicht stets entgegen, dass ein Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers bereits rechtskräftig abgelehnt wurde (BGH, Beschluss vom 21.04.2021 — StB 17/21, NJW 2021, 1894; OLG Hamm, Beschluss vom 21.06.2022 — 5 Ws 118/22, BeckRS 2022, 16685). Die sofortige Beschwerde wurde zudem form- und fristgerecht gemäß §§ 306, 311 StPO eingelegt.
2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.
a) Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor. Dem Angeklagten droht eine Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr.
Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge es von bloßen Zufälligkeiten, nämlich der Frage, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, ab, ob dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist (OLG Naumburg, Urteil vom 22.05.2013, Az. 2 Ss 65/13, BeckRS 2013, 10548; KG, Beschluss vom 06.01.2017, Az. 4 Ws 212/16, BeckRS 2017, 106064).
Es besteht eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit mit dem ihm in dem anhängigen Berufungsverfahren drohenden Einzelstrafen. Eine nachträgliche Gesamtstrafe ist gemäß § 55 StPO zu bilden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Diese Möglichkeit ist hier gegeben. Maßgeblicher Zeitpunkt dafür, ob und wann früher eine Gesamtstrafenbildung möglich gewesen wäre, ist der des Urteils eines deutschen Gerichts. Das kann auch ein Berufungsurteil sein (BeckOK StGB/von Heintschel-Heinegg, 62. Ed. 1.8.2024, StGB, § 55 Rn. 7). Die in diesem Verfahren streitgegenständliche Tat soll der Angeklagte am 10.04.2024 begangen haben und mithin vor dem noch ausstehenden Berufungsurteil des Landgerichts Magdeburg, denn das Berufungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
Die dem Angeklagten drohende Gesamtfreiheitstrafe übersteigt zudem auch ein Jahr. Bereits die Einsatzstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Magdeburg ist mit acht Monaten nahe an einer Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr. Hinzu kommt die weitere Einzelstrafe in Höhe von sechs Monaten. Obgleich das Urteil des Amtsgerichts Magdeburg bezüglich des Angeklagten noch nicht rechtskräftig ist, sind die bereits ausgesprochenen Freiheitsstrafen bei Abschätzung der drohenden Gesamtfreiheitsstrafe als Maßstab zu berücksichtigen. Selbst wenn der Angeklagte im hiesigen Verfahren nur zu einer Geldstrafe verurteilt werden sollte, droht dennoch eine Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von mehr als einem Jahr. Bereits das Amtsgericht Magdeburg hat bei der Bildung der Gesamtstrafe eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr ausgesprochen.
Es kann zudem dahinstehen, ob die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Falle des Vorliegens gesamtstrafenfähiger Parallelverfahren in Einzelfällen zu verneinen sein kann, wenn lediglich ein geringfügiges Delikt in Rede steht, dessen zu erwartende Einzelstrafe die später zu bildende Gesamtstrafe nicht erheblich erhöhen würde (in diesem Sinne OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012, Az. 2 Ws 37/12
b) Der Pflichtverteidigerbeiordnung steht auch nicht der vorangegangene rechtskräftige Beschluss des Amtsgericht Magdeburg vom 31.05.2024 entgegen.
Dem Angeklagten ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 StPO zwingend ein Pflichtverteidiger beizuordnen, um dem Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren zu genügen.
Die Rechtskraft hindert die Pflichtverteidigerbeiordnung nicht, denn diese hat vom Amts wegen zu erfolgen. Ein Antrag ist hierfür nicht notwendig. Auch ohne Antrag des Angeklagten wird dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Pflichtverteidiger beigeordnet. Der Antrag eines Verteidigers hat gemäß § 141 StPO hierbei nur Einfluss auf den Zeitpunkt der Beiordnung. Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten zudem, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen, wenn sich erst später (nach Anklageerhebung) ergibt, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist.
Wenn ein Antrag für die Pflichtverteidigerbeiordnung nicht notwendig ist, so kann auch ein rechtskräftiger Beschluss eine notwendige Pflichtverteidigerbeiordnung nicht verhindern.
Zudem beinhaltet der rechtskräftige Beschluss des Amtsgerichts Magdeburg keine Auseinandersetzung mit dem Problem der potentiellen Gesamtstrafenbildung. Das Amtsgericht hat sich mit diesem Argument nicht auseinandergesetzt. Es war im Übrigen vom Angeklagten auch nicht vorgetragen. Das Landgericht Magdeburg musste sich mit dem damals erstmalig vorgetragenen Argument der potentiellen Gesamtstrafenbildung aufgrund des verfristeten Rechtsmittels erst gar nicht auseinandersetzen.
Gegen diese Beurteilung sprechen auch nicht die Beschlüsse des Bundesgerichtshofes (BGH, Beschluss vom 21.04.2021 — StB 17/21, NJW 2021, 1894) und des Oberlandesgerichts Hamm (OLG Hamm, Beschluss vom 21.06.2022 — 5 Ws 118/22, BeckRS 2022, 16685), welches die Argumente des Bundesgerichtshofes im Wesentlichen wiederholt. Dem Beschluss des Bundesgerichtshofes liegt ein Sachverhalt zu Grunde, bei dem es um einen Antrag auf Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers ging. Dem Angeklagten war in dem dortigen Verfahren bereits ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Dies ist in dem hiesigen Verfahren indes nicht der Fall, da dem Angeklagten noch gar kein Pflichtverteidiger beigeordnet wurde.
3. Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus einer analogen Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig
Anmerkung:
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