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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit, Unverzüglichkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Halle, Beschl. v. 16.10.2024 - 3 Qs 101/24

Eigener Leitsatz:

1. Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.
2. Zur Frage der unverzüglichen Vorlage der Akten.


3 Qs 101/24

In dem vormaligen Ermittlungsverfahren
gegen pp.

hat die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Halle als Beschwerdekammer durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht zur, den Richter am Landgericht und die Richterin am Landgericht am 16.10.2024 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des früheren Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Naumburg vorn 06.09.2024 (Az.: 9 Gs 615 Js 209018/24 (426/24)) aufgehoben.
Dem früheren Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt; § 140 StPO.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg führte gegen den ehemaligen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen eines Verdachts des Wohnungseinbruchsdiebstahls unter dem Aktenzeichen 615 Js 209018/24.

Mit Übersendung einer Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung vom 24.07.2024 wurde dem ehemals Beschuldigten durch die ermittelnde Polizeibehörde der Tatvorwurf bekanntgegeben.

Mit anwaltlichem Faxschreiben vom 30.07.2024, bei dem Polizeirevier in Naumburg am 31.07.2024 eingegangen, beantragte der ehemalige Beschuldigte, ihm Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen. Das Polizeirevier Naumburg übersandte am 02.08.2024 die Sachakte an die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg, wo die Akte noch am gleichen Tag einging.
Dort wurde die Akte erst am 15.08.2024 in das Register eingetragen und dem zuständigen Dezernenten vorgelegt. Eine Übersendung der Akte an den für den Beiordnungsantrag vom 30.07.2024 zuständigen Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Naumburg erfolgte insoweit (vorerst) nicht.

Mit Verfügung vom 19.08.2024 wurde vom zuständigen Dezernenten das Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Nach Aktenlage bestand offensichtlich kein hinreichender Tatverdacht.

Mittels derselben Verfügung übersandte die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg, die Sachakte an das Amtsgericht Naumburg und beantragte, den Beiordnungsantrag des Verteidigers Rechtsanwalt pp. als unbegründet abzulehnen. Die Ermittlungsakte ging am 20.08.2024 beim Amtsgericht Naumburg ein.

Mit Beschluss vom 06.09.2024 lehnte das Amtsgericht Naumburg sodann den Antrag des vormals Beschuldigten vom 30.07.2024 auf Bestellung von Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger als unbegründet ab. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung diese nun rückwirkend nicht mehr erfolgen könne, da zwischenzeitlich eine Verfahrenseinstellung erfolgt sei und die Akten noch vor Ablauf von drei Wochen nach Antragstellung beim Amtsgericht Naumburg eingegangen seien. Insoweit wurde auf Rechtsprechung der 4. großen Strafkammer (Jugendkammer) des Landgerichts Halle — welche mit der hier zur Entscheidung berufenen 3. großen Strafkammer personenidentisch besetzt ist — verwiesen, wonach das Kriterium der "unverzüglichen Vorlage" in der Regel bei Eingang der Akten bei dem für die Entscheidung zuständigen Amtsgericht binnen drei Wochen nach erstmaliger Antragstellung gegenüber der Polizei erfüllt sei.

Der Beschluss wurde dem ehemaligen Beschuldigten am 10.09.2024 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 12.09.2024, eingegangen beim Amtsgericht Naumburg am gleichen Tag legte der ehemals Beschuldigte gegen den Beschluss vom 06.09.2024 sofortige Beschwerde ein, welche er ausführlich begründete. Insbesondere verwies er auf einen Beschluss der hiesigen 3. großen Strafkammer vom 14.06.2024 (Az. 3 Qs 56/24, betreffend ebenfalls den hiesigen früheren Beschuldigten), in dem trotz Einhaltung der besagten 3-Wochen-Frist (die Akte war dort genau drei Wochen nach erstmaliger Antragstellung gegenüber der Polizei beim Amtsgericht eingegangen) eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung erfolgt sei.

Die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg beantragte, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen, und legte die Sache der Kammer zur Entscheidung vor.

Die gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO i. V. m. § 311 Abs. 2 S. 1 StPO statthafte und auch fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des ehemaligen Beschuldigten hat Erfolg. Sie ist begründet. Die Kammer teilt die Rechtsauffassung des Amtsgerichts Naumburg und der Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg im hier vorliegenden Fall nicht (wobei sie allerdings an ihrer Rechtsprechung, dass das Kriterium der "unverzüglichen Vorlage" in der Regel bei Eingang der Akten bei dem für die Entscheidung zuständigen Amtsgericht binnen drei Wochen nach erstmaliger Antragstellung gegenüber der Polizei erfüllt ist, grundsätzlich festhält).

Da das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 19.08.2024 gemäß §170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde, kommt lediglich eine rückwirkende Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger im Sinne des § 140 StPO in Betracht.

Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer (siehe beispielsweise: Az. 3 Qs 109/23) ist jedenfalls dann ausnahmsweise eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger vorzunehmen, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte (vgl. auch Landgericht Halle, Beschluss vom 06.08.2020, Az. 10a Qs 62/20).

Nur so wird der durch die Möglichkeit fehlender Vergütung entstehenden Gefahr einer unzureichenden Verteidigung eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren vor der Beiordnung entgegengewirkt und entsprechend dem Willen des Gesetzgebers die Position des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gestärkt (vergleiche: OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 - Ws 962/20, Randnummer 25, zitiert nach Juris).

Dies gilt hier insbesondere deshalb, da die Polizei den Beschuldigten zu einer Beschuldigtenvernehmung vorgeladen hatte. Dass sich ein Beschuldigter, der unter Bewährung steht und dem im Falle einer erneuten Verurteilung ein Bewährungswiderruf droht, hier an einen Verteidiger wendet, ist nur verständlich. Einem Beschuldigten in einer solchen Situation soll jedenfalls nicht eine unzureichende Verteidigung drohen, weil er nicht über die finanziellen Mittel verfügt, einen Wahlverteidiger zu bezahlen.

Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Beiordnung liegen nach den vorgenannten aufgestellten Grundsätzen im hier zu entscheidenden Fall vor:

Vorliegend wurde der mit anwaltlichem Schriftsatz vom 30.07.2024 gestellte und beim Polizeirevier Burgenlandkreis ausweislich des Faxschreibens am 31.07.2024 eingegangene Antrag des ehemaligen Beschuldigten, ihm Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen, rechtzeitig gestellt.

Zudem lag ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO
(Schwere der Rechtsfolge) vor, da der ehemals Beschuldigte im Falle einer erneuten Verurteilung mit dem Widerruf der ihm gewährten Bewährung und damit die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten gedroht hätte. Dies führt das Amtsgericht auch zutreffend in dem angefochtenen Beschluss aus.

Mithin hätten die Ermittlungsbehörden - die Polizei und die Staatsanwaltschaft - gemäß § 142 Abs. 1 StPO den Antrag vom 30.07.2024 dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Naumburg unverzüglich vorlegen müssen.

Die "Unverzüglichkeit" ist nach einer Meinung nur gewahrt, wenn durch den
Ermittlungsrichter über den Antrag innerhalb von ein bis zwei Wochen nach dessen Eingang bei den Ermittlungsbehörden entschieden werden kann (so LG Gera, Beschluss vom 10.11.2021 —11 Qs 309/21, BeckRS 2021, 40620). Ob dieser strengen Meinung zu folgen ist, kann hier dahinstehen, da nach der Rechtsprechung der Kammer jedenfalls eine Vorlage des Antrages beim zuständigen Ermittlungsrichter nach mehr als drei Wochen nicht mehr unverzüglich ist.

Zwar ist der Antrag durch die Staatsanwaltschaft nach erheblicher dort eingetretener Verzögerung (dazu s. u.) - letztendlich doch weitergeleitet worden, sodass er am 20.08.2024 und damit gerade noch kurz vor Ablauf der Drei-Wochen-Frist nach Antragstellung gegenüber der Polizei beim Amtsgericht Naumburg einging.
Im hier vorliegenden (Einzel-)Fall war dies aus Sicht der Kammer jedoch nicht mehr unverzüglich, da ein (nahezu) Ausreizen der Dreiwochenfrist dem Beschleunigungsgrundsatz im Rahmen von Pflichtverteidigerbestellungen — jedenfalls bei einer inhaltlich derart "überschaubaren" Akte wie im vorliegenden Fall —widerspricht. Die Staatsanwaltschaft hat bei Kenntnisnahme eines Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung keinen Entscheidungsspielraum, die Sache nicht unverzüglich dem zuständigen Ermittlungsrichter vorzulegen.

Das Polizeirevier Burgenlandkreis hat vorliegend die Akte nebst Antrag vorn 30.07.2024 schon mit Verfügung vom 02.08.2024, und damit zügig und auch unverzüglich, an die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg (dortiger Eingang bereits am gleichen Tag) übersandt. Von dort erfolgte eine Weiterleitung an das zuständige Amtsgericht Naumburg jedoch erst mit Verfügung vom 19.08.2024 (Eingang beim Amtsgericht dann am 20.08.2024). Diese Vorlage der Ermittlungsakte an den zuständigen Ermittlungsrichter ist jedenfalls nicht mehr unverzüglich. Diese justizinternen Vorgänge und Bearbeitungsweise der Sachakte sind nicht dem ehemals Beschuldigten anzulasten. Die Sachakte wurde 17 Tage lang von der Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg nicht an das zuständige Amtsgericht weitergeleitet (wobei für die Kammer insbesondere wenig nachvollziehbar ist, wieso die Staatsanwaltschaft allein für die dortige Eintragung der Sache 13 Tage (!) benötigte).

Folglich wurde der Antrag vorn 30.07.2024 dem zuständigen Ermittlungsrichter nicht unverzüglich von den Ermittlungsbehörden vorgelegt, sodass der Ermittlungsrichter hier ausnahmsweise eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung hätte vornehmen können (und aus Sicht der Kammer auch müssen).

Eine Ablehnung eines Antrages auf — dann rückwirkende -- Pflichtverteidigung ist nach Einstellung eines Ermittlungsverfahrens nach Auffassung der Kammer daher nur rechtlich zulässig, soweit der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung, der vor Einstellung des Verfahrens bei den zuständigen Ermittlungsbehörden eingeht, unverzüglich von den Ermittlungsbehörden, d. h. Polizei und Staatsanwaltschaft an den zuständigen Ermittlungsrichter weitergeleitet wird, um den Antrag zu bescheiden. Nach Auffassung der Kammer kann so den Interessen sowohl des Beschuldigten, dass ein Verteidiger seine Verteidigung übernimmt, als auch den Interessen der Staatsanwaltschaft an einer zügigen Bearbeitung des Strafverfahrens gedient werden.

Daher ist Rechtsanwalt pp. aus Braunschweig im vorliegenden Verfahren dem ehemaligen Beschuldigten rückwirkend als Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog.


Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig

Anmerkung:


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