Gericht / Entscheidungsdatum: LG Kempten, Beschl. v. 13.06.2024 - 2 Qs 80/24
Eigener Leitsatz:
Die Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl ist entsprechend § 44 Satz 2 StPO als unverschuldet anzusehen, wenn § 408b StPO verletzt wurde.
Landgericht Kempten (Allgäu)
2 Qs 80/24
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger
Rechtsanwalt
wegen Vergehens nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes u.a.
hier: sofortige Beschwerde des Pflichtverteidigers pp. erlässt das Landgericht Kempten (Allgäu) - 2. Strafkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 13. Juni 2024 folgenden
Beschluss
1- Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten pp. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Lindau (Bodensee) vom 31.05.2024 werden die Ziffern 1 und 2 des Beschlusses aufgehoben.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
Mit dem Beschluss vom 31.05.2024 hat das Amtsgericht Lindau (Bodensee) über folgendes entschieden:
1. Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Ablauf der Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl vom 06.08.2021 wird als unzulässig verworfen.
2. Der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 06.08.2021 wird als unzulässig verworfen.
Gegen den Beschluss wendet sich der Verurteilte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 04.06.2024, eingegangen beim Amtsgericht am 04.06.2024.
Das Amtsgericht hat die sofortige Beschwerde unter Einschaltung der Staatsanwaltschaft Kempten an die Beschwerdekammer vorgelegt.
Die Beschwerde des Verurteilten ist statthaft und auch sonst zulässig, § 306 Abs. 1 StPO. Die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO zur Einlegung des Rechtsmittels wurde gewahrt.
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung vom 16.05.2024 ist zulässig und begründet.
Der Verteidiger hatte zwar ausweislich BI. 30 d. A. bereits am 08.05.2024 Einsicht in das Vollstreckungsheft, aus diesem ergibt sich jedoch nicht der Verstoß gegen die Pflichtverteidigerbestellung nach § 408b StPO. Somit hatte der Verteidiger erst im Rahmen der Einsicht in die Ermittlungsakte am 14.05.2024 Kenntnis von diesem Umstand, sodass die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 S. 1 StPO am 16.05.2024 noch nicht abgelaufen war.
Der Antrag ist auch begründet. Die Begründung des Antrags erfordert zwar grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung sämtlicher Tatsachen, aus denen sich die nicht schuldhafte Fristversäumnis des Antragstellers ergibt. Es müssen deshalb alle zwischen dem Beginn und Ende der versäumten Frist liegenden Umstände mitgeteilt werden, die für die Frage bedeutsam sind, wie und ggf. durch wessen Verschulden es zur Versäumnis gekommen ist. Zu benennen sind deshalb die Frist, der Grund der Säumnis sowie der Zeitpunkt, zu dem das Hindernis weggefallen ist. Nicht der Darlegungspflicht unterliegen jedoch Umstände, die den Akten zu entnehmen sind oder gerichtskundig sind (BVerfG NJW 1995, 2544; OLG Düsseldorf StraFo 1997, 77; Graalmann-Scheerer in Löwe/Rosenberg Rn. 14; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt Rn. 5).
Vorliegend enthält der Antrag des Verteidigers vom 16.05.2024 nicht den geforderten Sachvortrag. Jedoch ergibt sich hier der gesamte Sachverhalt aus der Akte und ist deswegen von Amts wegen zu berücksichtigen. Eine andere Ansicht widerspräche dem Grundsatz des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 3 c EMRK.
2. Der Einspruch des Verteidigers vom 16.05.2024 gegen den Strafbefehl vom 06.08.2021 ist zulässig. Der Strafbefehl wurde dem Angeklagten am 10.08.2021 zugestellt und damit war die zweiwöchige Einspruchsfrist bereits abgelaufen. Jedoch wurde es bei Erlass des Strafbefehls unterlassen, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger nach § 408b StPO zu bestellen.
Weil § 408b StPO als Gegengewicht zu rechtsstaatlichen Bedenken fungiert, die gegen die Verhängung einer Freiheitsstrafe in einem summarischen Verfahren sprechen, überzeugt es, die Versäumung der Einspruchsfrist entsprechend § 44 S. 2 StPO als unverschuldet anzusehen, wenn § 408b StPO verletzt wurde. (MüKoStPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 408b Rn. 22)
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 StPO analog.
Einsender: RA U. Menth, Kempten
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