Gericht / Entscheidungsdatum: LG Lübeck, Urt. v. 06.09.2024 – 10 O 240/23
Eigener Leitsatz:
1. Ein Verkehrssicherungspflichtiger hat in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise grundsätzlich nur diejenigen Gefahren auszuräumen und erforderlichenfalls vor ihnen zu warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag. Grundsätzlich muss der Straßenbenutzer sich den vorgefundenen Straßenverhältnissen anpassen.
2. Die Pflichtwidrigkeit von Schäden an Gehwegen und unterschiedlicher Höhenniveaus im Fußgängerbereich beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls.
In pp.
I. Das Versäumnisurteil des Landgerichts Lübeck vom 1.2.2023 – Az. 5 O 98/22 – wird aufrechterhalten.
II. Der Kläger trägt die weiteren Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil darf nur gegen Leistung dieser Sicherheit fortgesetzt werden.
Beschluss
Der Streitwert wird auf bis EUR 13.000,00 festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen eines Unfalls auf einem Gehweg.
Am Nachmittag des 25.9.2021 ging der Kläger in Begleitung seiner Ehefrau auf dem Gehweg der Holstenstraße in Lübeck.
Der Kläger behauptet, er sei aus der Innenstadt kommend in Richtung Holstentor gegangen. Im Bereich vor dem ehemaligen Karstadt Sport Gebäude sei er an einer mittig auf dem Gehweg herausstehenden Kante einer Gehwegplatte mit dem linken Fuß hängen geblieben und gestürzt. Auf die Bilderdokumentation in Anlage K 1 und K 13 wird Bezug genommen. Die Gehwegplatte, an der der Kläger hängen geblieben sei, habe einen Niveauunterschied zwischen 1,00 und 2,5 cm zu den umliegenden Gehwegplatten aufgewiesen. Diese Schwelle habe der Kläger nicht wahrnehmen und erwarten können. Der Kläger meint, die Beklagte habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Insbesondere seien an den Bereich um den Unfallort hohe Anforderungen bezüglich der Verkehrssicherungspflicht zu stellen, weil dieser Bereich als Haupteinfallstor zum Innenstadtbereich der Stadt Lübeck stark frequentiert sei.
Nachdem die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung am 1.2.2023 nicht verhandelt hat, hat das Gericht die Klage durch Versäumnisurteil unter dem Az. 5 O 98/22 abgewiesen. Gegen das der Parteivertreterin des Klägers am 3.2.2023 zugestellte Versäumnisurteil hat die Klägerseite am 14.2.2023 Einspruch eingelegt.
Der Kläger beantragt,
1. das Versäumnisurteil des Landgerichts Lübeck zum Aktenzeichen 5 O 98/22 vom 01.02.2023 aufzuheben.
2. Die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 10.995,80 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
3. Die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.054,10 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
das Versäumnisurteil vom 1.2.2023 aufrechtzuerhalten.
Die Beklagte hebt widersprüchliche Angaben des Klägers hinsichtlich seiner Laufrichtung hervor und meint, aus dem klägerischen Sachvortrag ergebe sich nicht, dass die streitgegenständliche Gehwegplatte für den Sturz des Klägers ursächlich gewesen sei.
Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört. Diesbezüglich wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Mit Zustimmung der Parteien hat das Gericht eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren angeordnet.
Entscheidungsgründe
Auf den zulässigen, insbesondere fristgerecht eingelegten Einspruch des Klägers war der Prozess nach § 342 ZPO in die Lage zurückzuversetzen, in der er sich vor Säumnis des Klägers befand.
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
I. Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Schadensersatzanspruch aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB, Art. 34 S. 1 GG i.V.m. § 10 Abs. 1 S. 2, 3, Abs. 2, 4 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.11.2003 (StrWG-SH) zu.
Der von dem Kläger behauptete Unfall ist nicht auf eine der Beklagten zurechenbare Pflichtverletzung gegen § 10 Abs. 1, 2 StrWG-SH zurückzuführen.
1. Gemäß § 10 Abs. 1 S. 2 StrWG-SH obliegt den Trägern der Straßenbaulast nach ihrer Leistungsfähigkeit, die Straßen in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand anzulegen, zu unterhalten, zu erweitern oder sonst zu verbessern. Soweit sie hierzu unter Berücksichtigung ihrer Leistungsfähigkeit außerstande sind, haben sie auf den nicht verkehrssicheren Zustand vorbehaltlich anderweitiger Anordnungen der Straßenverkehrsbehörden durch Warnzeichen hinzuweisen (Satz 3).
Nach § 10 Abs. 2 StrWG-SH sind bei dem Bau und bei der Unterhaltung der Straßen die allgemein anerkannten Regeln der Baukunst und der Technik zu beachten. Den Bedürfnissen sehbehinderter Menschen soll durch entsprechende Orientierungshilfen, denjenigen mit beeinträchtigter Mobilität durch barrierefreie Gehwegübergänge Rechnung getragen werden; die Belange von älteren Menschen und Kindern sind zu berücksichtigen.
Die mit dem Bau, der Unterhaltung und der Überwachung der Verkehrssicherheit der öffentlichen Straßen zusammenhängenden Aufgaben werden nach § 10 Abs. 4 StrWG-SH als Amtspflichten in Ausübung hoheitlicher Tätigkeit wahrgenommen.
2. Zwar ist die Beklagte als Trägerin der Straßenbaulast für die Erfüllung der Straßenverkehrssicherungspflichten in dem streitgegenständlichen Bereich räumlich und sachlich zuständig. Das Gericht gelangt auf Grundlage des klägerischen Vortrags jedoch nicht zu dem Ergebnis, dass sich die Straße in einem gemessen an § 10 Abs. 1, 2 StrWG-SH pflichtwidrigen Zustand befunden hat.
Dem Kläger ist es nicht gelungen, eine der Beklagten zurechenbare Verkehrssicherungspflichtverletzung darzulegen.
a) Jeder, der in seinem Verantwortungsbereich eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, muss die zumutbaren Maßnahmen und Vorkehrungen treffen, die zur Abwendung der Dritten drohenden Gefahren geboten sind. Die im Einzelfall erforderlichen Maßnahmen richten sich nach der Art der jeweiligen Gefahrenquelle und den Umständen der Umgebung, in der sich die Gefahrenquelle befindet.
§ 10 Abs. 1 S. 2 StrWG-SH verlangt von dem Träger der Straßenbaulast, Straßen in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand zu unterhalten, wobei nach § 10 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 StrWG-SH bei der Unterhaltung die Belange von älteren Menschen zu berücksichtigen sind. Daraus folgt, dass sich Straßen grundsätzlich nicht in einem einwandfreien Zustand befinden müssen und von ihnen mit Blick auf etwaige Unebenheiten eine Restgefahr ausgehen kann. Der Umfang der Sorge für die Verkehrssicherheit wird maßgeblich von der Art und der Häufigkeit der Benutzung des Verkehrswegs und seiner Bedeutung bestimmt (BGH vom 21.6.1979, Az. III ZR 58/78). Ein Verkehrssicherungspflichtiger hat in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise alle, aber auch nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls vor ihnen zu warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (BGH vom 5.7.2012, Az. III ZR 240/11). Grundsätzlich muss der Straßenbenutzer sich den vorgefundenen Straßenverhältnissen anpassen (Reinert/Kümper, in: BeckOK BGB, 71. Ed. 1.8.2024, § 839 Rn. 70 mit Nachw.).
Weitergehende Sorgfaltsanforderungen folgen auch nicht daraus, dass § 10 Abs. 2 StrWG-SH anordnet, dass bei dem Bau und bei der Unterhaltung der Straßen die Belange von älteren Menschen zu berücksichtigen. Bei der Regelung handelt es sich um eine Orientierung für den Träger der Straßenbaulast und nicht um eine konkrete Qualitätsvorgabe mit Blick auf den Beschaffenheit von Gehwegen (so i.E. auch Röttger, SchlHA 2018, 82, 85).
b) Die von dem Kläger beschriebene Situation des Gehwegs stellt an der konkreten Stelle keinen Zustand dar, der dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis nicht genügt.
Dabei ist in Bezug auf die Frage, in welchem Umfang Fußgänger Unebenheiten und Niveauunterschiede auf Straßen, Plätzen und Gehwegen hinnehmen müssen, keine schematische Betrachtung unter Anwendung starrer Grenzen angezeigt, sondern es ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles zu prüfen, ob ein verkehrsunsicherer Zustand vorliegt (OLG Saarbrücken vom 26.11.2015, Az. 4 U 110/14; Röttger, SchlHA 2018, 82, 85 f.).
i) Dem klägerischen Vortrag lassen sich zu dem behaupteten Höhenunterschied der Gehwegplatten keine eindeutigen Angaben entnehmen.
Ursprünglich hat der Kläger vorgetragen, er sei aufgrund unebener Gehwegplatten ins Stolpern geraten. Zur näheren Darlegung hat er auf die Fotos in Anlagenkonvolut K 1 verwiesen (Bl. 5 d. A.). Aus diesem Vortrag hat sich kein konkreter Höhenunterschied ergeben. Im weiteren Verfahrensverlauf hat der Kläger vorgetragen, vor Ort seien Höhenunterschiede von 1,0 bis 1,5 cm festgestellt worden (Bl. 67, 105 f. d. A.). Zuletzt hat der Kläger unter Verweis auf die Fotografie in Anlage K 18 ausgeführt, er schätze einen Höhenunterschied von 2,0 bis 2,5 cm (Bl. 182 d. A.). Dieser Vortrag ist zu divergent und ungenau, als dass sich das Gericht auf dieser Grundlage eine Überzeugung von den Begebenheiten vor Ort verschaffen könnte.
ii) Selbst wenn man zugunsten des Klägers von einem Höhenunterschied der Gehwegplatten von bis zu 2,5 cm ausgeht, war mit Blick auf die Gesamtumstände kein pflichtwidriger Zustand des Gehwegs festzustellen.
(1) Die Rechtsprechung beurteilt die Pflichtwidrigkeit von Schäden an Gehwegen und unterschiedlicher Höhenniveaus im Fußgängerbereich mit Blick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls.
Für eine Fußgängerzone oder die nicht für den Kfz-Verkehr bestimmte Zuwegung zu einem Marktplatz wurde ein Niveauunterschied unter 2,00 bis 2,5 cm als erheblich angesehen (OLG Oldenburg vom 20.12.1985, Az. 6 U 72/85; OLG Hamm vom 16.10.2020, Az. 11 U 72/19), ebenso wie eine Asphaltkante von 3,00 cm, während mit absackenden Pflastersteinen eher zu rechnen ist (OLG Stuttgart vom 26.11.2020, Az. 2 U 437/19). Auf Gehwegen im Allgemeinen werden Niveauunterschiede von ca. 2 bis 3 cm regelmäßig akzeptiert (OLG Koblenz vom 26.7.2018, Az. 1 U 149/18; OLG Koblenz vom 23.6.2010, Az. 1 U 1526/09; OLG Frankfurt vom 10.2.2003, Az. 1 U 153/01). Entscheidend ist dabei jeweils, inwieweit Gehwegschäden für den Fußgängerverkehr mit Blick auf die örtlichen Begleitumstände erkennbar und ein Überqueren vermeidbar ist (vgl. auch BGH vom 5.7.2012, Az. III ZR 240/11). Eine haftungsbegründende Verkehrssicherungspflichtverletzung kann erst angenommen werden, wenn auch für den aufmerksamen Verkehrsteilnehmer eine Gefahrenlage überraschend eintritt und nicht rechtzeitig erkennbar ist (OLG Saarbrücken vom 26.11.2015, Az. 4 U 110/14).
(2) Ist ein Höhenunterschied von 2,5 cm auf einem Fußgängerweg damit im Ausgangspunkt noch hinnehmbar, oblag es der Klägerseite, weitergehende Anhaltspunkte vorzubringen, aus denen sich ein Überraschungsmoment oder ein anderer Umstand für den Kläger ergab, aufgrund dessen er den Niveauunterschied zwischen den Gehwegplatten bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt nicht hätte feststellen können.
Zwar hat die Klägerseite vorgetragen, bei der Holstenstraße handle es sich um das Haupteinfallstor vom Lübecker Bahnhof in die Altstadt. Die Straße sei hoch frequentiert (Bl. 70, 183 d. A.). Dies ist aus der eigenen Erfahrung des Gerichts grundsätzlich zutreffend. Daraus folgen aber nicht ohne Weiteres erhöhte Sorgfaltsanforderungen der Beklagten. Denn die Klägerseite hat daraus keine Ableitung für die Erkennbarkeit der Gehwegschäden gezogen. Sie hat insbesondere nicht vorgetragen, dass die Straße regelmäßig derart frequentiert ist, dass Fußgänger in einem gedrängten Verkehr den vor ihnen liegenden Gehweg nicht erkennen können (dahin OLG Schleswig vom 11.11.1999, Az. 11 U 136/98). Ein regelmäßig derart gedrängter Fußgängerverkehr ist auch dem Gericht nicht bekannt. Die Holstenstraße ist im unteren Bereich auch nicht durch eine Vielzahl ansprechender Schaufenster geprägt, die zu einer Ablenkung von Fußgängern führen würden.
Mit Ausnahme der Lichtverhältnisse (Bl. 5 d. A.) hat der Kläger keine konkreten Umstände vorgetragen, die aus seiner Perspektive dazu hätten führen können, dass der Höhenunterschied zwischen den Gehwegplatten nicht erkennbar gewesen wäre. Der Kläger hat auch nicht substantiiert vorgetragen, dass sich der gesamte Gehweg in einem schadhaften Zustand befunden habe, der ein Ausweichen vor etwaigen Gefahren unmöglich gemacht hätte (BGH vom 5.7.2012, Az. III ZR 240/11; Bl. 183 d. A.). Derartiges ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten Lichtbildern (vgl. Anlagenkonvolut K 1, Anlagen K 13a, K 18).
c) Entgegen der klägerischen Ausführungen folgt allein aus dem Umstand, dass die Beklagte die streitgegenständliche Gehwegstelle nach dem behaupteten Unfallereignis instandgesetzt hat, nicht, dass sich die Stelle bis dahin in einem pflichtwidrigen Zustand befunden hat (OLG Koblenz vom 26.7.2018, Az. 1 U 149/18). Die Instandsetzung von Gehwegplatten ist gerade Teil der Wahrnehmung und Erfüllung von Verkehrssicherungspflichten.
3. Vor dem Hintergrund war auch dem Beweisangebot des Klägers bezüglich der Zeugen ...... und ……. nicht nachzugehen. Dass der Kläger an der von ihm angegebenen Stelle gestürzt ist, kann zu seinen Gunsten unterstellt werden.
II. Dem Kläger steht auch aus anderen Normen kein Anspruch gegen die Beklagte zu.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 2, 3 ZPO.
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