Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Naumburg, Beschl. v. 04.10.2024 - 1 Ws 424/24
Eigener Leitsatz:
1. Die bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit eines späteren Ausfalls des Pflichtverteidigers gibt – außer in dem Fall einer voraussichtlich ganz besonders langen Hauptverhandlung– regelmäßig keinen Anlass zur Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers.
2. Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu.
OLG Naumburg
BESCHLUSS
1 Ws 424/24
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt G.
Rechtsanwalt S.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht am 4. Oktober 2024 beschlossen:
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Magdeburg gegen den Beschluss der Vorsitzenden der 5. großen Strafkammer – Schwurgerichtskammer – des Landgerichts Magdeburg vom 3. September 2024 wird als unbegründet verworfen. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten pp. insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gründe:
I.
Der Angeklagte pp. wurde im ersten Rechtsgang durch das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 12. Dezember 2022 vom Vorwurf der gemeinschaftlich mit dem Mitangeklagten pp. begangenen versuchten Anstiftung zu einem Mord freigesprochen.
Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 29. November 2023 das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 12. Dezember 2022 mit den Feststellungen aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Magdeburg zurückverwiesen.
Bereits am 2. Dezember 2021 war dem Angeklagten pp. Rechtsanwalt G. als Pflichtverteidiger bestellt worden.
Im April 2024 bestimmte die Vorsitzende der nunmehr zuständigen 5. großen Strafkammer - Schwurgerichtskammer – zehn Hauptverhandlungstermine vom 10. September 2024 bis zum 26. November 2024. Weitere drei Hauptverhandlungstermine bis zum 20. Dezember 2024 blieben vorbehalten.
Mit Schreiben seines Verteidigers Rechtsanwalt G. vom 26. Juli 2024 beantragte der Angeklagte pp., ihm Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen.
Mit Beschluss vom 3. September 2024 bestellte die Kammervorsitzende dem Angeklagten pp. Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger.
Gegen diesen, ihr am 11. September 2024 zugestellten Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft Magdeburg mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 17. September 2024, die am 18. September 2024 bei dem Landgericht Magdeburg eingegangen ist.
Die Generalstaatsanwaltschaft vertritt die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Magdeburg und beantragt mit ihrer Zuschrift vom 26. September 2024, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Bestellung von Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger abzulehnen. Der Angeklagte hatte hierzu rechtliches Gehör.
II.
Die gemäß §§ 142 Abs. 7 S. 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Bestellung von Rechtsanwalt S. als zusätzlichen Pflichtverteidiger hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Nach der Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger "bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich" bestellt werden, "wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist".
Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche - "vom Willen des Beschuldigten unabhängige" (amtliche Begründung des Gesetzesentwurfs, BT-Drucks. 19/13829 S. 49) - Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGH, Beschluss vom 24. März 2022 – StB 5/22 –, Rn. 13, zitiert nach juris).
Soweit der Gesetzeswortlaut "Umfang oder Schwierigkeit" des Verfahrens anführt, benennt er lediglich exemplarisch ("insbesondere") Hauptanwendungsfälle für diese zentrale Normvoraussetzung. Hierauf ist bei der Auslegung Bedacht zu nehmen. Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es mithin nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne einen weiteren (bzw. zwei weitere) Verteidiger gefährdet wäre (BGH a. a. O. Rn. 14).
Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein "unabweisbares Bedürfnis" besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten (BGH, a. a. O. Rn. 15). Dabei kann die Erforderlichkeit der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers auch in der Person des bisherigen Verteidigers begründet sein, wenn etwa dessen Teilnahme am Verfahren, insbesondere an der Hauptverhandlung, aus Gründen in seiner Person (z. B. Krankheit) nicht gesichert ist (BT-Drucks. 19/13829 S. 49; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 3. Juli 2020 – 2 Ws 150/20 –, Rn. 5, zitiert nach juris). Allerdings gibt die bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit eines späteren Ausfalls des Pflichtverteidigers – außer in dem Fall einer voraussichtlich ganz besonders langen Hauptverhandlung, der hier nicht vorliegt – regelmäßig keinen Anlass zur Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (BGH, Beschluss vom 19. März 2024 – StB 17/24 –, Rn. 15; BGH, Beschluss vom 24. März 2022 – StB 5/22 –, Rn. 24; OLG Brandenburg, Beschluss vom 21. Oktober 2021 – 2 Ws 166/21 (S) – , Rn. 9; OLG Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20 –, Rn. 12; OLG Hamburg, Beschluss vom 13. Januar 2020 – 2 Ws 3/20 –, Rn. 12; jeweils zitiert nach juris). Erst wenn konkrete Anhaltspunkte für ein Ausbleiben des Verteidigers hinzutreten, also eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sich die Gefahr auch verwirklicht, ist die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers geboten (BGH, Beschluss vom 24. März 2022 – StB 5/22 –, Rn. 20; OLG Brandenburg a. a. O.; OLG Celle a. a. O.; OLG Hamburg a. a. O.).
2. Zwar gilt für das Rechtsmittel der (sofortigen) Beschwerde im Grundsatz, dass das Beschwerdegericht, auch in Ermessensfragen, an Stelle des Erstgerichts eine eigene Sachentscheidung trifft (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, § 309 Rn. 4).
Anders verhält es sich jedoch bei der Prüfung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO. Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Dies gilt jedenfalls bei einer Entscheidung nach Anklageerhebung durch den Vorsitzenden des Gerichts, bei dem das Verfahrens anhängig ist. Denn § 144 Abs. 1 StPO dient in erster Linie der zügigen Durchführung des Verfahrens. Die Vorbereitung und Leitung der Hauptverhandlung als Herzstück des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens obliegt im Grundsatz dem Vorsitzenden in eigener Zuständigkeit. Er hat sicherzustellen, dass der Anspruch des Angeklagten auf eine Verhandlung und ein Urteil innerhalb angemessener Frist (vgl. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) gewahrt wird (BGH, Beschluss vom 24. März 2022 – StB 5/22 – Rn. 18, KG Berlin, Beschluss vom 14. August 2023 – 3 Ws 40/23 –, Rn. 31, jeweils zitiert nach juris). Dem trägt das Gesetz dadurch Rechnung, dass er nach Anklageerhebung zur Entscheidung über die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers berufen ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO). Deshalb entspricht es dem gesetzlichen Kompetenzgefüge, wenn das Beschwerdegericht nicht seine Beurteilung, wie die Hauptverhandlung zu gestalten ist, damit sie dem Beschleunigungsgrundsatz genügt, an die Stelle derjenigen des Vorsitzenden setzt. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert oder nicht erfordert, kann das Beschwerdegericht daher nur beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen (BGH, Beschluss vom 24. März 2022 – StB 5/22 –, Rn. 18, KG Berlin, Beschluss vom 14. August 2023 – 3 Ws 40/23 –, Rn. 31, jeweils zitiert nach juris.; Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O. § 144 Rn. 12).
3. Daran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden.
Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegt vor. Auch ist weder ersichtlich, dass die Kammervorsitzende von einem falschen Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage ausgegangen ist, noch dass sie die maßgeblichen Tatbestandsmerkmale des § 144 Abs. 1 StPO fehlerhaft angewendet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.
Die Vorsitzende hat bei ihrer Entscheidung auf die Ankündigung des bisherigen alleinigen Pflichtverteidigers in den Schriftsätzen vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 abgestellt, es seien Beweisanträge in einem solchen Umfang zu erwarten, dass zu befürchten sei, dass die bisher anberaumten und vorbehaltenen Hauptverhandlungstermine nicht ausreichend seien. Zudem hat sie zugrunde gelegt, dass der Pflichtverteidiger gerichtsbekannt in einer Vielzahl weiterer Verfahren tätig ist. Dies hatte dieser in den genannten Schriftsätzen ebenfalls mitgeteilt, verbunden mit der Ankündigung, dass es wegen seiner Einbindung in anderweitigen Strafverfahren bei der Bestimmung weiterer Hauptverhandlungstermine zu erheblichen Schwierigkeiten kommen könne.
Damit ist die Kammervorsitzende ersichtlich von der konkreten Gefahr ausgegangen, dass aus der laufenden Hauptverhandlung heraus nach dem 20. Dezember 2024 weitere Hauptverhandlungstermine anberaumt werden müssen, an denen der bisher alleinige Pflichtverteidiger jedoch aufgrund umfangreicher Terminskollisionen nicht teilnehmen kann. Da bereits jetzt Zeugen bis zum neunten Hauptverhandlungstag geladen sind und der Pflichtverteidiger umfangreiche Beweisanträge angekündigt und zudem eingeschätzt hat, dass aufgrund seiner – gerichtsbekannten – Einbindung in eine Vielzahl von Strafverfahren seine Teilnahme an weiteren anzuberaumenden Hauptverhandlungsterminen fraglich ist, vermag der Senat in der Bewertung der Kammervorsitzenden, der spätere Ausfall des Pflichtverteidigers sei über eine abstrakt-theoretische Möglichkeit hinaus hinreichend wahrscheinlich, keinen Beurteilungsfehler zu erkennen.
Auch die – sich schlüssig aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses ergebende – Bewertung der Kammervorsitzenden, die sachgerechte Verteidigung könne im Fall einer Verhinderung des Pflichtverteidigers nicht durch andere Maßnahmen gewährleistet werden, lässt einen durchgreifenden Beurteilungsfehler nicht erkennen. Angesichts der nach der Einschätzung der Kammervorsitzenden drohenden weitgreifenden Verhinderung des Pflichtverteidigers erschiene der Verweis auf die Bestellung eines Vertreters für einzelne Hauptverhandlungstage nicht sachgerecht. Der Umfang und die Schwierigkeit der Sache – wenn sie auch für sich genommen die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO nicht rechtfertigt – lassen angesichts des damit verbundenen Einarbeitungsaufwandes auch die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erst im Zeitpunkt der tatsächlichen Verhinderung des bisherigen Pflichtverteidigers nicht ohne Weiteres ausreichend erscheinen.
Die Beurteilung der Kammervorsitzenden, es bestehe hier angesichts der Mitteilungen des Pflichtverteidigers vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung eines ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens, die die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers erfordert, ist damit vertretbar. Darauf, ob der Senat bei eigener Abwägung zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre, kommt es wegen der – wie dargelegt – eingeschränkten Prüfungskompetenz im Beschwerdeverfahren nicht an.
Auf der Grundlage dessen vermag der Senat im Rahmen der zu prüfenden Rechtsfolgeentscheidung – dies betrifft insbesondere den Umfang der Verteidigerbestellung – ebenfalls keinen Rechtsfehler bei der tatgerichtlichen Ermessensausübung zu erkennen. Auch insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Senat eine gleichlautende Entscheidung getroffen hätte.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO.
Einsender: RA W. Siebers, Braunschweig
Anmerkung:
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