Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Celle, Beschl. v. 29.04.2024 - 1 Ws 126/24
Leitsatz des Gerichts:
Die Pflicht zur bestmöglichen Aufklärung des Sachverhalts kann auch in Fällen, in denen der Sachverständige nicht gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO mündlich zu hören ist, seine mündliche Anhörung erfordern.
Oberlandesgericht Celle
Beschluss
1 Ws 126/24
In der Strafvollstreckungssache
gegen pp.
wegen gefährlicher Körperverletzung
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht am 29. April 2024 beschlossen:
Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stade mit Sitz beim Amtsgericht Bremervörde vom 9. April 2024 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stade mit Sitz beim Amtsgericht Bremervörde zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Der Verurteilte wurde am 13. Juni 2022 vom Landgericht Verden wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zwei Drittel der Strafe waren am 6. April 2024 vollstreckt, die Endstrafe ist auf den 7. April 2025 notiert.
Die Strafvollstreckung hat zur Prüfung einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB ein Sachverständigengutachten des Diplom-Psychologen A. J. eingeholt. Dieser hat – im Gegensatz zur Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt – eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten im Ergebnis befürwortet. Zur mündlichen Anhörung des Verurteilten am 3. April 2024 wurde der Sachverständige zunächst geladen, nach Verzicht der Verteidigerin auf seine mündliche Anhörung aber wieder abgeladen. Im Anhörungstermin hat auch der Verurteilte selbst darauf verzichtet, den Sachverständigen mündlich zu hören.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 9. April 2024 hat die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt.
Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde, die am 10. April 2024 bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen ist. Die Generalstaatsanwaltschaft ist der sofortigen Beschwerde beigetreten und hat beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Vollstreckung der Reststrafe nicht zur Bewährung auszusetzen.
II.
Die gemäß §§ 454 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde hat – jedenfalls vorläufig – Erfolg.
1. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer war bereits deswegen aufzuheben, weil sie an einem wesentlichen Verfahrensfehler leidet. Denn die Strafvollstreckungskammer hat zu Unrecht von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen abgesehen.
a) Gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO ist im Falle der Einholung eines Prognosegutachtens vor einer Entscheidung über die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung der Sachverständige mündlich anhören. Von der Anhörung darf gemäß § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO nur abgesehen werden, wenn sowohl der Verurteilte und sein Verteidiger als auch die Staatsanwaltschaft darauf verzichten.
b) Die Voraussetzungen des § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO lagen nicht vor, weil die Staatsanwaltschaft nicht auf die Sachverständigenanhörung verzichtet hat.
Die Strafvollstreckungskammer hat in ihrer Verfügung vom 6. Februar 2024, mit der die Akten der Staatsanwaltschaft zur Kenntnisnahme vom Gutachten übersandt wurden, auch nach einem Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen gefragt. Zu dieser Frage hat sich die Staatsanwaltschaft aber weder in ihrer Rücksendeverfügung vom 13. Februar 2024, mit der sie auf ihre frühere Stellungnahme Bezug nahm, noch später geäußert.
Ein konkludenter Verzicht der Staatsanwaltschaft liegt ebenfalls nicht vor. Das bloße Schweigen auf eine Zuschrift des Gerichts genügt für die Annahme eines Verzichts nicht, denn der Verzicht auf die mündliche Anhörung muss eindeutig erklärt werden (OLG Braunschweig, Beschluss vom 5. Oktober 2023 – 1 Ws 206/23 –, Rn. 9, juris, m. w. N.). Auch dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft nicht am Anhörungstermin teilgenommen hat, kann jedenfalls unter den vorliegenden Umständen eine solche eindeutige Erklärung nicht entnommen werden, weil der Staatsanwaltschaft aufgrund der Ladungsverfügung vom 27. Februar 2024 keine Terminsnachricht übersandt und sie auch über die spätere Abladung des Sachverständigen nicht informiert wurde.
c) Darüber hinaus begegnet das Absehen von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen im vorliegenden Fall auch unter dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Aufklärungspflicht durchgreifenden Bedenken.
Die Pflicht zur bestmöglichen Aufklärung des Sachverhalts kann auch in Fällen, in denen der Sachverständige nicht gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO mündlich zu hören ist, seine mündliche Anhörung erfordern (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04.08.2015 - 1 Ws 319/15, beck-online). Denn die Anhörung dient nicht nur der Verwirklichung rechtlichen Gehörs, sondern soll vor allem die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorbereiten und ihre materielle Richtigkeit gewährleisten (vgl. OLG Braunschweig, a. a. O.). Die mündliche Erörterung eines solchen Gutachtens in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten gibt diesen Gelegenheit, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren, das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen und zu dem Gutachten Stellung zu nehmen (OLG Braunschweig a. a. O.).
Angesichts der grundlegenden unterschiedlichen Prognosebeurteilungen der Justizvollzugsanstalt einerseits und des Sachverständigen andererseits wäre eine solche eingehende Erörterung des Gutachtens – unter Mitwirkung der Vollzugsanstalt (§ 454 Abs. 3 Satz 3 StPO) – im vorliegenden Fall geboten gewesen, nachdem die Justizvollzugsanstalt nach Vorlage seines Gutachtens noch eine ausführliche Stellungnahme abgegeben und darin ihre bisherige Beurteilung bekräftigt und vertiefend begründet hat.
2. Die Beschlussfassung der Strafvollstreckungskammer ohne vorherige mündliche Anhörung des Sachverständigen stellt einen wesentlichen Verfahrensfehler dar, der grundsätzlich im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 25. Januar 2011 – 3 Ws 15/11 –, Rn. 5, juris).
Die Sache ist daher in Abweichung von § 309 Abs. 2 StPO zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.
3. Der beantragten Bestellung von Rechtsanwältin Z. zur Pflichtverteidigerin im Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil deren Bestellung durch die Strafvollstreckungskammer in entsprechender Anwendung von § 143 Abs. 1 StPO bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zur Prüfung der Reststrafenaussetzung fortdauert.
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