Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.09.2024 - 1 ORs 24/24
Leitsatz:
1. Schließt sich der Tatrichter -den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist.
2. Für die festzustellende Erfolgsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB n.F. ist es nunmehr erforderlich, dass der Behandlungserfolg „aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten" ist. Die Anforderungen an eine günstige Behandlungsprognose sind „moderat angehoben" worden, indem nunmehr eine „Wahrscheinlichkeit höheren Grades" gegeben sein muss; im Übrigen bleibt es dabei, dass die Beurteilung der Erfolgsaussicht im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgebenden Umstände vorzunehmen ist.
Oberlandesgericht Braunschweig
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
Rechtsanwalt
wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig am 2. September 2024 beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. März 2024 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Strafaussetzung zur Bewährung versagt und die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
Gründe:
Das Amtsgericht Braunschweig hat den Angeklagten mit Urteil vom 20. Februar 2023 unter Freispruch im Übrigen wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln sowie unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten belegt. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat das sachverständig beratene Amtsgericht wegen fehlender Erfolgsaussicht abgelehnt. Des Weiteren hat das Amtsgericht die Einziehung verschiedener näher bezeichneter Gegenstände angeordnet; die Einziehung eines Geldbetrages von 750 € hat es abgelehnt.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte rechtzeitig Rechtsmittel und die Staatsanwaltschaft rechtzeitig Berufung eingelegt. Im Rahmen der Berufungshauptverhandlung hat die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Angeklagten und des Verteidigers die Berufung zurückgenommen, soweit sie sich auf den Teilfreispruch bezog und sie im Übrigen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Der Angeklagte hat seine Berufung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft ebenfalls auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Im weiteren Verlauf der Berufungshauptverhandlung haben beide Seiten mit Zustimmung der jeweils anderen Seite erklärt, dass mit ihrer jeweiligen Berufung die vom Amtsgericht angeordnete Einziehung nicht angegriffen werde.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 12. März 2024, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat das Landgericht Braunschweig auf die Berufung des Angeklagten das Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg vom 20. Februar 2023 im Strafausspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 10 Monaten verurteilt wird. Die weitergehende Berufung des Angeklagten und die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht verworfen.
Gegen dieses in Anwesenheit des Angeklagten und seines beigeordneten Verteidigers am 12. März 2024 verkündete und dem Verteidiger am 25. April 2024 zugestellte Urteil wendet sich der Angeklagten mit seiner am 14. März 2024 eingelegten Revision, die mit Verteidigerschriftsatz vom 23. Mai 2024, eingegangen beim Landgericht Braunschweig per beA am selben Tag, mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet Worden ist. Er meint, dass das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung den drohenden Widerruf einer Freiheitsstrafe rechtsfehlerhaft nicht strafmildernd berücksichtigt, ihm eine Strafaussetzung zur Bewährung zu Unrecht versagt habe und zudem die Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt rechtsfehlerhaft verneint habe. Insoweit hat er die Nichtanwendung des § 64 StGB, anders als die Nichtanwendung der §§ 63 und 66 StGB, ausdrücklich nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
Der Angeklagte hat fristgerecht mit Gegenerklärung vom 3. Juli 2024 weiter ausgeführt.
II.
Die zulässige Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen —zumindest vorläufigen Teilerfolg.
1. Die Nachprüfung des Urteils hat zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, insbesondere nicht wegen der vom Verteidiger beanstandeten Nichtberücksichtigung des drohenden Widerrufs einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe (§ 349 Abs. 2 StPO).
2. Die Entscheidung, von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abzusehen, hat hingegen keinen Bestand.
a) Die sachverständig beratene Strafkammer ist davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten eine langjährige Polytoxikomanie mit Kokain- und Opiatabhängigkeit bestehe, wodurch eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- und der Leistungsfähigkeit eingetreten sei und fortdauere. Zu Recht hat die Kammer daher einen Hang des Angeklagten im Sinne des § 64 S. 1 StGB bejaht. Sie hat überdies festgestellt, dass der abgeurteilte Besitz von Betäubungsmitteln in zwei Fällen unmittelbar der Ermöglichung des Konsums der Betäubungsmittel diente, mithin ein symptomatischer Zusammenhang zwischen den Taten und dem Hang bestehe. Ferner hat sie angesichts der Schwere der Suchterkrankung und der fehlenden Aufarbeitung derselben ein erhöhtes Risiko für Rückfälle und infolgedessen auch für die Begehung erneuter erheblicher rechtswidriger Taten infolge des Hanges prognostiziert.
Die Strafkammer hat indes die tatsächlich begründete Erwartung eines Behandlungserfolges im Sinne des § 64 S. 2 StGB verneint. Insoweit — so die Kammer — schließe sie sich den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen nach eigener kritischer Würdigung an. Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der Persönlichkeit des Angeklagten bestehe trotz grundsätzlich vorhandener Therapiewilligkeit des Angeklagten keine hinreichende Aussicht einer erfolgreichen Behandlung innerhalb des gesetzlichen Rahmens einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Gegen einen Behandlungserfolg sprächen insbesondere auch die zahlreichen erfolglosen Therapieversuche in den letzten Jahren. Selbst im hochstrukturierten Setting einer stationären Therapie habe kein konkreter Behandlungserfolg erzielt werden können. Konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme eines Behandlungserfolges seien nicht ersichtlich.
b) Das Absehen von der Unterbringungsanordnung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Das Landgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Anordnung der Maßregel § 64 StGB n.F. zugrundezulegen wäre, der im Gegensatz zu § 64 StGB a.F. gesteigerte Anforderungen an die Anordnung der Maßregel stellt. Für die festzustellende Erfolgsaussicht nach § 64 S. 2 StGB n.F. ist es nunmehr erforderlich, dass der Behandlungserfolg „aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten" ist. Durch die Neufassung der Vorschrift sind die Anforderungen an eine günstige Behandlungsprognose „moderat angehoben" worden, indem nunmehr eine „Wahrscheinlichkeit höheren Grades" gegeben sein muss; im Übrigen bleibt es dabei, dass die Beurteilung der Erfolgsaussicht im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgebenden Umstände vorzunehmen ist (vgl. BT-Drucks. 20/5913 S. 48 f., 70 ff.; BGH, Beschlüsse vom 2. November 2023, 6 StR 316/23, juris, Rn. 11; vom 16. November 2023, 6 StR 452/23, juris, Rn. 5 f.; vom 14. Dezember 2023, 3 StR 225/23, juris. Rn. 12; vom 30. Januar 2024, 5 StR 499/23, juris, Rn. 3).
Den Ausführungen des Landgerichts lässt sich indes die gebotene Auseinandersetzung mit den festgestellten prognoseungünstigen wie auch prognosegünstigen Faktoren nicht entnehmen.
Das Landgericht hat insoweit der „grundsätzlich vorhandenen Therapiewilligkeit des Angeklagten" als (einzigem) prognosegünstigen Umstand „insbesondere die zahlreichen erfolglosen Therapieversuche in den letzten Jahren" sowie den Umstand, dass „selbst im hochstrukturierten Setting der stationären Therapie kein konkreter Behandlungserfolg habe erzielt werden können" als gegen eine günstige Behandlungsprognose sprechenden Umstände gegenübergestellt. Im Übrigen hat die Kammer zu der fehlenden Erfolgsaussicht (nur) ausgeführt, dass nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen, denen sich die Kammer nach eigener kritischer Würdigung anschließe, keine tatsächlich begründete Erwartung eines Behandlungserfolgs einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gern. § 64 StGB bestehe (UA S. 16). Schließt sich der Tatrichter - wie hier - den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Januar 2017, 4 StR 595/16, juris, Rn. 8; vom 28. Januar 2016, 3 StR 521/15, juris, Rn. 4.; vom 27. Januar 2016, 2 StR 314/15, juris, Rn. 6; vom 17. Juni 2014, 4 StR 171/14, juris, Rn. 7). Daran fehlt es hier.
Der Senat verkennt nicht, dass auch die von der Kammer festgestellten - wenngleich nicht im Rahmen der Gesamtwürdigung zur Erfolgsaussicht einer Unterbringung nach § 64 StGB erörterten - Umstände, dass der Angeklagte vielfach vorbestraft und seit vielen Jahren hartdrogenabhängig ist sowie schon 30 Entgiftungen und 4 stationäre Therapien erfolglos absolviert hat, grundsätzlich gegen eine begründete Erwartung eines Behandlungserfolges sprechen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. April 2015, 4StR 92/15, juris, Rn. 15; vom 3. Juni 2020, 2 StR 428/19, juris, Rn. 4).
Jedoch bleibt offen, ob der Sachverständige - und ihm folgend die Kammer - in seiner Abwägung auch berücksichtigt hat, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits knapp 10 Monate (vom 20. Mai 2023 bis 12. März 2024) in einer (erneuten) stationären Therapie befunden hat, in deren Rahmen er am 1. Dezember 2023 in eine Außenwohngruppe verlegt werden konnte. Vor dem Hintergrund dieser - zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung als (bislang) erfolgreich anzusehenden - Therapie wäre es erforderlich gewesen, zumindest hinsichtlich der letzten vom Angeklagten absolvierten stationären Therapiemaßnahme nähere Einzelheiten namentlich zu deren Zeitpunkt und Anlass, ob sie abgeschlossen oder abgebrochen wurde und wie lange der Angeklagte im Anschluss daran abstinent geblieben ist, mitzuteilen, um das Risiko eines Scheiterns der Behandlung -- als mehr oder weniger hoch bzw. gering - konkret zu gewichten (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2023, 6 StR 44/23, juris, Rn. 9). Soweit die Kammer ausführt, dass „selbst im hochstrukturierten Setting der stationären Therapie kein konkreter Behandlungserfolg habe erzielt werden können", stützt sie sich offenbar auf die festgestellten zwei Suchtmittelrückfälle während der aktuellen stationären Therapie, deren zweiter nach den Urteilsfeststellungen im zeitlichen Zusammenhang mit der Verlegung des Angeklagten in die Wohngruppe und der Herabdosierung des Substitutes auf ein `, Drittel der ursprünglichen Dosis stattfand. Insoweit bleibt aber offen, wann der erste Suchtmittelrückfall stattgefunden hat und zudem lässt das Urteil eine Auseinandersetzung mit dem Umstand vermissen, dass die Therapie trotz der beiden Suchtmittelrückfälle offenbar nicht seitens der Therapieeinrichtung beendet wurde.
Über die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss deshalb — wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) — neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert eine Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (BGH, Beschluss vom 11. Juli 2013, 3 StR 193/13, juris, Rn. 6). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB ausdrücklich nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2017, 3 StR 38/17, juris, Rn. 10; Gericke in: Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl., § 358, Rn. 23 mwN).
3. Die Aufhebung der Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt zieht die Aufhebung der Entscheidung über die Nichtgewährung der Strafaussetzung nach sich. Bei suchtmittelabhängigen Tätern ist regelmäßig eine getrennte Beurteilung der Voraussetzungen über die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB und die Strafaussetzung zur Bewährung nicht möglich, da beide Entscheidungsteile auf denselben Gesichtspunkten beruhen können (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 2012, 2 StR 29/12, juris, Rn. 5; OLG Braunschweig, Urteil vom 19. April 2017, 1 Ss 11/17, juris, Rn. 15; KG Berlin, Beschluss vom 8. November 2018, (5) 121 Ss 167/18, juris, Rn. 11). Die Gefahr erneuter (hangbedingter) Taten ist nämlich sowohl bei der anzustellenden Kriminalprognose des § 56 Abs. 1 StGB als auch bei der Gefährlichkeitsprognose des § 64 5. 1 StGB von besonderer Bedeutung, so dass beide zumindest teilweise auf identischen Überlegungen beruhen, was zugleich zu einer Doppelrelevanz bestimmter Feststellungen führten. Die beiden Prognoseentscheidungen können daher regelmäßig nicht losgelöst voneinander getroffen werden (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2015, 2 StR 139/15, juris, Rn. 8). Das gilt auch hier, weil die negative Kriminalprognose mit der fehlenden Erfolgsaussicht der Therapie begründet wurde.
4. Der aufgezeigte Rechtsfehler lässt den Strafausspruch hingegen unberührt. Es ist auszuschließen, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf eine mildere Freiheitsstrafe erkannt hätte. Zwischen beiden Sanktionen besteht grundsätzlich keine Wechselwirkung; sie sind unabhängig voneinander festzusetzen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Februar 2020, 3 StR 415/19, juris, Rn. 15; vom 6. September 2016, 3 StR 283/16, juris, Rn. 5; vom 24. Januar 2023, 6 StR 407/22, juris, Rn. 8).
Aufgrund des dargelegten Rechtfehlers ist das angefochtene Urteil mit den zugehörigen Feststellungen teilweise aufzuheben und die Sache insoweit an eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§§ 353, 354 Abs. 2 StPO).
Die Entscheidung über die Kosten der Revision ist dem Landgericht vorzubehalten, weil der endgültige Erfolg des Rechtsmittels derzeit nicht absehbar ist.
Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig,
Anmerkung:
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