Gericht / Entscheidungsdatum: LG Frankfurt am Main; Beschl. v. 16.08.2024 – 5/30 Qs 41/24
Eigener Leitsatz:
Von einem Fall notwendiger Verteidigung ist regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen. Bei der Festsetzung der zu erwartenden Strafhöhe ist nicht auf Einzelstrafen, sondern auf die Gesamtstrafe abzustellen. Dies gilt auch für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung, soweit das anhängige Verfahren die Strafe nicht nur unwesentlich beeinflusst.
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
- Beschwerdeführer -
Verteidiger
wegen Verdachts einer Straftat nach den §§ 2, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG
hier: Sofortige Beschwerde gegen Ablehnung der Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger
wird auf die sofortige Beschwerde vom 26.08.2024 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 22.08.2024, Az. 974 Ds 359 Js 76437/23 (8/24), der Beschluss aufgehoben. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt pp. Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Dem Beschwerdeführer wird zur Last gelegt, am 24.11.2023 gegen 11:00 Uhr im Bereich der pp. -Straße in Frankfurt am Main vorsätzlich ein Kraftfahrzeug geführt zu
haben, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hatte.
Der Beschwerdeführer wurde bereits mehrfach wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt. Unter anderem wurde er am 11.04.2019 vom Amtsgericht Frankfurt am Main wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Mit - nicht rechtskräftigen - Urteil des Amtsgericht Hanau wurde der Beschwerdeführer zuletzt wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt (vgl. Vermerk des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 22.08.2024, BI. 63 rs.). Dem Urteil lag gemäß der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hanau eine Tat vom 27.08.2023 in N zugrunde.
Im vorliegenden Verfahren wurde der Beschwerdeführer am 04.04.2024 von der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis angeklagt. Der Verteidiger des Beschwerdeführers zeigte mit Schriftsatz vom 19.04.2024, eingegangen am selben Tag, an, dass ihn der Beschwerdeführer als Verteidiger beauftragt habe und versicherte dies anwaltlich. Am 24.06.2024 wurde die Anklage wegen der Tat am 24.11.2023 vom Amtsgericht Frankfurt am Main zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und Hauptverhandlungstermin auf den 28.08.2024 bestimmt.
Am 20.08.2024 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers, in dessen Namen, seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und kündigte für den Fall der Beiordnung die Niederlegung seines Wahlmandates an. Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen gebiete seine Beiordnung.
Mit Beschluss vom 22.08.2024, der dem Verteidiger am 26.08.2024 zugestellt wurde, wies das Amtsgericht Frankfurt am Maih den Antrag des Beschwerdeführers auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zurück. Zur Begründung führte es aus, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorlägen. Weder die Schwere der Tat noch die Schwere der Rechtsfolgen oder die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ließen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer sich nicht selbst verteidigen könne. Nach Rechtskraft der Entscheidung des Amtsgerichts Hanau und einer damit möglicherweise zu bildenden Gesamtstrafe könnten die Voraussetzungen jedoch
erneut zu prüfen sein.
Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer mit am 26.08.2024 eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz vom selben Tag sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung führte er aus, dass es bei der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen auf die Gesamtwirkung der Strafe ankomme. Hier erscheine eine Gesamtstrafenbildung von einem Jahr oder mehr im Hinblick auf das Verfahren vor dem Amtsgerichts Hanau nicht ausgeschlossen. Das Amtsgericht habe den Zeitpunkt des Erfordernisses der Prüfung der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO auf einen viel zu späten Zeitpunkt bestimmt. Im Übrigen sei der angegriffene Beschluss auch formell unwirksam und die Bekanntgabe unwirksam.
II.
Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 22.08.2024 ist zulässig. Sie ist gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft und wurde innerhalb der einwöchigen Frist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt.
Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Es handelte sich uni einen Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO. Danach ist ein Verteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.
Hier gebietet die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers.
Von einem Fall notwendiger Verteidigung ist regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen. Bei der Festsetzung der zu erwartenden Strafhöhe ist nicht auf Einzelstrafen, sondern auf die Gesamtstrafe abzustellen. Dies gilt auch für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung, soweit das anhängige Verfahren die Strafe nicht nur unwesentlich beeinflusst. Auch eine mögliche Gesamtstrafenbildung im Folgeverfahren ist zu berücksichtigen (vgl. Münchener Kommentar zur StPO/Kämpfer/Travers, 2. Auflage 2023, § 140 Rn. 28-34 m.w.N; vgl. auch BeckOK StPO/Krawcyk, 52. Edition, Stand: 01.07.2024, § 140 Rn. 23-26). Gleiches gilt ferner, wenn die Gesamtstrafe aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung und künftigen Verurteilungen aus noch nicht abgeschlossenen Verfahren gebildet werden wird (BeckOK StPO/Krawcyk, 52. Edition, Stand: 01.07.2024, § 140 Rn. 23-26 m.w.N.). Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der „Schwere der Tat" im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist damit in der Regel die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge die Entscheidung, ob dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist, von bloßen Zufälligkeiten, nämlich u.a. davon ab, ob die verschiedenen Verfahren verbunden werden oder nicht (vgl. KG, Beschluss vom 06.01,2017 —4 Ws 212/16, 161 AR 190/16, BeckRS 2017, 106064 m.w.N.).
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Da es sich bei der neuerlichen Anklage erneut um ein Delikt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis handelt, wegen dem der Beschwerdeführer bereits mehrfach erheblich vorbestraft ist und insbesondere zuletzt im Jahr 2019 vom Amtsgericht Frankfurt am Main zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt wurde, ist bei Bildung der Gesamtstrafe der Strafe wegen der hier zugrundeliegenden Tat mit der 8-monatigen Freiheitsstrafe aus der Verurteilung des Amtsgerichts Hanau, in diesem Fall eine Strafhöhe von über einem Jahr Freiheitsstrafe realistisch.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus der analogen Anwendung des § 467 StPO.
Einsender: RA T. Hein, Frankfurt am Main
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