Gericht / Entscheidungsdatum: OVG Lüneburg, Beschl. v. 23.09.2024 – 12 PA 27/24
Leitsatz des Gerichts:
Wurde die letzte Verwaltungsentscheidung in einem wegen Cannabis-Konsums geführten Fahrerlaubnis-Entziehungsverfahren vor dem 01.04,2024 erlassen, sind die Änderungen der Fahrerlaubnis-Verordnung durch das Inkrafttreten des Cannabisgesetzes am 01.04..2024 ebenso unerheblich wie die Änderungen des § 24a StVG durch das am 22. 08..2024 in Kraft getretene Sechste Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften.
In pp.
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 3. Kammer (Einzelrichter) - vom 27. Februar 2024 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens; außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der 1995 geborene Kläger wendet sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für eine am 27. April 2022 erhobene Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 28. März 2022 über die kostenpflichtige Entziehung der Fahrerlaubnis (u. a.) der Klasse B. Dieser Bescheid wurde seinen Verfahrens- und Prozessbevollmächtigten am 30. März 2022 zugestellt.
Nach einer Kraftfahrt vom 4. August 2021 unter dem Einfluss von Cannabis (Konzen-trationen im Blutserum: THC: 1,0 ng/ml und THC-Carbonsäure: 12,2 ng/ml) befolgte der Kläger die daraufhin ergangene und am 12. Februar 2022 zugestellte Anordnung des Beklagten vom 9. Februar 2022 nicht, sich binnen acht Tagen nach Zustellung dieser Anordnung einer ärztlichen Begutachtung mit Drogenscreening zu unterziehen und das daraufhin zu erstellende ärztliche Gutachten binnen 28 Tagen vorzulegen. Der Beklagte sah ihn deshalb gestützt auf die §§ 46 und 11 Abs. 8 FeV als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen an und entzog ihm kostenpflichtig unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis. Die Anordnung des Sofortvollzuges hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18. Mai 2022 – 6 B 52/22 – aufgehoben, weil sie entgegen § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht begründet worden war. Es hat allerdings mit seinem hier angegriffenen Beschluss vom 27. Februar 2024 die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Klage abgelehnt.
II.
Die zulässige Beschwerde gegen diesen Beschluss ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung des Klägers (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO) zu Recht verneint. Die Beschwerdegründe des Klägers rechtfertigen keine andere Entscheidung.
Die Änderungen der Fahrerlaubnis-Verordnung durch das Inkrafttreten des Cannabisgesetzes (BGBl. 2024 I Nr. 109) am 1. April 2024 sind für den vorliegenden Fall ebenso unerheblich (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.6.2024 - BVerwG 3 B 11.23 -, juris, Rn. 5) wie die Änderungen des § 24a StVG – namentlich in Gestalt der Einfügung eines Abs. 1a – durch das am 22. August 2024 in Kraft getretene Sechste Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (BGBl. I Nr. 266).
In Verfahren über Anfechtungsklagen gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist der für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt grundsätzlich derjenige des Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.6.2024 - BVerwG 3 B 11.23 -, a. a. O.), hier also derjenige des Erlasses der Entziehungsverfügung vom 28. März 2022 durch deren Zustellung (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 10.8.2020 - 12 LB 64/20 -, DAR 2021, 164 ff., hier zitiert nach juris, Rn. 31) am 30. März 2022. In Fällen, in denen die Fahrerlaubnisentziehung – wie hier – auf einer Verneinung der Fahreignung des Betroffenen nach Anwendung der Beweisregel (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 30.4.2024 - 12 ME 19/24 -, DVBl. 2024, 1046 ff., hier zitiert nach juris, Rn. 45, m. w. N.) des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV (i. V. m. § 46 Abs. 3 FeV) beruht, gilt allerdings die Besonderheit, dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der nicht befolgten behördlichen Begutachtungsanordnung auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt deren Erlasses ankommt (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 30.4.2024 - 12 ME 19/24 -, a. a. O., juris, Rn. 33, m. w. N.), und d. h. im vorliegenden Falle auf den Zeitpunkt der Zustellung dieser Anordnung am 12. Februar 2022.
War eine Begutachtungsanordnung zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig, ist in Anwendung der Beweisregel des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV zu beurteilen, ob unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Entziehungsentscheidung gegebenen gesamten Sachlage, insbesondere der damals für die Nichtvorlage des geforderten Gutachtens maßgeblichen Gründe, deshalb auf eine Nichteignung des Betroffenen geschlossen werden konnte, weil sich in der Nichtbeibringung des Gutachtens seine aktuelle Weigerung manifestierte, den notwendigen eigenen Teil zur Sachaufklärung beizutragen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 17.9.2019 - 12 ME 100/19 -, Blutalkohol 56, 416 ff., hier zitiert nach juris, Rn. 18). Da es dabei im Kern um die Beurteilung einer Tatsachenfrage geht, nämlich derjenigen, ob ein nicht kooperatives Verhalten des Betroffenen vorgelegen hat, das als ein – kraft der Beweisregel als entscheidend definiertes – Indiz für das Vorliegen der von der Behörde befürchteten Eignungsmängel spricht, muss diese Beurteilung vor ihrem damaligen rechtlichen Hintergrund erfolgen. Es wäre dagegen unhistorisch – und deshalb ein Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung – rückwirkend die Maßstäbe auszutauschen, anhand derer sich entscheidet, ob ein Betroffener hinreichend kooperierte.
Anders als wohl im Bußgeldverfahren (vgl. OLG Oldenburg, Beschl. v. 29.8.2024 - 2 ORbs 95/24 [1537 Js 37043/23] -, juris, Rn. 6) ist daher nicht etwa der Rechtsgedanke des § 4 Abs. 3 OWiG (wonach in dem Fall, in dem ein Gesetz, dass bei der Beendigung der Handlung gilt, vor der Entscheidung geändert wird, das mildeste Gesetz anzuwenden ist) in der Weise heranzuziehen, dass darauf abzuheben wäre, ob auch nach dem zwischenzeitlich geänderten Recht ein hinreichender Anlass für die (nicht befolgte) Anordnung einer Begutachtung bestanden hätte. Denn ein betroffener Fahrerlaubnisinhaber musste und konnte in der Vergangenheit seine Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung selbstverständlich nur an der damaligen Rechtslage ausrichten. Seine mangelnde Bereitschaft zu einer ihm damals obliegenden Mitwirkung verliert ihre indizielle Bedeutung aber nicht, wenn nach aktuellem Recht eine entsprechende Mitwirkung nicht (mehr) eingefordert würde. Die Richtigkeit dieser Sichtweise wird durch die Überlegung bestätigt, dass unter den aufgrund mangelnder Mitwirkung des Fahrerlaubnisinhabers behördlich nicht aufklärbaren Tatsachen (gerade) auch solche fahreignungsrelevanten Umstände sein können, die nach dem – ihm allerdings günstigeren – aktuellen Recht ebenfalls einen Fahreignungsmangel begründet hätten.
Da der Normgeber – anders als etwa im Strafrecht mit dem durch Art. 13 CanG eingefügten Art. 316p EGStGB – eine Übergangsregelung, aus der sich eine Rückwirkung der hier in Rede stehenden Rechtsänderungen ergäbe, nicht geschaffen hat, sind diese Änderungen für den vorliegenden Fall nicht relevant.
Auf der Grundlage der nach den vorstehenden Ausführungen jeweils maßgeblichen vormaligen Rechtslage ist dem Verwaltungsgericht darin zu folgen, dass gegen den angefochtenen Bescheid aller Voraussicht nach nichts zu erinnern ist.
Das gilt insbesondere mit Blick auf den von dem Kläger im Beschwerdeverfahren hervorgehobenen Umstand, dass das in seinem Blutserum nachgewiesene Cannabis (THC) lediglich in einer Konzentration von 1,0 ng/ml vorgefunden wurde, was – seines Erachtens – kein Beleg für eine unzureichende Trennung von Cannabiskonsum und Fahren ist.
Entgegen der Auffassung des Klägers bestand aber vor der jüngsten Änderung des § 24a StVG (unter Einfügung des neuen Abs. 1a) – und daher erst recht zuvor am 12. Februar 2022 – keine Veranlassung, von dem nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung maßgeblichen sogenannten analytischen Nachweisgrenzwert für THC bzw. Cannabisprodukte von 1 ng/ml THC im Blutserum abzuweichen (vgl. Bay. ObLG, Beschl. v. 2.5.2024 - 202 ObWi 374/24 -, NZV 2024, 277 f., hier zitiert nach juris, Rn. 5, m. w. N.). Der Beklagte ist daher bei dem Erlass seiner hiesigen Begutachtungsanordnung zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger zumindest einmalig, nämlich am 4. August 2021, gegen das Gebot (§ 24a Abs. 2 Satz 2 StVG a. F. sowie Nr. 9.2.2 der Anlage 4 a. F. zu den §§ 11, 13 und 14 FeV) verstoßen hatte, zwischen (Cannabis-) Konsum und Fahren zu trennen; denn dieser analytische Nachweisgrenzwert war während seiner Kraftfahrt in seinem Blutserum erreicht worden.
Die Empfehlung des Arbeitskreises II des 60. Deutschen Verkehrsgerichtstages vom 17. bis 19. August 2022 vermag daran nichts zu ändern.
Abgesehen davon, dass sie am 12. Februar 2022 noch nicht ausgesprochen war, wird in ihr nämlich Folgendes außer Acht gelassen: Der Einwand, der Grenzwert von 1,0 ng/ml THC im Blutserum liege so niedrig, dass er nicht zwingend einen Rückschluss auf eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung zulasse, sodass in einem nicht vertretbaren Umfang Betroffene sanktioniert würden, bei denen sich eine „Wirkung" im Sinne einer möglichen Verminderung der Fahrsicherheit aus wissenschaftlicher Sicht nicht tragfähig begründen lasse, kann nicht überzeugen. Denn das Trennungsgebot knüpfte sowohl gemäß § 24a Abs. 2 Satz 2 StVG a. F. als auch nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 a. F. (zu den §§ 11, 13 und 14 FeV) an einen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden „Risikogrenzwert“ an, für dessen Bestimmung es nur darauf ankam, ab welchem THC-Wert eine cannabisbedingte Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit möglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2014 - BVerwG 3 C 3.13 -, DAR 2014, 711 f., hier zitiert nach juris, Rnrn. 34 bis 37). Der Meinung des Arbeitskreises II, dies führe in der Praxis dazu, dass in einem „nicht vertretbaren“ Umfang Betroffene sanktioniert würden, musste der Normgeber deshalb nicht folgen; sie lässt sich daher nur einer objektiv rechtspolitischen Argumentationsebene zuordnen.
Die hiesige Anordnung der (zunächst nur ärztlichen) Begutachtung zur Klärung des Konsummusters des Klägers ist daher voraussichtlich nicht zu beanstanden. Ihre Nichtbefolgung dürfte zu Recht aufgrund der am 30. März 2022 maßgeblichen Sach- und Rechtslage zur Anwendung des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV, zur Entziehung der Fahrerlaubnis des Klägers und zu den entsprechenden Folgeentscheidungen des angefochtenen Bescheides geführt haben.
Der Kostenausspruch beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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