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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Schwere der Rechtsfolge, laufendes Ermittlungsverfahren, Gesamtstrafe

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.09.2024 – 18 Qs 34/24

Leitsatz des Gerichts:

Die für die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO maßgebliche Schwelle von einem Jahr ist bezogen auf ein noch laufendes Ermittlungsverfahren auch dann erreicht, wenn im Falle der Anklageerhebung in diesem Verfahren mit der Strafe in einem bereits zur Anklage gebrachten Verfahren eine Gesamtstrafe gebildet werden müsste, die diese Schwelle erreicht.


In pp.

1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 19.07.2024, Az.: 473 Gs 884/24, aufgehoben.
2. Dem Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
3. Die Kosten des Rechtsmittels und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth führt gegen den Beschuldigten unter dem Az.: 951 Js 163055/24 ein Ermittlungsverfahren wegen Vergehens nach dem Gewaltschutzgesetz.

Dem Beschuldigten liegt zur Last, am 30.03.2024 gegen 22:25 Uhr seiner ehemaligen Lebensgefährtin E. R. auf dem Nürnberger Volksfest gefolgt zu sein. Sodann soll er der Geschädigten in seinem Auto gefolgt sein, als diese gegen 23:10 Uhr vom Parkplatz am Volksfest wegfuhr. Gegen den Beschuldigten war zuvor mit Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 19.03.2024, Az.: 203 F 345/24, eine einstweilige Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erlassen worden. Dem Beschuldigten war es demnach gem. Ziff. 1.8 des Beschlusses untersagt, ein Zusammentreffen mit E. R. herbeizuführen. Sollte es zu einem zufälligen Zusammentreffen kommen, hatte der Beschuldigte sich unverzüglich zu entfernen.

Mit Schriftsatz vom 16.04.2024 beantragte Rechtsanwalt pp. seine Beiordnung als Pflichtverteidiger unter Verweis auf das weitere gegen den Beschuldigten bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth geführte Ermittlungsverfahren, Az.: 951 Js 161267/24. In jenem Verfahren liegen dem Beschuldigten gefährliche Körperverletzung, versuchte gefährliche Körperverletzung, Bedrohung und Sachbeschädigung zur Last. Am 16.03.2024 gegen 02:45 Uhr soll der Beschuldigte mehrfach mit einem Messer in Richtung des Gesichts von E. R. gestochen haben, wobei er die Geschädigte entgegen seiner Vorstellung jedoch nicht traf. Am 17.03.2024 gegen 23:10 Uhr soll der Beschuldigte W. R. verletzt haben, indem er mit einer Gartenharke fünf- bis sechsmal auf den Kopf und den Oberkörper des Geschädigten einschlug und diesem Reizstoff ins Gesicht sprühte. Ferner soll er W. R. mit dem Tod bedroht und das Auto von W. R. beschädigt haben. Wegen der Taten vom 17.03.2024 erließ das Amtsgericht Fürth - Ermittlungsrichter - am 18.03.2024 einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten, welcher gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt wurde, Az.: 473 Gs 395/24. Im Rahmen der Haftvorführung wurde dem Beschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 19.07.2024 wurde der Antrag von Rechtsanwalt pp., ihn zum Pflichtverteidiger des Beschuldigten im Verfahren Az.: 951 Js 163055/24 zu bestellen, abgelehnt. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1, 2 StPO nicht vorliege. Der Beschluss wurde dem Verteidiger am 24.07.2024 und dem Beschuldigten am 25.07.2024 zugestellt.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 24.07.2024 legte der Beschuldigte gegen den Beschluss vom 19.07.2024 sofortige Beschwerde ein und begründete diese damit, dass aufgrund der notwendigen Verteidigung im Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 auch im hiesigen Verfahren ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben sei.

Die Akten wurden dem Beschwerdegericht mit Verfügung des Amtsgerichts Fürth vom 02.08.2024 vorgelegt.

Mit Verfügung vom 06.08.2024 erhob die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth im Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 Anklage zum Amtsgericht Fürth - Schöffengericht.

II.

Die sofortige Beschwerde ist gem. §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässig und begründet.

1. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO ist ein Fall notwendiger Verteidigung anzunehmen, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Nach herrschender Meinung ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der aufgrund der Schwere der Tat, bzw. der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist. Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei Gesamtstrafenbildung, denn maßgeblich ist der Umfang der Rechtsfolgen, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind, nicht die Höhe der Einzelstrafen. Dies gilt auch, wenn die Gesamtstrafe aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung und künftigen Verurteilungen aus noch nicht abgeschlossenen Verfahren gebildet werden wird (BeckOK StPO/Krawczyk, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 140 Rn. 24 m.w.N). Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Verteidigers hinge sonst von bloßen Zufälligkeiten, nämlich von der Frage ab, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht (LG Magdeburg, Beschl. v. 01.06.2022, 21 Qs 23/22 m.w.N.). Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt hingegen nicht vor, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird (OLG Stuttgart, Beschl. v. 02.03.2012, 2 Ws 37/12 m.w.N.).

2. Unter Würdigung dieser Vorgaben ist ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

a) Dem Beschuldigten droht bei Bildung einer Gesamtstrafe mit der im Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 zu erwartenden Verurteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat gegen den Beschuldigten im Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 Anklage zum Schöffengericht erhoben. Dies bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass gegen den Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verhängt werden wird, vgl. § 28 i.V.m. § 25 Nr. 2 GVG.

Das Gesetz sieht für Vergehen nach dem Gewaltschutzgesetz Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe vor, § 4 GewSchG. Im vorliegenden Verfahren liegen dem Beschuldigten zwei derartige Verstöße zur Last. Im Falle einer Verurteilung wäre mit einer Strafe aus dem Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 eine (nachträgliche) Gesamtstrafe zu bilden. Unter Zugrundelegung der Straferwartung, welche die Anklage zum Schöffengericht impliziert, ist davon auszugehen, dass gegen den Beschuldigten eine (nachträgliche) Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verhängt würde.

Es kommt dabei nicht darauf an, dass der Beschuldigte im vorliegenden Strafverfahren isoliert betrachtet keine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten hat. Es ist nicht davon auszugehen, dass allein wegen der Taten im hiesigen Verfahren gegen den Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt würde. Denn die Verstöße gegen den Beschluss gem. § 1 GewSchG stellen sich jeweils nicht besonders gravierend dar. Der Beschuldigte hat die Geschädigte nicht angesprochen oder gar körperlich angegangen. Zudem liegt die Verurteilung des Beschuldigten wegen Nachstellung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen mit Strafbefehl des Amtsgerichts Fürth vom 08.11.2019 fast fünf Jahre zurück.

b) Es ist ohne Belang, dass gegen den Beschuldigten im hiesigen Verfahren noch keine Anklage erhoben wurde.

Denn aus § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO folgt, dass die Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich zu erfolgen hat, wenn dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet worden ist. Vorliegend wurde dem Beschuldigten der Tatvorwurf mit seiner Ladung zur Beschuldigtenvernehmung am 08.04.2024 eröffnet, sodass auf den entsprechenden Antrag des Verteidigers vom 16.04.2024 hin dessen Bestellung zum Pflichtverteidiger angezeigt gewesen wäre.

c) Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die verfahrensgegenständliche Tat im Falle ihrer Anklage und Verurteilung die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen würde.

Vor dem Hintergrund, dass der Beschuldigte nur zwei Wochen nach der versuchten gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil seiner ehemaligen Lebensgefährtin gegen den im Nachgang hierzu erwirkten Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 19.03.2024 verstieß, ist davon auszugehen, dass dem Beschuldigten im hiesigen Verfahren eine nicht nur unerhebliche Strafe, möglicherweise eine Freiheitsstrafe droht. Diese würde dann auch im Rahmen einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit einer Strafe aus dem Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 nicht nur unerheblich ins Gewicht fallen. Andererseits liegt in dem Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 kein bereits für sich genommen so gewichtiger Tatvorwurf vor, dass der Unrechtsgehalt der vorliegenden Straftaten dem gegenüber gänzlich in den Hintergrund treten würde.

III.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer analogen Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO..


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