Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Saarbrücken, Beschl. v. 13.08.2024 – 1 Ws 152/24
Leitsatz des Gerichts mit Ergänzungen/Änderungen:
1. Die Verwertbarkeit von Daten, die über den Kryptomessengerdienst ANOM gewonnen wurden, richtet sich nach denselben Grundsätzen (BGHSt 67, 29) wie die Verwertbarkeit von Daten des Anbieters EncroChat.
2. Die Daten dürfen in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, aufgrund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden. Die Straftat muss auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein.
3. Für die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen ist auf den Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen. Liegt demnach aufgrund der zum 1.4.2024 durch das Cannabisgesetz in Kraft getretenen Neuregelungen zum Verwertungszeitpunkt keine Katalogtat nach § 100b Abs. 2 StPO mehr vor, scheidet die Verwertbarkeit der ANOM-Chatprotokolle aus und dürfen diese zur Begründung eines dringenden Tatverdachts nicht herangezogen werden.
In pp.
1. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Saarbrücken gegen die mit Beschluss des Landgerichts Saarbrücken – 6. Große Strafkammer – vom 22. Juli 2024 erfolgte Teilaufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14. Dezember 2022 (Az.: 7 Gs 737/22) wird als unbegründet verworfen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Angeschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gründe
I.
In dem vorliegenden Verfahren hat das Amtsgericht Saarbrücken mit Haftbefehl vom 14. Dezember 2022 (Az.: 7 Gs 737/22, Bl. 137 ff. d.A.) gegen den Angeschuldigten die Untersuchungshaft angeordnet. In dem – auf die Haftgründe der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), im Falle der Ergreifung der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) sowie subsidiär der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO) gestützten – Haftbefehl wird dem Angeschuldigten zur Last gelegt, im Tatzeitraum April/Mai 2021 in fünf Fällen jeweils im zweitstelligen Kilobereich mit Marihuana Handel getrieben zu haben (Ziffern 1. - 5. des Haftbefehls), wobei die Taten gemäß damaliger Rechtslage als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 StGB eingeordnet wurden. Nach dem Inhalt des Haftbefehls soll sich der dringende Tatverdacht insbesondere aus „den Erkenntnissen der Telekommunikationsüberwachung, der Anom-Chatauswertung und den Observationen“ ergeben.
Nachdem der Angeschuldigte aufgrund einer SIS-Ausschreibung am 14. März 2024 in Kroatien festgenommen wurde, sich anschließend dort in Auslieferungshaft befand und am 22. Mai 2024 nach Deutschland ausgeliefert wurde, befindet er sich seither aufgrund des vorgenannten Haftbefehls in Untersuchungshaft.
Mit Anklageschrift vom 1. Juli 2024 (Bl. 499 ff. d.A.) hat die Staatsanwaltschaft Saarbrücken wegen der fünf haftbefehlsgegenständlichen Taten (Ziffern 1. - 5. der Anklage) sowie wegen zwei weiterer Taten, die nicht Gegenstand des Haftbefehls sind (Ziffern 6. und 7. der Anklage), Anklage zum Landgericht Saarbrücken erhoben.
Nach einem am 22. Juli 2024 auf Antrag des Verurteilten durchgeführten mündlichen Haftprüfungstermin (Bl. 521 f. d.A.) hat die zuständige 6. Große Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken mit Beschluss vom selben Tag (Bl. 523 ff. d.A.) den Haftbefehl des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14. Dezember 2022 bezüglich der Ziffern 1. bis 3. sowie 5. aufgehoben (Ziffer 1. des Beschlusstenors). Im Übrigen, nämlich bezüglich der Tat Ziffer 4. des Haftbefehls, hat das Landgericht den Haftbefehl mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass sich die Strafbarkeit nach den §§ 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 Satz 2 Nrn. 1 und 4, 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG richte und es sich bei der Tat Ziffer 4. lediglich um 5 kg Cannabis handele (Ziffer 2. des Beschlusstenors). Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt:
Bezüglich der Taten Ziffern 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls sei der Angeschuldigte nicht mehr dringend tatverdächtig. Insoweit habe sich der dringende Tatverdacht gegen ihn ausschließlich aus der über den Kryptomessengerdienst ANOM geführten Kommunikation ergeben. Die erhobenen Daten unterlägen jedoch unter Zugrundelegung der vom Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 3. März 2022 (5 StR 457/21, BGHSt 67, 29 ff.) zur Verwertbarkeit der von französischen Behörden übermittelten Daten von Nutzern des Anbieters EnroChat entwickelten Maßstäbe nach Einführung des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz) vom 27. März 2024 in den Fällen 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls einem Beweisverwertungsverbot, da diese Taten keine Katalogtaten i. S. des § 100b Abs. 2 StPO n.F. mehr darstellten und für die Frage der Verwertbarkeit der Kommunikation über ANOM nicht auf den Zeitpunkt abzustellen sei, zu dem das Beweismittel Eingang in das Strafverfahren gefunden hat, sondern auf den Zeitpunkt, zu dem die Beweisergebnisse verwertet werden sollen. Bezüglich der Tat Ziffer 4. des Haftbefehls sei der Angeschuldigte hingegen weiterhin dringend verdächtig, da der dringende Tatverdacht insoweit auf den Angaben des gesondert verfolgten V. beruhe.
Gegen die unter Ziffer 1. des Tenors des Beschlusses des Landgerichts Saarbrücken vom 22. Juli 2024 erfolgte Teilaufhebung des Haftbefehls wendet sich die Staatsanwaltschaft Saarbrücken mit ihrer Beschwerde vom 23. Juli 2024. Sie meint, es liege auch in den Fällen 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls vom 14. Dezember 2022 dringender Tatverdacht vor. Entgegen der Auffassung des Landgerichts seien die ANOM-Daten auch nach Einführung des Cannabisgesetzes verwertbar. Zur Begründung ihrer Ansicht stützt sich die Staatsanwaltschaft auf einen – EncroChat-Daten betreffenden – Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 13. Mai 2024 (1 Ws 32/24, juris), wonach entscheidend sei, dass die Daten vor dem Inkrafttreten des Cannabisgesetzes am 1. April 2024 rechtmäßig als Beweismittel in das Verfahren eingeführt wurden.
Das Landgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere kann – wie im vorliegenden Fall – die Staatanwaltschaft mit der Beschwerde in zulässiger Weise das Ziel der Wiedereinbeziehung einzelner, durch die angefochtene Entscheidung ausgeschiedener Tatvorwürfe verfolgen (vgl. Löwe-Rosenberg/Lind, StPO, 27. Aufl., § 114 Rn. 36; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 117 Rn. 10).
Die Beschwerde ist indes unbegründet. Das Landgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung angenommen, dass hinsichtlich der Taten Ziffern 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14. Dezember 2022 ein dringender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten nicht mehr besteht, und dementsprechend den Haftbefehl insoweit aufgehoben.
1. Der für die Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderliche dringende Tatverdacht gegen einen Beschuldigten darf nur aus bestimmten Tatsachen, nicht aus bloßen Vermutungen hergeleitet werden (vgl. Löwe-Rosenberg/Lind, a.a.O., § 112 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 112 Rn. 7). Bestimmte Tatsachen und sie stützende Beweismittel dürfen nur genutzt werden, wenn sie gerichtsverwertbar, also vor Gericht zu Beweiszwecken verwertbar sind, so dass Beweisverwertungsverbote zu beachten sind (vgl. BGH NStZ 2019, 539, 541; Löwe-Rosenberg/Lind, a.a.O., § 112 Rn. 24; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 112 Rn. 5).
2. Gemessen hieran kann ein dringender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten hinsichtlich der Taten Ziffern 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14. Dezember 2022 nicht mehr auf den Inhalt des Chatverkehrs, der von dem Angeschuldigten unter der Kennung „queenread“ über den Kryptomessenger-Dienst ANOM zur Abwicklung von Cannabisgeschäften mit Dritten geführt wurde, gestützt werden.
a) Zwar ist nach überwiegender, vom Senat geteilter Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich von der Möglichkeit der Verwertbarkeit der den deutschen Ermittlungsbehörden vom US-amerikanischen Federal Bureau of Investigation (FBI) zur Verfügung gestellten Daten über die Kommunikation, die über die verschlüsselte Kommunikationsplattform ANOM geführt wurde, auszugehen (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 – 1 HEs 427/21 –, StrFo 2002, 203 f.; Beschluss vom 14. Februar 2022 – 1 HEs 509/21 –, BeckRS 2022, 5572; Saarländisches OLG, Beschluss vom 30. Dezember 2022 – 4 HEs 35/22 –, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. Januar 2024 – 3 Ws 353/23 –, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. April 2024 – H 4 Ws 123/24 –, https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschlüsse/inhalte/8522.htm; a.A. – nicht tragend – OLG München, Beschluss vom 19. Oktober 2023 – 1 Ws 525/23 –, juris).
b) Jedoch besteht im vorliegenden Fall hinsichtlich der – im Hinblick auf den durch das Rechtsmittel beschränkten Umfang des Beschwerdegegenstands allein der Überprüfung durch den Senat unterliegenden – Taten Ziffern 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14. Dezember 2022 nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz – CanG) vom 27. März 2024 (BGBl I, Nr. 109) am 1. April 2024 ein Beweisverwertungsverbot.
aa) Rechtsgrundlage für die Verwertung von in einer Hauptverhandlung zu erhebenden Beweisen ist § 261 StPO, unabhängig davon, ob diese zuvor im Inland oder auf sonstige Weise – etwa im Wege der Rechtshilfe – erlangt worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21 –, BGHSt 67, 29 ff., juris Rn. 25). Denn die Frage, ob im Wege der Rechtshilfe erlangte Beweise verwertbar sind, richtet sich ausschließlich nach dem nationalen Recht des um Rechtshilfe ersuchenden Staates, soweit – wie hier – der um Rechtshilfe ersuchte Staat die unbeschränkte Verwendung der von ihm erhobenen und übermittelten Beweisergebnisse gestattet hat (vgl. BGH, a.a.O., juris Rn. 26). Da die in Grundrechte eingreifenden Ermittlungsmaßnahmen anders als bei inneren oder im Wege der europäischen Rechtshilfe ersuchten ausländischen Ermittlungsmaßnahmen nicht schon bei deren Anordnung, etwa durch Beschränkung auf besonders schwere Straftaten oder Fälle qualifizierten Verdachts, limitiert werden können, sind die dadurch möglichen Unterschiede bei den Eingriffsvoraussetzungen auf der Ebene der Beweisverwendung zu kompensieren. Hierfür kann auf die in strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen verkörperten Wertungen zurückgegriffen werden, mit denen der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei vergleichbar eingriffsintensiven Mitteln Rechnung trägt (vgl. BGH, a.a.O., juris Rn. 68).
bb) Zwar ist die Vorschrift des § 100e Abs. 6 StPO auf die vorliegende Konstellation nach ihrem Wortlaut nicht anwendbar, da die in Rede stehenden Daten nicht durch Maßnahmen nach §§ 100b, 100c StPO gewonnen wurden (vgl. BGH, a.a.O., juris Rn. 65). Jedoch hat der Bundesgerichtshof zur Verwertung von Daten von Nutzern des Kommunikationsdienstes EncroChat, die von französischen Ermittlungsbehörden auf der Grundlage einer Europäischen Ermittlungsanordnung übermittelt wurden, entschieden, dass aus von Verfassungs wegen gebotenen Verhältnismäßigkeitsgründen die in jener Vorschrift verkörperte Wertung entsprechend heranzuziehen ist (vgl. BGH, a.a.O., juris Rn. 25). Dementsprechend hat er aufgrund der besonderen Intensität der Grundrechtseingriffe durch die heimlichen Ermittlungsmaßnahmen, die durch die Verwertung derart erlangter Beweise im Strafverfahren im Sinne eines eigenständigen Eingriffs in das geschützte Grundrecht vertieft werden, zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – auch um jede denkbare Benachteiligung auszuschließen – die Grundgedanken der Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau (§ 100e Abs. 6 StPO) „fruchtbar gemacht“ (vgl. BGH, a.a.O., juris Rn. 67 f.).
cc) Da durch die im vorliegenden Fall in Rede stehende Verwendung von Daten, die durch einen ohne Wissen des Angeschuldigten mit technischen Mitteln erfolgten Eingriff in das von ihm genutzte informationstechnische System, nämlich mittels einer Falltür (master key), die in das Verschlüsselungssystem des von ihm verwendeten Messengerdienstes ANOM eingebaut war (vgl. zur Funktionsweise nur: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. Januar 2024 – 3 Ws 353/23 –, juris Rn. 6 f.), gewonnen wurden, in vergleichbarer Weise in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Angeschuldigten in Gestalt des Rechts auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme (vgl. BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 – 1 BvR 370/07 und 595/07 –, BVerfGE 120, 274), eingegriffen würde, ist § 100e Abs. 6 StPO als Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau auch hier heranzuziehen (so zur Verwendung von ANOM-Daten ausdrücklich: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. Januar 2024 – 3 Ws 353/23 –, juris Rn. 9; OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. April 2024 – H 4 Ws 123/24 –, https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschlüsse/inhalte/8522.htm; Köhler in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 100e Rn. 23j; ebenso für den Messengerdienst SKyECC: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. Juli 2024 – 3 Ws 221/24 –, https://burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/8649.htm).
dd) Daraus folgt, dass eine Beweisverwertung von Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensführung stets unzulässig ist und darüber hinaus die erlangten Beweisergebnisse aus dem ANOM-Komplex in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer auch im Einzelfall besonders schwerwiegenden Straftat im Sinne des § 100b Abs. 2 StPO verwendet werden dürfen, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos ist (vgl. BGH, a.a.O., juris Rn. 69).
(1) Für die Prüfung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist auf den Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 70; Köhler in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 100e Rn. 23e). Soweit demgegenüber das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg in seinem Beschluss vom 13. Mai 2024 (1 Ws 32/24), auf den die Staatsanwaltschaft ihre Beschwerde stützt, mit seine Entscheidung nicht tragenden Erwägungen meint, es sprächen „gute Gründe“ dafür, dass es für die Verwertbarkeit nach § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht auf den Zeitpunkt ankommt, in dem die betroffenen Beweismittel Eingang in das Strafverfahren gefunden haben (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 13. Mai 2024 – 1 Ws 32/24 –, juris Rn. 68 ff.), da rechtliche Veränderungen ebenso zu behandeln seien wie nachträgliche Veränderungen der tatsächlichen Verdachtslage, weicht es damit nicht nur ausdrücklich von der gegenteiligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie der übrigen Oberlandesgerichte ab, sondern diese Auffassung überzeugt auch nicht (ebenso OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. Juli 2024 – 3 Ws 221/24 –, https://burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/8649.htm). Vielmehr ist bei Änderungen der Rechtslage – mangels Übergangsbestimmungen – auf den Zeitpunkt der Verwendung der Informationen abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2008 – 3 StR 342/08 –, BGHSt 53, 64 ff., juris Rn. 13; Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12 –, BGHSt 58, 32 ff., juris Rn. 45; KG Berlin, Beschluss vom 30. April 2024 – 5 Ws 67/24 –, juris Rn. 22). Denn in der Verwendung der aus einem anderen Strafverfahren stammenden personenbezogenen Daten in einem anhängigen Verfahren und in deren Verwertung in der dieses Verfahren abschließenden Entscheidung liegt ein eigenständiger Grundrechtseingriff. Ob eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff besteht, kann lediglich nach der für den Verwendungs- und Verwertungszeitpunkt geltenden Rechtslage beurteilt werden. Bei sich im Verlaufe eines anhängigen Strafverfahrens ändernden strafprozessualen Vorschriften ist daher die neue Rechtslage maßgebend (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12 –, BGHSt 58, 32 ff., juris Rn. 45 m.w.N.; OLG Karlsruhe, a.a.O.).
(2) Danach liegen die Voraussetzungen für eine Beweisverwertung der ANOM-Chatprotokolle nach der gebotenen strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung im vorliegenden Verfahren nicht mehr vor. Zu den Katalogtaten des § 100b Abs. 2 StPO gehört zwar das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG (§ 100b Abs. 2 Nr. 5b) StPO), der auf das dem Angeschuldigten unter Ziffern 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14. Dezember 2022 zur Last gelegte Verhalten bislang zur Anwendung kam. Dieser Straftatbestand umfasst nach der am 1. April 2024 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuregelung durch das Cannabisgesetz vom 27. März 2024 jedoch nicht mehr den hier in Rede stehenden Umgang mit Cannabis. Cannabis unterfällt aufgrund der in Art. 3 CanG geregelten Änderungen des Betäubungsmittelgesetzes nicht mehr jenem Gesetz. Vielmehr sind die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Cannabis in nicht geringer Menge nach dem als Art. 1 des Cannabisgesetzes neu eingeführten Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis (Konsumcannabisgesetz – KCanG) nunmehr nur noch als Handeltreiben mit Cannabis (in einem besonders schweren Fall) gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 Nrn. 1 und 4 KCanG strafbar. Durch die gesetzliche Neuregelung hat das Handeltreiben mit Cannabis in nicht geringer Menge nicht nur seinen Verbrechenscharakter, sondern auch seine Eigenschaft als Katalogtat nach § 100b Abs. 2 StPO verloren. Denn von den in § 34 KCanG geregelten Strafvorschriften sind nach der durch Art. 13a Nr. 2 des Cannabisgesetzes zugleich neu eingefügten Vorschrift des § 100 Abs. 2 Nr. 5a StPO lediglich die Verbrechenstatbestände nach § 34 Abs. 4 Nr. 1, Nr. 3 oder Nr. 4 KCanG (gewerbsmäßige Ab- oder Weitergabe von Cannabis an ein Kind oder einen Jugendlichen, bandenmäßige Begehung, bewaffnetes Handeltreiben pp.), für deren Vorliegen es hier an Anhaltspunkten fehlt, als besonders schwere Straftaten im Sinne des § 100b Abs. 1 Nr. 1 StPO und damit als Katalogtaten bestimmt.
(3) Liegt demnach aufgrund der zum 1. April 2024 durch das Cannabisgesetz in Kraft getretenen Neuregelungen zum jetzigen Zeitpunkt keine Katalogtat nach § 100b Abs. 2 StPO mehr vor, scheidet die Verwertbarkeit der ANOM-Chatprotokolle aus und dürfen diese zur Begründung eines dringenden Tatverdachts nicht herangezogen werden (ebenso OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. April 2024 – H 4 Ws 123/24 –, https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschlüsse/inhalte/8522.htm; KG Berlin, Beschluss vom 30. April 2024 – 5 Ws 67/24 –, juris Rn. 22 ff.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. Juli 2024 – 3 Ws 221/24 –, https://burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/8649.htm). Soweit das Oberlandesgericht Celle dem unter ausdrücklicher Ablehnung der vorgenannten Entscheidung des Kammergerichts in einem die Frage der Verwertbarkeit von EncroChat-Daten betreffenden Fall mit der Erwägung entgegentritt, den Ausführungen des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom 2. März 2022 (5 StR 457/21, a.a.O., juris Rn. 68 ff.) lasse sich nicht entnehmen, dass zur Aufklärung eines Sachverhalts, der nicht mehr unter den Katalog des § 100b Abs. 2 StPO subsumiert werden kann, eine Verwendung der EncroChat-Daten ausnahmslos ausscheide, sondern es sei in diesem Fall eine Einzelfallprüfung erforderlich, weil die vom Bundesgerichthof verlangte Verhältnismäßigkeitsprüfung auch anders vorgenommen werden könne als durch den von diesem vorgenommenen Rückgriff auf die „Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau (§ 100e Abs. 6 StPO)“ und anders als – wie es der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung getan hat – auf eine Art und Weise, die „jede denkbare Benachteiligung“ ausschließt, vermag der Senat dem nicht beizutreten. Der Senat versteht die Ausführungen des Bundesgerichtshofs – anders als das Oberlandesgericht Celle – dahin, dass die Beweisverwertung der EncoChat-Protokolle ohne Einwilligung der überwachten Person der von Verfassungs wegen gebotenen strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung nur dann standhält, wenn sie nicht Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensführung betrifft und sie zudem – der Wertung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO entsprechend – zur Aufklärung einer Straftat, aufgrund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden soll. Dementsprechend hat der 4. Strafsenat, nachdem er sich den Gründen des Beschlusses des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 2. März 2022 (5 StR 457/21, a.a.O.) angeschlossen hatte (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 4 StR 63/22 –, juris), in einer späteren Entscheidung daran festgehalten, dass die Wertungen des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO i.V.m. § 100b StPO „eine im Rahmen der Anwendung von § 261 StPO zu beachtende Verwendungsbeschränkung bilden“, die bei der Beweisrechtshilfe dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 2023 – 4 StR 93/22 –, juris Rn. 9). Liegt – wie hier – aufgrund einer eingetreten Gesetzesänderung keine Katalogtat im Sinne des § 100b Abs. 2 StPO mehr vor, scheidet deshalb eine Verwertbarkeit der Daten aus. Diese zur Verwertbarkeit von EncroChat-Protokollen entwickelten Maßstäbe des Bundesgerichtshofs gelten für die hier in Rede stehende Frage der Verwertung von ANOM-Chatprotokollen erst recht, da die Intensität des mit der Verwertung dieser Daten verbundenen Grundrechtseingriffs im Hinblick darauf, dass die ANOM-App vom US-amerikanischen FBI mit dem Ziel entwickelt und dem Markt verdeckt zur Verfügung gestellt wurde, die über den Server des Providers ANOM laufende, Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation aufgrund gerichtlicher Anordnung eines bislang nicht näher benannten EU-Mitgliedstaates, in dem der Server gelegen ist, zu erheben und mittels eines bei der Entwicklung angehefteten Mater-Keys zu entschlüsseln (vgl. hierzu Saarländisches OLG, Beschluss vom 30. Dezember 2022 – 4 HEs 35/22 –, juris Rn. 4 f.), noch deutlich größer als bei der Verwertung der EnroChat-Protokolle ist.
3. Weitere Beweismittel, die einen dringenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten begründen könnten, liegen – wie das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss mit Recht und von der Beschwerde unbeanstandet angenommen hat – bezüglich der Taten Ziffern 1. bis 3. und 5. des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14. Dezember 2022 nach dem derzeitigen Verfahrensstand nicht vor. Soweit die Staatsanwaltschaft zum wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in der Anklageschrift vom 1. Juli 2024 mitgeteilt hat, dass der gesondert verfolgte V. angegeben habe, bei den Übergaben des Marihuanas an den gesondert verfolgten K. am 30. April 2021 (Tat Ziffer 4. der Anklage und des Haftbefehls) und am 29. Mai 2021 (Tat Ziffer 5. der Anklage und des Haftbefehls) in der Garage dabei gewesen zu sein, lassen die Angaben des V. in dessen polizeilicher Vernehmung vom 29. Dezember 2022 (Bl. 161 ff. d.A.), der Angeschuldigte habe in einem alten silbernen, in der Tiefgarage des Anwesens P.straße in S. abgestellten BMW Marihuana gelagert und er – V. – sei „bei 6 bis 8 Marihuanaübergaben“ zwischen dem Angeschuldigten und K. „selbst dabei“ gewesen, wobei eines dieser Treffen in der genannten Tiefgarage stattgefunden habe, eine konkrete Zuordnung jedenfalls weder zur Tat Ziffer 5. noch zu den Taten Ziffern 1. bis 3. des Haftbefehls zu. Ein dringender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten kann auch nicht aus den von der Staatsanwaltschaft im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur Begründung eines hinreichenden Tatverdachts herangezogenen Observationen hergeleitet werden, da dies sich ausweislich Sonderhefts „Observation“ nicht auf den Tatzeitraum (April/Mai 2021), sondern auf den Zeitraum April bis Juni 2022 bezogen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.
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