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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Rückwirkung, Bestellung, Zulässigkeit, Unverzüglichkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Halle, Beschl. v. 14.06.2024 - 3 Qs 56/24

Eigener Leitsatz:

1. Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist jedenfalls dann vorzunehmen, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.
2. Eine Vorlage des Antrages auf Bestellung des Pflichtverteidigers beim zuständigen Ermittlungsrichter mehr als drei Wochen nach dem (erstmaligen) Eingang des Antrages bei der Polizei ist nicht mehr unverzüglich.


Landgericht Halle

3 Qs 56/24

In pp.

Verteidiger:

hat die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Halle als Beschwerdekammer durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter am Landgericht und die Richterin am Landgericht am 14.06.2024 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des früheren Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Naumburg vom 04.04.2024 (Az.: 9 Gs 733 Js 203347/24 (171/24)) aufgehoben.
Dem ehemaligen Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp als Pflichtverteidiger bestellt, § 140 Abs. 2 StPO.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg führte gegen den ehemaligen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Fahrens ohne Fahrerlaubnis unter dem Aktenzeichen 733 Js 203347/24.

Mit Übersendung einer Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung vom 06.03.2024 wurde dem ehemals Beschuldigten durch die ermittelnde Polizeibehörde der Tatvorwurf bekanntgegeben.

Mit anwaltlichem Faxschreiben vom 12.03.2024, bei dem Polizeirevier in Weißenfels am 13.03.2024 eingegangen, beantragte der ehemalige Beschuldigte, ihm Rechtsanwalt Pp. aus Brauschweig als Pflichtverteidiger beizuordnen. Mit einem anwaltlichen Schriftsatz per elektronischer Post an das Amtsgericht Naumburg vom 12.03.2024, dort am 14.03.2024 eingegangen, beantragte der ehemalige Beschuldigte ebenfalls, ihm Rechtsanwalt Pp. aus Brauschweig als Pflichtverteidiger beizuordnen, und begründete dies damit, dass er wegen einer vorherigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten unter Bewährung stehe. Akteneinsicht beantragte der Verteidiger hingegen nicht.

Die Polizei übersandte daraufhin die Sachakte, bestehend aus 34 Seiten, zeitnah mit Verfügung vorn 14.03.2024 an die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg, wo sie am 15.03.2024 einging. Dort wurde die Akte am 15.03.2024 in das Register eingetragen und dem zuständigen Dezernenten vorgelegt. Eine Übersendung der Akte an den für die Entscheidung über den Beiordnungsantrag vom 12.03.2024 zuständigen Ermittlungsrichter erfolgte hingegen nicht.

Mit Verfügung vom 25.03.2024 wurde von der zuständigen Dezernentin das Ermittlungsverfahren gemäß § 154 Abs. 1 StPO vorläufig eingestellt. Laut dieser Verfügung sollte dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt werden und es sollte bei dem Verteidiger angefragt werden, ob er an dem Beiordnungsantrag festhalten wolle, wobei diesem diesbezüglich eine Äußerungsfrist von einem Monat (!) eingeräumt wurde. Insoweit wurde eine Wiedervorlagefrist von sechs Wochen (!) notiert. Von einer Übersendung der Akte an den für den Beiordnungsantrag zuständigen Ermittlungsrichter ist in der Verfügung keine Rede.

Am 25.03.2024 ging bei der Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg der Antrag des Verteidigers vorn 12.03.2024, den dieser beim Amtsgericht Naumburg gestellt hatte, ein. Das Amtsgericht Naumburg hatte den beim Amtsgericht eingegangenen Antrag des Verteidigers an die Staatsanwaltschaft mit der Bitte um Stellungnahme und um Übersendung der Akten übersandt.

Mit Verfügung vom 27.03.2024 übersandte die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg — vor Ausführung der o. g. Verfügung vom 25.03.2024 und offensichtlich aufgrund der Aktenanforderung seitens des Amtsgerichts — die Sachakte schließlich doch an das Amtsgericht Naumburg und beantragte, den Beiordnungsantrag abzulehnen. Die Ermittlungsakte ging am 03.04.2024 beim Amtsgericht Naumburg ein.

Mit Beschluss vom 04.04.2024 lehnte das Amtsgericht Naumburg den Antrag des vormals Beschuldigten vom 12.03.2024 auf Bestellung von Rechtsanwalt Pp. aus Braunschweig zum Pflichtverteidiger als unbegründet ab. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung diese nun rückwirkend nicht erfolgen könne, da die Verfahrenseinstellung schon "10 Tage nach Antragstellung" erfolgt sei. Zwar seien die Akten erst knapp 3 Wochen nach Antragstellung beim Amtsgericht Naumburg eingegangen. Eine Pflichtverteidigerbestellung sei aber schon nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens am 25.03.2024 nicht mehr möglich gewesen und wäre mithin auch bei sofortiger Weiterleitung der Akten an das Amtsgericht nicht erfolgt.

Der Beschluss wurde dem ehemaligen Beschuldigten am 07.05.2024 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 10.05.2024, eingegangen beim Amtsgericht Naumburg am gleichen Tage, legte der ehemals Beschuldigte gegen den Beschluss vom 04.04.2024 sofortige Beschwerde ein.

Die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg beantragte, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen, und legte die Sache der Kammer zur Entscheidung vor.

II,

Die gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO i. V. m. § 311 Abs. 2 S. 1 StPO statthafte und auch fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des ehemaligen Beschuldigten hat Erfolg. Sie ist begründet. Die Kammer teilt die Rechtsauffassung des Amtsgerichts Naumburg und der Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naurnburg nicht.

Da das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 25.03.2024 gemäß § 154 StPO vorläufig eingestellt wurde, kommt lediglich eine rückwirkende Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger im Sinne des § 140 StPO in Betracht.

Nach der Rechtsprechung der Kammer (siehe nur: 3 Qs 109/23) ist jedenfalls dann ausnahmsweise eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger vorzunehmen, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte (vergleiche auch: Landgericht Halle, Beschluss vom 06.08.2020, 10a Qs 62/20).

Nur so wird der durch die Möglichkeit fehlender Vergütung entstehenden Gefahr einer unzureichenden Verteidigung eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren vor der Beiordnung entgegengewirkt und entsprechend dem Willen des Gesetzgebers die Position des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gestärkt (vergleiche: OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 - WS 962/20, Randnummer 25, zitiert nach Juris).

Dies gilt hier insbesondere deshalb, da die Polizei den Beschuldigten zu einer Beschuldigtenvernehmung vorgeladen hatte. Dass sich ein Beschuldigter, der unter Bewährung steht und dem im Falle einer erneuten Verurteilung ein Bewährungswiderruf droht, hier an einen Verteidiger wendet, ist nur verständlich. Einem Beschuldigten in einer solchen Situation soll jedenfalls nicht eine unzureichende Verteidigung drohen, weil er nicht über die finanziellen Mittel verfügt, einen Wahlverteidiger zu bezahlen.

Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Beiordnung liegen nach den vorgenannten aufgestellten Grundsätzen im hier zu entscheidenden Fall vor.

Vorliegend wurde der mit anwaltlichem Schriftsatz vom 12.03.2024 gestellte und beim Polizeirevier Burgenlandkreis ausweislich des Faxschreibens am 13.03.2024 eingegangene Antrag des ehemaligen Beschuldigten, ihm Rechtsanwalt Pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen, rechtzeitig gestellt.

Zudem lag ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO (Schwere der Rechtsfolge) vor, da der ehemals Beschuldigte im Falle einer erneuten Verurteilung mit dem Widerruf der ihm gewährten Bewährung hätte rechnen müssen und ihm damit die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten gedroht hätte. Dies hat auch das Amtsgericht zutreffend so erkannt.

Mithin hätten die Ermittlungsbehörden - die Polizei und die Staatsanwaltschaft ¬gemäß § 142 Abs. 1 StPO den Antrag vom 12.03.2024 dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Naumburg unverzüglich vorlegen müssen.

Die "Unverzüglichkeit" ist nach einer Meinung nur gewahrt, wenn durch den Ermittlungsrichter über den Antrag innerhalb von ein bis zwei Wochen nach dessen Eingang bei den Ermittlungsbehörden entschieden werden kann (so LG Gera, Beschl. v. 10.11.2021 -11 Os 309/21, BeckRS 2021, 40620). Ob dieser strengen Meinung zu folgen ist, kann hier dahinstehen, da nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer jedenfalls eine Vorlage des Antrages beim zuständigen Ermittlungsrichter mehr als drei Wochen nach dem (erstmaligen) Eingang des Antrages bei der Polizei nicht mehr unverzüglich ist. Hierbei spielt es auch keine Rolle, ob das Verfahren innerhalb dieses Zeitraums seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt worden ist und ggf. aus welchen Gründen.

Zwar ist vorliegend der Antrag durch die Staatsanwaltschaft letztendlich doch weitergeleitet worden, sodass er am 03.04.2024 und damit noch gerade binnen drei Wochen nach Antragstellung beim Amtsgericht Naumburg einging. Im vorliegenden (Einzel-)Fall ist dies jedoch nicht mehr unverzüglich, da ein Ausreizen der Dreiwochenfrist dem Beschleunigungsgrundsatz im Rahmen von Pflichtverteidigerbestellungen -jedenfalls bei einer inhaltlich derart "überschaubaren" Akte wie im vorliegenden Fall - widerspricht. Vorliegend beabsichtigte die Staatsanwaltschaft Halle sogar zunächst überhaupt nicht, den Antrag des Verteidigers auf Pflichtverteidigerbestellung zeitnah an das Amtsgericht weiterzuleiten, sondern wollte die Akte ausweislich der Verfügung vom 25.03.2024 vorerst noch 6 Wochen auf Frist legen. Eine solche Sachbehandlung -. auch wenn es hierzu dann letztlich nicht gekommen ist — würde jedoch § 142 Abs. 1 StPO widersprechen. Die Staatsanwaltschaft hat bei Kenntnisnahme eines Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung keinen Entscheidungsspielraum, die Sache nicht unverzüglich dem zuständigen Ermittlungsrichter vorzulegen.

Das Polizeirevier Burgenlandkreis hat den Antrag vom 12.03.2024 schon mit Verfügung vom 14.03.2024, und damit zügig und auch unverzüglich, an die Staatsanwaltschaft Halle, Zweigstelle Naumburg übersandt (dortiger Eingang am 15.03.2024). Von dort erfolgte eine Weiterleitung an das zuständige Amtsgericht Naumburg jedoch erst mit Verfügung vom 27.03.2024 (Eingang beim Amtsgericht dann auch erst am 03.04.2024). Diese Vorlage der Ermittlungsakte an den zuständigen Ermittlungsrichter ist jedenfalls nicht mehr unverzüglich. Diese justizinternen Vorgänge und Bearbeitungsweise der Sachakte sind nicht dem ehemals Beschuldigten anzulasten.

Folglich wurde der Antrag vom 12.03.2024 dem zuständigen Ermittlungsrichter nicht unverzüglich von den Ermittlungsbehörden vorgelegt, sodass der Ermittlungsrichter hier ausnahmsweise eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung hätte vornehmen können (und aus Sicht der Kammer auch müssen).

Eine Ablehnung eines Antrages auf —dann rückwirkende — Pflichtverteidigerbestellung ist nach Einstellung eines Ermittlungsverfahrens nach Auffassung der Kammer daher nur rechtlich zulässig, soweit der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung, der vor Einstellung des Verfahrens bei den zuständigen Ermittlungsbehörden eingeht, unverzüglich von den Ermittlungsbehörden, d. h. Polizei und Staatsanwaltschaft, an den zuständigen Ermittlungsrichter weitergeleitet wird, um den Antrag zu bescheiden. Nach Auffassung der Kammer kann so den Interessen sowohl des Beschuldigten, dass ein Verteidiger seine Verteidigung übernimmt, als auch den Interessen der Rechtspflege an einer zügigen Bearbeitung des Strafverfahrens gedient werden.

Daher ist Rechtsanwalt Pp. aus Braunschweig im vorliegenden Fall dem ehemaligen Beschuldigten rückwirkend als Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Voraussetzung des § 140 Abs. 2 StPO lagen bereits bei Antragstellung am 12.03.2024 vor. Insoweit teilt die Kammer die Rechtsauffassung des Amtsgerichts Naumburg.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO analog.

7


Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig

Anmerkung:


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