Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Celle, Beschl. v. 18.07.2024 - 1 Ws 159/24 (StrVollz)
Leitsatz des Gerichts:
Der Erlass eines auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls führt dazu, dass auch die Vollzugsbehörde bei der Entscheidung über Lockerungen vom Vorliegen von Fluchtgefahr ausgehen muss und sich ihr diesbezüglicher Beurteilungsspielraum auf Null reduziert (Anschluss an: KG, Beschl. v. 13.4.2006 – 5 Ws 70/06 Vollz).
Oberlandesgericht Celle
Beschluss
1 Ws 159/24 (StrVollz)
In der Strafvollzugssache
des pp.
wegen Vollzugslockerungen
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Beteiligung des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht am 18. Juli 2024 einstimmig beschlossen:
1. Die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz beim Amtsgericht Rotenburg (Wümme) vom 3. Mai 2024 wird als unzulässig verworfen.
2. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat der Antragsteller zu tragen
(§ 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. § 473 Abs. 1 StPO).
3. Der Streitwert wird für beide Instanzen auf bis zu 500 Euro festgesetzt
(§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 52 Abs. 1, 60, 63 Abs. 3, 65 GKG).
Gründe:
I.
Der Antragsteller befindet sich im Vollzug einer Maßregel. Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 4. Mai 2023 wandte er sich gegen die Aussetzung der ihm zuvor gewährten Vollzugslockerungen und seine Zurückstufung auf eine geschlossene Station.
Die Strafvollstreckungskammer hat mit dem angefochtenen Beschluss vom 3. Mai 2024 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen. Nach ihren Feststellungen setzte die Antragsgegnerin die Vollzugslockerungen des Antragstellers am 20. April 2023 aus, weil die Staatsanwaltschaft Hannover ihr mitgeteilt hatte, dass sie Lockerungen in Form von Ausführungen und Ausgängen nicht zustimme. Die Staatsanwaltschaft begründete dies mit einem erhöhten Fluchtpotential, nachdem am 12. Dezember 2022 ein Auslieferungshaftbefehl gegen den Antragsteller ergangen war und das Oberlandesgericht Celle dessen Einwendungen dagegen am 6. April 2023 zurückgewiesen hatte.
Zur Begründung ihrer Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer ausgeführt, dass der Antrag unbegründet sei. Der Antragsteller habe zwar von der bisherigen Therapie profitiert, seine Abstinenz stabilisiert und erste Lockerungen absprachegemäß absolviert. Aufgrund des Fortgangs des Auslieferungsverfahrens bestehe aber die Gefahr eines Lockerungsmissbrauchs sowie ein erhöhter Fluchtanreiz.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung sachlichen Rechts und beanstandet insbesondere, dass die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung die Einschätzung der Staatsanwaltschaft zur Fluchtgefahr ohne eigene Überprüfung schlicht übernommen habe. Die von der Strafvollstreckungskammer zu Grunde gelegte Beurteilung der Fluchtgefahr sei von der Antragsgegnerin so gar nicht vorgenommen worden.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist unzulässig, weil die Überprüfung des angefochtenen Beschlusses weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist (§ 116 Abs. 1 StVollzG).
Die mit der Rechtsbeschwerde vorgebrachten Beanstandungen dringen nicht durch, weil die Entscheidung auf Rechtsfehlern bei der Beurteilung der Fluchtgefahr nicht beruht (§ 116 Abs. 2 StVollzG).
1. a) Im Ausgangspunkt zutreffend geht die Rechtsbeschwerde davon aus, die Strafvollstreckungskammer in dem angefochtenen Beschluss keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen hat, ob die Antragsgegnerin die Einschätzung der Staatsanwaltschaft zum Vorliegen einer Fluchtgefahr ohne eigene Prüfung übernehmen durfte.
Gemäß § 15 Abs. 5 Satz 2 Nds. MVollzG dürfen Freigang, Ausgang, Probewohnen und Urlaub nur im Einvernehmen mit der Vollstreckungsbehörde gewährt werden, wenn bei einer Unterbringung der Schutz der Allgemeinheit besonders zu beachten ist. In diesen Fällen hat die Vollzugsbehörde keine eigenen Erwägungen zur Fluchtgefahr anzustellen, sondern ihrer Entscheidung über die Versagung von Lockerungen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft zu Grunde zu legen. Die Strafvollstreckungskammer hat dann im Verfahren gemäß
§§ 109 ff. StVollzG auch über eine fehlende Zustimmung der Staatsanwaltschaft mitzubefinden. Gibt die Strafvollstreckungskammer dem Antrag des Untergebrachten statt, wird auch die ablehnende Verfügung der Staatsanwaltschaft wirkungslos und durch die gerichtliche Entscheidung ersetzt (OLG Celle, Beschluss vom 21. Januar 2008 – 1 Ws 34/08 (Vollz) –, juris; OLG Naumburg, Beschluss vom 14. Februar 2013 – 1 Ws 27/13 –, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. Mai 1986 – 4 VAs 13/86 –, juris). Um diese gerichtliche Prüfung zu ermöglichen, hat die Vollzugsbehörde die Gründe der staatsanwaltschaftlichen Verfügung in ihrem Bescheid wiederzugeben; dem entspricht die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, die maßgebenden Gründe ihrer Entscheidung nachvollziehbar und erschöpfend der Vollzugsleitung mitzuteilen (Ziff. 4.5 d. Gem. RdErl. d. MS u. d. MJ v. 11. 11. 2021, VORIS 34140, Nds. MBl. 2021, 1756).
Im vorliegenden Verfahren ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt allerdings nicht, ob die Gewährung von Lockerungen im Fall des Antragstellers überhaupt der Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 15 Abs. 5 Satz 2 und 3 Nds. MVollzG in Verbindung mit den dazu ergangenen Ausführungsbestimmungen (Gem. RdErl. d. MS u. d. MJ v. 11. 11. 2021, a. a. O.) unterliegt. Die im angefochtenen Beschluss mitgeteilte Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge stellt keine Katalogtat gemäß Ziff. 4.2 der Ausführungsbestimmungen dar. Den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer lässt sich auch nicht entnehmen, dass ausnahmsweise ein in Ziff. 4.3 der Ausführungsbestimmungen geregelter Fall vorliegt. Sofern kein Zustimmungserfordernis besteht, hätte sich die Antragsgegnerin nicht lediglich auf die Beurteilung der Staatsanwaltschaft beziehen dürfen, sondern eigenverantwortlich über die Lockerungen zu entscheiden.
b) Im rechtlichen Ansatz ebenfalls berechtigt ist die Beanstandung des Beschwerdeführers, dass die Strafvollstreckungskammer sich nicht auf die Überprüfung des Beurteilungs- und Ermessensspielraums der Antragsgegnerin beschränkt, sondern eigene Erwägungen zur Fluchtgefahr angestellt habe.
Die Prüfungskompetenz der Strafvollstreckungskammer ist im Hinblick auf die Gewährung von Lockerungen insoweit eingeschränkt, als der Maßregelvollzugseinrichtung ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht, den die Gerichte allein auf entsprechende Ermessens- und Beurteilungsfehler überprüfen können (OLG Celle, Beschluss vom 15. August 2013 – 1 Ws 251/13 (MVollz) –, juris). Die Strafvollstreckungskammer darf die Einschätzung der Vollzugsbehörde deshalb insbesondere nicht durch ihre eigene ersetzen (OLG Celle, Beschluss vom 7. März 2017 – 3 Ws 121/17 (MVollz) –, Rn. 8, juris). Auch im Fall des § 15 Abs. 5 Satz 2 Nds. MVollzG kommt es nicht zu einer Erweiterung der Prüfungskompetenz der Strafvollstreckungskammer. Lediglich der Bezugsgegenstand der Prüfung ändert sich insofern, als an die Stelle der Beurteilung der Anstalt die Beurteilung der Staatsanwaltschaft tritt.
Diesen Grundsätzen wird der angefochtene Beschluss nicht gerecht. Ausweislich der Feststellungen der Strafvollstreckungskammer hat die Staatsanwaltschaft Hannover, deren Verfügung die Antragsgegnerin ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat, die Versagung von Lockerungen lediglich pauschal mit einem erhöhten Fluchtpotential begründet. Die Strafvollstreckungskammer hingegen hat die Fluchtgefahr näher aus dem Fortgang des Auslieferungsverfahrens und einer damit verbundenen aktualisierten Risikobewertung hergeleitet und diese mit dem bisherigen Unterbringungsverlauf abgewogen. Ihre Erwägungen gehen damit inhaltlich über die Begründungen der Vollzugs- und der Vollstreckungsbehörde für ihre Entscheidungen hinaus und überschreiten die eingeschränkte Prüfungskompetenz der Strafvollstreckungskammer.
2. Der angefochtene Beschluss beruht indes nicht auf den aufgezeigten Begründungsmängeln, weil die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer und der Antragsgegnerin im Ergebnis richtig sind und aus rechtlichen Gründen keine andere Entscheidung in Betracht kam.
Denn der Erlass eines auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls führt dazu, dass auch die Vollzugsbehörde bei der Entscheidung über Lockerungen vom Vorliegen von Fluchtgefahr ausgehen muss und sich ihr diesbezüglicher Beurteilungsspielraum auf Null reduziert (KG, Beschluss vom 13. April 2006 – 5 Ws 70/06 Vollz –, juris). Die Gewährung von Vollzugslockerungen ist mit einem gleichzeitig bestehenden, auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl unvereinbar (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 11. Februar 2020 – 1 Ws 20/20 –, Rn. 13, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 1 Ws 299/19 –, Rn. 8, juris; OLG Jena, Beschluss vom 23. Januar 2019 – 1 Ws 13/19 –, Rn. 19, juris; KG, Beschluss vom 31. März 2017 – 5 Ws 81/17 –, Rn. 14, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 2002 – 3 Ws 15/02 –, Rn. 7, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 11. Oktober 1999 – Ws 153/99 –, juris).
Die Antragsgegnerin musste deshalb im vorliegenden Fall – in dem sich die Fluchtgefahr als Haftgrund der vom Oberlandesgericht angeordneten Auslieferungshaft (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG) zumindest dem Gesamtzusammenhang des angefochtenen Beschlusses entnehmen lässt – die zuvor gewährten Vollzugslockerungen zwingend gemäß §§ 48 Abs. 1, 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG i. V. m. § 15 Abs. 1 Nds. MVollzG widerrufen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i. V. m. § 467 Abs. 1 StPO.
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 1 Nr. 8, 63 Abs. 3, 65 GKG.
Einsender: 1. Strafsenat des OLG Celle
Anmerkung:
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