Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Nürnberg, Beschl. v. 03.06.2024 – 3 U 746/24
Leitsatz des Gerichts:
Die Wartepflicht nach § 9 Abs. 4 Satz 1 StVO setzt ein, sobald der Linksabbieger erkennen kann, dass das sich aus der Gegenrichtung nähernde Fahrzeug nach rechts abbiegen will und es daher zu einer Überschneidung der Fahrwege im Einmündungsbereich oder auf der nachfolgenden Straße kommen wird. Sie entfällt nicht dadurch, dass er seinen Abbiegevorgang fortsetzt und so eine Situation herstellt, bei der er zum Benutzer der vorfahrtsberechtigten Straße wird.
In pp.
Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 14. März 2024, Az. 73 O 1463/23, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
Entscheidungsgründe
I.
Die Parteien streiten darum, ob und in welchem Umfang die Beklagten dem Kläger zum Ersatz wegen der Beschädigung seines PKW verpflichtet sind.
Zwischen dem im Eigentum des Klägers stehenden PKW VW Tiguan, amtliches Kennzeichen, welcher zu dem Zeitpunkt von seiner Ehefrau (Zeugin) gesteuert wurde, und dem im Eigentum des Beklagten zu 1) stehenden PKW Toyota Jaris, amtliches Kennzeichen, kam es am 8. Februar 2023 gegen 14:00 Uhr in auf der, unmittelbar hinter der Einmündung der und der Straße, zu einer Kollision. Die Zeugin bog, von der her kommend, nach links in die – stadteinwärts gerichtet – ein, die Beklagte zu 1) aus der entgegenkommenden Straße nach rechts in dieselbe Richtung. Der von der Beklagten zu 1) gesteuerte und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte PKW beschädigte dabei den PKW des Klägers im Bereich der vor der Vordertüre, der Hintertüre und des Heckkotflügels rechts.
Der Kläger begehrt vollständigen Ersatz des durch die Beschädigung seines PKW verursachten Schadens. Die Beklagte zu 1) treffe das alleinige Verschulden an dem Unfall, weil die Zeugin ihren Abbiegevorgang bereits beendet gehabt habe, als es zu dem Zusammenstoß kam. Dementsprechend sei die Zeugin vom Vorwurf eine Ordnungswidrigkeit freigesprochen worden.
Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme der auf Zahlung von 8.662,59 € nebst Zinsen sowie 887,03 € vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichteten Klage nur im Umfang von 4.278,79 € nebst Zinsen und 540,50 € entsprochen und sie im Übrigen als unbegründet abgewiesen. Die Beklagten schuldeten dem Kläger nur hälftigen Schadensersatz, weil auf Seiten beider Fahrzeuge ein gleich hohes Verschulden gegeben sei. Die Ehefrau des Klägers habe gegen § 9 Abs. 4 S. 1 StVO verstoßen, da sie als Linksabbiegerin der entgegenkommenden und nach rechts abbiegenden Beklagten zu 1) die Vorfahrt hätte einräumen müssen. Zu dem Zusammenstoß sei es zwar erst gekommen, als der beschädigte PKW bereits parallel zur ausgerichtet gewesen sei, doch habe sich der unfallkausale Verstoß bereits vor Abschluss des Abbiegevorgangs dieses Fahrzeug ereignet. Die Beklagte zu 1) hätte allerdings den Abbiegevorgang der Zeugin erkennen und ihrerseits eine Kollision vermeiden können und müssen. Bei der Schadenshöhe seien die Reparaturkosten mit 3.766,29 € und die Wertminderung mit 750,00 € jeweils im geltend gemachte Umfang zu berücksichtigen; Nutzungsausfall könne jedoch nur für 5 Tage und damit im Umfang von 250,00 € und die Schadenspauschale nur im Umfang von 25,00 € in Ansatz gebracht werden. Dementsprechend seien vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 540,25 € angefallen.
Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seine Ansprüche insoweit weiter, als sie auf vollständigen Ersatz des vom Landgericht anerkannten Schadensbetrags und der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtet sind. Aufgrund der Aussagen der Zeuginnen und hätte das Landgericht zugrunde legen müssen, dass das Fahrzeug des Klägers bereits vollständig in die eingefahren gewesen war, als die Beklagte zu 1) von rechts hinten in dessen rechte Seite fuhr. Damit liege keine Vorfahrtverletzung seitens der Zeugin vor, sondern eine Vorfahrtverletzung durch die Beklagte zu 1), was deren Alleinverschulden begründe.
II.
Die zulässige Berufung des Klägers erweist sich zur Überzeugung der Senatsmitglieder als unbegründet.
1. Die Angriffe in der Berufungsbegründung, das Landgericht hätte aufgrund der Aussagen der Zeuginnen und zum Ergebnis kommen müssen, dass der PKW des Klägers sich bereits in Geradeausfahrtrichtung auf der befunden habe, gehen insoweit ins Leere, als das Landgericht von einem solchen Sachverhalt ausgegangen ist. Entsprechendes geht klar aus den Ausführungen auf S. 9 des angegriffenen Urteils, unter f), hervor.
2. Das Landgericht hat aber zu Recht diesem Umstand nicht die Bedeutung beigemessen, die die Berufung für geboten hält.
a) Nach § 9 Abs. 4 S. 1 StVO hat derjenige, der nach links abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge, die ihrerseits nach rechts abbiegen wollen, durchfahren zu lassen. Entsprechendes ordnet § 9 Abs. 3 StVO im Hinblick auf entgegenkommende Fahrzeuge an. Den Linksabbieger trifft mithin grundsätzlich eine Wartepflicht gegenüber dem entgegenkommenden Verkehr. Die in § 9 Abs. 3 u. 4 StVO geregelten Fälle stellen zwar keine Fälle der Vorfahrt im eigentlichen Sinn dar, da sie die Begegnung mit einem auf derselben Straße Entgegenkommenden betreffen, sind mit diesen aber nahe verwandt und unterliegen im Allgemeinen den gleichen Rechtsgrundsätzen (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/ Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 26; für den Charakter als echte Vorfahrtsregeln MüKoStVR/Bender, 1. Aufl. 2016, StVO § 9 Rn. 28).
Die sich aus dem vorfahrtsähnlichen Recht des Rechtsabbiegers ergebende Wartepflicht des Linksabbiegers entfällt noch nicht dadurch, dass sich der Linksabbieger in den Bereich der Vorfahrtstraße, in die er einbiegen will, begeben hat, weil er allein dadurch noch nicht zum Benutzer der Vorfahrtstraße und damit gegenüber dem Gegenverkehr bevorrechtigt wird (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 27; BeckOK StVR/Grabow, 23. Ed. 15.4.2024, StVO § 9 Rn. 49). Zu einem solchen wird er erst, wenn der Linksabbiegevorgang vollständig abgeschlossen ist, was angenommen werden kann, soweit keine Schrägstellung mehr vorliegt (OLG Karlsruhe, Urteil vom 18. Dezember 1996, 14 U 203/95, DAR 1997, 26).
Zu beachten ist weiter, dass die Wartepflicht gegenüber dem Entgegenkommenden besteht, wenn dieser so nahe gekommen ist, dass er durch das Abbiegen gefährdet oder auch nur in der zügigen Weiterfahrt wesentlich behindert würde; ihn trifft die Wartepflicht, wenn für ihn bei Beginn des Abbiegevorgangs der Gegenverkehr bereits sichtbar war (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 28). Eine Pflicht, am Straßenrand der Gegenrichtung stehende Kraftfahrzeuge daraufhin zu beobachten, ob sie alsbald anfahren, trifft den Linksabbieger nicht (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 28). Der Wartepflichtige muss allerdings in gewissem Umfang damit rechnen, dass sich der Entgegenkommende selbst verkehrswidrig verhält, so etwa, dass dieser bei entsprechenden Straßenverhältnissen die zulässige Geschwindigkeit mäßig überschreitet (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 26a; BeckOK StVR/ Grabow, 23. Ed. 15.4.2024, StVO § 9 Rn. 41; MüKoStVR/Bender, 1. Aufl. 2016, StVO § 9 Rn. 30).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landgericht zutreffend nicht als maßgeblich angesehen, dass im Moment der Kollision der PKW des Klägers bereits vollständig parallel zur ausgerichtet war und damit den Linksabbiegevorgang bereits beendet hatte. Die Zeugin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gegen die Wartepflicht verstoßen, was zu dem Unfall führte.
Aus den oben dargestellten Grundsätzen ergibt sich, dass die Wartepflicht einsetzt, sobald der Linksabbieger erkennen kann, dass das sich aus der Gegenrichtung nähernde Fahrzeug nach rechts abbiegen will und es daher zu einer Überschneidung der Fahrwege im Einmündungsbereich oder auf der nachfolgenden Straße kommen wird. Trifft den Linksabbieger danach eine Wartepflicht, entfällt diese nicht dadurch, dass er seinen Abbiegevorgang fortsetzt und so eine Situation herstellt, bei der er zum Benutzer der vorfahrtsberechtigten Straße wird. Dies folgt schon daraus, dass andernfalls ein Anreiz geschaffen würde, den an sich nicht zulässigen Linksabbiegevorgang möglichst schnell (und damit in einer die Unfallgefahr insgesamt steigerten Weise) zu vollziehen, um dann in den Genuss des Vorfahrtsrechts zu kommen. Die Wartepflicht beinhaltet gerade, dass der entgegenkommende Rechtsableger seinen Abbiegevorgang ungestört unternehmen darf, während der Linksabbieger sich nach diesem auszurichten hat; dies verbietet die Annahme, dass der Linksabbieger, der diesen Vorgang einmal verkehrswidrig begonnen oder fortgesetzt hat, im weiteren Verlauf das Vorrecht erlangen kann und nunmehr der Rechtsableger zum Warten gezwungen wird.
Im Übrigen spricht bereits der Wortlaut der Bestimmung dafür, dass für den Zeitpunkt, auf den wegen der Wartepflicht abzustellen ist, der Beginn des Abbiegevorgangs und dessen Verlauf, nicht aber ein etwaiger Kollisionszeitpunkt ist. § 9 Abs. 4 S. 1 StVO stellt insoweit darauf ab, dass jemand nach links abbiegen „will“.
c) Davon, dass die Zeugin eine Wartepflicht traf, weil sie vor Beginn des Linksabbiegevorgangs die Annäherung und die Absicht der Beklagten zu 1), nach rechts abzubiegen, erkennen konnte, ist das Landgericht aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen fehlerfrei ausgegangen.
In den beiden von ihm exemplarisch modellierten Varianten war zu dem Zeitpunkt, als die Zeugin den Abbiegevorgang durch Überfahren der gestrichelten Seitenlinie begann, sowohl der PKW der Beklagten zu 1) als solcher zu erkennen als auch der Umstand, dass diese entweder nach rechts abbiegen oder gerade aus fahren werde. So befand sich die Beklagte zu 1) selbst dann, wenn sie relativ schnell (50 km/h) an die Kreuzung herangefahren wäre, dann maximal verzögert hätte und wieder beschleunigt hätte, bei Beginn des Abbiegevorgangs durch die Zeugin 5 1/2 – 6 Sekunden vor dem Zusammenstoß bereits (aus ihrer Sicht) hinter der Ein-/Ausfahrt zu dem Supermarkt, so dass die Zeugin gewärtigen musste, dass dieser PKW entgegenkommt und alsbald in die Kreuzung einfahren werde. Die Angaben der Zeugin, die den PKW der Beklagten zu 1) nicht gesehen haben will, können damit kaum zutreffen; dies kann auch ohne Weiteres damit erklärt werden, dass sie sich noch in erheblicher Distanz hinter dem PKW des Klägers befunden hatte, weshalb ihre Sicht eingeschränkt war und eine Abschätzung von Distanzen noch schwieriger war. Wäre die Beklagte zu 1) langsamer, etwa mit 30 km/h, an die Kreuzung herangefahren, errechnet sich der Beginn des Abbiegevorgangs durch die Zeugin rund 4 1/2 Sekunden vor der Kollision; zu diesem Zeitpunkt musste sich dann die Beklagte zu 1) aber bereits noch näher an der Kreuzung befunden haben und ihr Fahrzeug noch deutlicher nach rechts ausgerichtet gewesen sein.
Bei beiden Annahmen wäre es auch so gewesen, dass während des Abbiegevorgangs der Zeugin, als dieser PKW noch nicht in parallel Richtung zur ausgerichtet war, die Annäherung und die Abbiegeabsicht der Beklagten zu 1) erkennbar gewesen sein muss. All dies löste jeweils die Wartepflicht für den PKW des Klägers aus.
Selbst wenn, was der Sachverständige in technischer Hinsicht nicht ausschließen konnte, die Beklagte zu 1) zunächst aus dem Supermarktparkplatz ausgefahren wäre, ergäbe sich nichts entscheidend anderes. Zwar wäre der PKW der Beklagten zu 1) dann in dem Moment, in dem die Zeugin ihren Abbiegevorgang begonnen hat, noch nicht auf der Straße gewesen; gemäß den oben dargestellten Grundsätzen hätte sie nach vorläufiger rechtliche Bewertung des Senats nicht ohne weiteres damit rechnen müssen, dass Fahrzeuge aus angrenzenden Grundstücken in die Straße einfahren und dann sogleich nach rechts abbiegen. Jedoch wäre wiederum während des weiteren Verlaufs des Linksabbiegens für die Zeugin zu erkennen gewesen, dass sich die Beklagte zu 1) mit der Absicht, nach rechts abzubiegen, der Kreuzung näherte. Dies wäre auch deutlich vor Beginn der Phase der Fall gewesen, in der die Zeugin bereits so in die eingefahren gewesen wäre, dass sie sich in dieser Fahrtrichtung bewegte und damit ein Vorfahrtsrecht erlangt hätte. Mit einer schnellen Annäherung der Beklagten zu 1) an den Kreuzungsbereich, d.h. eine Ausschöpfung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, musste die Zeugin dabei grundsätzlich rechnen.
3. Das Landgericht hat damit zutreffend bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge auf Seiten des Klägers einen Vorfahrtsverstoß nach § 9 Abs. 4 S. 1 StVO eingestellt. Die Beklagte zu 1) trifft demgegenüber der Vorwurf, gegen das allgemeine Gebot der Rücksichtnahme verstoßen zu haben. Wenn das Landgericht beide Verschuldensanteile als gleichwertig angesehen hat, stellt dies jedenfalls keinen Fehler zum Nachteil des Klägers dar. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Verstöße gegen konkrete Verkehrsregeln und Wartepflichten grundsätzlich höheres Gewicht besitzen als die Verletzung der allgemeinen Vorsichts- und Rücksichtnahmepflichten. Eine gleich hohe Gewichtung beschwert daher den Kläger nicht.
Der Senat legt deshalb aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.
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Anmerkung:
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