Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

StPO

Sachverständiger, Besorgnis der Befangenheit, Planung eines forensisch-psychiatrischen Fallseminars

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Wuppertal, Beschl. v. 5.6.2024 - 23 KLs 11/24 (45 Js 27/24)

Eigener Leitsatz:

Hat ein Sachverständiger ein forensisch-psychiatrisches Fallseminar über das noch laufende Strafverfahren gegen einen jugendlichen Angeschuldigten geben wollen, genügt das bereits, um bei dem Angeschuldigten bei verständiger Würdigung die Auffassung hervorzurufen, der Sachverständige könne sein Gutachten nicht mehr unparteiisch erstatten.


Landgericht Wuppertal

Beschluss

In der Jugendstrafsache
gegen pp.

Verteidiger:

Rechtsanwalt

wegen versuchten Mordes u. a.

hat die 3. große Strafkammer als 1. Jugendkammer des Landgerichts Wuppertal durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter am Landgericht und die Richterin am Landgericht am 05.06.2024 beschlossen:

Das Ablehnungsgesuch vom 27.05.2024, mit dem der Angeschuldigte die Sachverständige Dr. med. Pp. wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt hat, ist begründet.

Gründe:

I.

1. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 27.05.2024 hat der Angeschuldigte die Sachverständige PD Dr. Pp. wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zur Begründung seines Antrages hat er im Wesentlichen vorgebracht:

Das Institut für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung in Essen habe nur knapp eine Woche nach Anklageerhebung – am 03.05.2024 – für den 28.05.2024, 17:00 bis 19:15 Uhr das folgende Fallseminar beworben:

Frau PD Dr. Pp., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, wird über den „Amoklauf" eines 16-jährigen Jugendlichen an einem Gymnasium in Wuppertal berichten.
Die Veranstaltung vom 28.05.2024 habe dazu dienen sollen, der Sachverständigen, die selbst nicht die berufliche Erfahrung wie die durch den Angeschuldigten beauftragte Gutachterin Frau Dr. pp2 mitbringen würde, Argumentationshilfen gegen das Gutachten von Frau Dr. pp2 vom 25.03.2024 sowie zu ihrer Stellungnahme vom 21.04.2024 zu liefern.

Auch wenn der Name des minderjährigen Angeschuldigten in der Ankündigung für das Seminar vom 28.05.2024 nicht genannt worden sei, sei mit den Schlagworten „Amoklauf“, „16jähriger Jugendlicher", „Gymnasium Wuppertal" für alle Kursteilnehmer unmissverständlich klar, dass damit nur der Fall des Angeschuldigten gemeint sein könne, zumal seit dem 24.02.2024 alle großen Medien in Deutschland über den Fall berichtet hätten.

Dass die abgelehnte Gutachterin nach dem (rechtskräftigen) Abschluss der Strafsache des Angeschuldigten den Fall in einer Art Kolloquium im Kollegen- bzw. Studentenkreis bespreche, wäre nachvollziehbar gewesen. Dass aber das Strafverfahren gegen einen 17jährigen Angeschuldigten in Anwesenheit eines größeren Publikums als Fallseminar besprochen werden solle, obwohl noch nicht die Hauptverhandlungstermine stattgefunden hätten, sei nicht hinnehmbar, zumal der Angeschuldigte minderjährig sei, dessen Persönlichkeitsinteressen unter einem besonderen Schutz stünden. Weder der Angeschuldigte noch seine Eltern hätten der Sachverständigen die Einwilligung erteilt, den Fall als Fallseminar vor einem Publikum zu besprechen.

Dass es bei der Veranstaltung tatsächlich um das noch im Zwischenverfahren befindliche Strafverfahren des hiesigen Angeschuldigten handeln würde, ergäbe sich im Übrigen auch aus dem Aktenvermerk von Frau Rechtsanwältin Cara-Lavinia Sonneborn aus Hamburg vom 27.05.2024.

In dem entsprechenden Aktenvermerk der Rechtsanwältin heißt es unter anderem:

Die Rechtsanwältin habe am 06.05.2024 telefonischen Kontakt zum Institut für forensische Psychiatrie und Sexualforschung in Essen aufgenommen. Gesprächspartnerin sei Frau Inga Drachenberg gewesen. Die Rechtsanwältin habe ihr Interesse an dem Thema „Amok" bzw. „Amoklauf“ bekundet und angefragt, ob sie an dem Seminar teilnehmen könne. Frau Drachenberg habe ihr erläutert, dass das Seminar grundsätzlich nur für den Studiengang gedacht sei. Ferner habe sie nachgefragt, ob die Rechtsanwältin Prozessbeteiligte des Verfahrens Yilmaz B. vor dem Landgericht Wuppertal sei, was diese wiederum verneint habe. Daraufhin habe Frau Drachenberg angegeben, dass dies der Vortragenden wichtig sei, da im Seminar schließlich auch „Inhalte aus dem laufenden Verfahren" besprochen würden. Am 13.05.2024 habe die Rechtsanwältin schließlich die Nachricht bekommen, dass sie nicht teilnehmen könne, da keine Teilnehmenden außerhalb des bekannten Einladungsverteilers zugelassen würden.

Der Angeschuldigte ist der Auffassung, dass eine Sachverständige, die noch vor (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens gegen den 17jährigen Angeschuldigten ohne seine Einwilligung eine Veranstaltung vor einem größeren Personenkreis abhalten würde, sowohl aus seiner Sicht als auch für jeden vernünftigen Dritten nicht mehr objektiv sei. Sowohl der Angeschuldigte als auch jeder vernünftige Dritte müsse befürchten, dass die Sachverständige nicht mehr unvoreingenommen sei.

2. Die Sachverständige hat im Rahmen ihrer Anhörung zu dem Antrag des Angeschuldigten im Wesentlichen angegeben:

Der Sinn und Hintergrund der Veranstaltung sei der fachliche Austausch im Rahmen eines Qualitätszirkels gewesen. Dabei hat die Sachverständige auf das beigefügte Schreiben von Prof. Fuß verwiesen, in dem es unter anderem heißt:

Das Seminar würde in einem geschlossenen Rahmen an der LVR-Klinik Essen mit 20 bis 25 Teilnehmern stattfinden. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden seien Mitarbeiter der LVR-Universitätsklinik. Alle Teilnehmenden seien namentlich bekannt und hätten eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Das Seminar diene der Intervision von forensischen Sachverständigen.

Zu den Rahmenbedingungen des Seminars hat sie ergänzt, dass die Fallvorstellung, auch im laufenden Verfahren, im Sinne einer Intervision, ohne Nennung von Namen in einem geschützten Rahmen und einem geschlossenen Teilnehmerkreis üblich und ein wesentlicher Bestandteil ärztlicher und gutachterlicher Tätigkeit sei.

Hinsichtlich ihrer beruflichen Erfahrung hat sie darauf verwiesen, dass sie neben ihrer klinischen Tätigkeit als oberärztliche Leitung einer Akutstation für Kinder und Jugendliche über 60 forensische Gutachten über Jugendliche und junge Erwachsene erstellt habe. Ferner sei sie unparteiisch und habe ihr Gutachten auch unabhängig erstattet. Sie habe kein Bestreben, gegen das Gutachten von Frau Dr. pp2 zu argumentieren.

Auf der Internetseite des Instituts habe sich kein Hinweis auf die Inhalte des Seminars befunden und es auch keine Möglichkeit gegeben, sich auf diesem Wege dafür anzumelden. Die Beschreibung des Seminars sei vielmehr einer E-Mail zu entnehmen gewesen, die an die Teilnehmenden des Qualitätszirkels versandt worden sei. Aufgrund der strengen Zugangskontrollen zur Teilnahme an den Veranstaltungen sei die Sachverständige über die Anfrage der Rechtsanwältin Sonneborn informiert worden. Die Ablehnung der Teilnahme von Frau Sonneborn sei auf Wunsch der Sachverständigen hin erfolgt, da sie zum Schutze der Persönlichkeitsrechte des Angeschuldigten eine Teilhabe (fach-) fremder Personen nicht für tragbar gehalten habe. Es sei zutreffend, dass keine Inhalte des Seminars an Dritte weitergegeben werden sollten, was dem Schutz der Personen, deren Fälle diskutiert würden, diene. Der Raum, in dem das Seminar stattfinden würde, sei nicht öffentlich und frei zugänglich. Das Seminar diene auch nicht als eine Lehrveranstaltung für Studierende und fungiere nicht etwa als eine „Exploration“ oder einer gleichsam explorations-ersetzenden Vorstellung.

Schließlich sei das Seminar abgesagt worden, so dass die Fallvorstellung nicht stattgefunden habe.

3. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, dem Ablehnungsgesuch des Angeschuldigten zu entsprechen. Denn die Sachverständige habe ein forensisch-psychiatrisches Fallseminar über das noch laufende Strafverfahren gegen den jugendlichen Angeschuldigten geben wollen, was bereits genügt, um bei dem Angeschuldigten bei verständiger Würdigung die Auffassung hervorzurufen, die Sachverständige könne ihr Gutachten nicht mehr unparteiisch erstatten.

Die Behauptung des Angeschuldigten, das Seminar diene dazu, Argumentationshilfen gegen das Gutachten von Dr. pp2 zu generieren, sei zwar ins Blaue hinein. Jedoch sei die Erörterung des noch vorläufigen Ergebnisses der nur nach Aktenlagen erfolgten Begutachtung des Angeschuldigten im Rahmen eines Fallseminars mit nicht an dem Verfahren beteiligten Personen zumindest dazu geeignet, die Befürchtung einer Vorfestlegung hinsichtlich der eigenen Ergebnisse noch vor Durchführung der Hauptverhandlung zu begründen. Ob im Rahmen des Seminars tatsächlich eine Vorfestlegung der Sachverständigen erfolge, sei dabei unbeachtlich.

Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Beschreibung des Seminars dazu geeignet sei, eine Zuordnung zum hiesigen Strafverfahren zu ermöglichen. Auch wenn der Name des Angeschuldigten dabei nicht genannt würde, sei der besondere Persönlichkeitsschutz des jugendlichen Angeschuldigten dadurch verletzt.

II.

Das Ablehnungsgesuch des Angeschuldigten vom 27.05.2024 ist begründet.

Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 StPO kann ein Sachverständiger aus denselben Gründen abgelehnt werden, die zur Ablehnung eines Richters (§ 24 StPO) berechtigen. Die Besorgnis der Befangenheit setzt daher Umstände voraus, die auf eine innere Haltung des Sachverständigen hinweisen, die seine Neutralität, Distanz und Unparteilichkeit störend beeinflussen könnte. Ohne Bedeutung ist, ob der Sachverständige wirklich befangen ist; es kommt nur darauf an, ob vom Standpunkt des Ablehnenden aus verständigerweise ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen gerechtfertigt erscheint und ob dem Ablehnungsgesuch vernünftige, jedem unbeteiligten Dritten einleuchtende Gründe zugrunde liegen, wobei mehrere Gründe in ihrer Gesamtheit zu würdigen sind.

Dies trifft vorliegend in der Gesamtschau aller Umstände zu. Denn die Sachverständige plante die Durchführung eines forensisch-psychiatrischen Fallseminars in Form einer Intervision von forensischen Sachverständigen, wobei es thematisch um das hiesige Strafverfahren gehen sollte, das sich noch im Zwischenverfahren befindet und gegen einen jugendlichen Angeschuldigten richtet. Dieses Seminar wurde mittels einer E-Mail beworben, in der es u. a. hieß, dass Frau PD Dr. Pp. über einen „Amoklauf“ eines 16-jährigen Jugendlichen an einem Gymnasium in Wuppertal berichten wird. Diese E-Mail wurde an ausgesuchte Teilnehmer geschickt, die überwiegend selbst Mitarbeiter der LVR-Universitätsklinik waren. Die Durchführung des Seminars war in einem geschlossenen Rahmen an der LVR-Klinik Essen mit 20 bis 25 Teilnehmern geplant, wobei alle Teilnehmenden namentlich bekannt waren und eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben hatten. Der Name des Angeschuldigten sollte nicht genannt werden. Zu der Durchführung des Seminars kam es letztlich nicht.

Die Kammer hat maßgeblich gewürdigt, dass durch die Beschreibung des Seminars in der E-Mail – „Amoklauf“ eines 16-jährigen Jugendlichen an einem Gymnasium in Wuppertal – in Verbindung mit der überregionalen medialen Präsenz des Geschehens und trotz des Umstandes, dass der Angeschuldigte nicht namentlich genannt werden sollte, eine Zuordnung zu dem hiesigen Strafverfahren auf der Hand liegt. Bereits dieser Umstand führt dazu, dass jedenfalls aus der Sicht des Angeschuldigten Anlass zu der Besorgnis bestand, dass die Sachverständige seine Persönlichkeit nicht mehr mit der gebotenen Unvoreingenommenheit würdigen werde, wenn sie geplant hatte, ohne ihn zuvor danach zu fragen, seine Probleme in Gegenwart Dritter zu erörtern und ihn damit – jedenfalls aus seiner Sicht – bloßzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 23.01.1980, Az.: 2 StR 387/79).

Auch ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass sich das Strafverfahren gegen einen Jugendlichen richtet, dem, was sich auch dem Rechtsgedanken des § 48 JGG entnehmen lässt, ein besonderer Schutz seiner Privatsphäre zusteht, was ebenfalls – vom Standpunkt des Ablehnenden aus – ein gerechtfertigtes Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Sachverständigen nahelegt. Denn die geplanten Äußerungen der Sachverständigen im Rahmen des Fallseminars waren nicht allgemeiner Natur, sondern konkret auf das Verfahren gegen den Angeschuldigten bezogen, was sich schon aus der Beschreibung des Seminars in der E-Mail ergibt. Bei dieser Sachlage rückt für die Bewertung in den Hintergrund, dass sich die Sachverständige nicht vor einer breiteren Öffentlichkeit (etwa durch eine Publikation o. ä.) äußern wollte, sondern gegenüber einem begrenzten, zur Verschwiegenheit verpflichteten Teilnehmerkreis. Letztlich sollte das Seminar dazu dienen, der Sachverständigen zu ermöglichen, ihre bisherigen Überlegungen im Sinn einer Intervision gegenüber Dritten, nicht am Verfahren beteiligten Personen, zur Diskussion zu stellen. Ein solche Intervision, wie sie gegebenenfalls bei einer Heilbehandlung erforderlich sein könnte, sieht die Strafprozessordnung im Rahmen einer sachverständigen Begutachtung indes nicht vor.

Hinzu kommt, dass dieses Fachseminar ohne die Kenntnis der Kammer und weiteren Verfahrensbeteiligten mit einem für diese unbekannten Teilnehmerkreis, der möglicherweise auch aus Personen besteht, die nicht selbst Mitarbeiter des LVR-Universitätsklinikums sind, stattfinden sollte. Auch der genaue Inhalt des Seminars war nicht bekannt. Vor diesem Hintergrund in Verbindung mit dem Umstand, dass das Seminar noch vor einer möglicherweise durchzuführenden Hauptverhandlung stattfinden sollte, kann sich jedenfalls aus Sicht des Angeschuldigten der Eindruck einer inneren Haltung der Sachverständigen verfestigen, die ihre Neutralität, Distanz und Unparteilichkeit störend beeinflussen könnte.

Schließlich erscheint aus Sicht der Kammer auch der in der E-Mail verwendete Begriff „Amoklauf“ bedenklich, auch wenn dieser in Anführungszeichen gesetzt wurde und das Thema schlagwortartig beschreiben sollte, da dies auf eine endgültige Bewertung hindeuten kann, obwohl eine etwaige Hauptverhandlung noch nicht stattgefunden hat.

Die Kammer hat auch gewürdigt, dass das Seminar letztlich nicht stattgefunden hat. Maßgeblich ist indes bereits, dass es geplant war und die Absage erst im Hinblick auf den Befangenheitsantrag des Angeschuldigten erfolgte.


Einsender: RA M. Kaplan, Köln

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".