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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, Voraussetzungen

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 08.04.2024 – 2 Ws 56/24

Leitsatz des Gerichts mit Ergänzungen/Änderungen:

1. Zu den Voraussetzungen der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung.
2. Die Aufhebung der Bestellung nach § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO steht im Ermessen des Gerichts. Den Beschlussgründen muss zu entnehmen sein, dass sich das Gericht des ihm eröffneten Ermessensspielraums bewusst war und dass es sein Ermessen unter Berücksichtigung der im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte ausgeübt hat.


2 Ws 56/24

In der Strafsache
gegen pp.

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz

hat der 2. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 8. April 2024 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin I vom 16. Februar 2024 aufgehoben.
Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Rechtsmittels und die im Beschwerderechtszug entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen.

Gründe:

I.

Bei dem Landgericht Berlin I ist das Berufungsverfahren gegen ein Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin – Strafrichter – vom 11. September 2023 anhängig. Das Amtsgericht Tiergarten hatte den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 1 Euro verurteilt. Ausweislich der amtsgerichtlichen Feststellungen verfügte der Angeklagte am 12. Oktober 2021 in seiner Umhängetasche über 0,758 g tetrahydrocannabinoidhaltige Blütenstände von Cannabispflanzen. Dem Angeklagten war durch Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 20. Februar 2023 unter Hinweis auf § 140 Abs. 2 StPO Rechtsanwalt Sch als Pflichtverteidiger bestellt worden.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten legten sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berlin, die eine Verurteilung wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln anstrebt, das Rechtsmittel der Berufung ein. Termin zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung ist am 17. April 2024.

Mit Beschluss vom 16. Februar 2024 hob der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer des Landgerichts Berlin I die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der Begründung auf, dass die Gründe, die zur Anordnung geführt hätten, nicht mehr vorlägen. Weitere Ausführungen enthält der Beschluss nicht. Der Beschluss wurde dem Angeklagten per Zustellungsurkunde am 23. Februar 2024 und seinem Verteidiger am 26. Februar 2024 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt. Eine Zustellung an den Angeklagten war vom Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer nicht verfügt worden.

Mit sofortiger Beschwerde vom 4. März 2024, eingegangen beim Landgericht Berlin I am selben Tag, wendet sich der Angeklagte über seinen Verteidiger gegen diesen Beschluss. Zur Begründung führt er aus, dass ein Fall notwendiger Verteidigung weiterhin vorliege. Dem Angeklagten drohten neben der Verurteilung ausländerrechtliche Konsequenzen, insbesondere sei zu befürchten, dass die Duldung des Angeklagten nicht verlängert werde. Auch erfordere die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Bestellung, da die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens anstrebe. Zudem sei der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig; die Heranziehung eines Dolmetschers sei insoweit nicht ausreichend.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig, sie ist nach § 143 Abs. 3 StPO statthaft und fristgerecht, insbesondere wurde auch die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingehalten. Die einwöchige Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde ist nicht bereits durch die Zustellung an den Angeklagten, sondern erst durch die Zustellung an seinen Verteidiger in Gang gesetzt worden (§§ 35 Abs. 2 Satz 1, 37 Abs. 2 StPO). Die am 4. März 2024 bei Gericht eingegangene sofortige Beschwerde wahrte die Wochenfrist, die am 26. Februar 2024 begann, § 43 Abs. 1 StPO.

Darüber hinaus war die Zustellung an den Angeklagten auch unwirksam. Voraussetzung für eine wirksame Zustellung ist eine Anordnung des Vorsitzenden, § 36 Abs. 1 Satz 1 StPO; diese muss zumindest aktenkundig sein (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 65. Aufl., § 36 Rn. 1). Daran fehlt es hier.
2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Denn die Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers kann im vorliegenden Fall keinen Bestand haben.

a) Nach § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO in der seit dem 13. Dezember 2019 geltenden Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128 ff.) kann die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Diese Regelung durchbricht den nunmehr in § 143 Abs. 1 StPO festgeschriebenen Grundsatz, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers regelmäßig erst mit der Rechtskraft der das Strafverfahren abschließenden Entscheidung endet (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 44; KG, Beschluss vom 15. Mai 2020 – 5 Ws 65/20 –; zur früheren Rechtslage Senat, Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 2 Ws 194/17 sowie KG, Beschlüsse vom 28. Februar 2017 – 5 Ws 50/17 – und vom 10. September 2013 – 4 Ws 116/13 –). Bereits nach der früheren Rechtslage musste es – abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen – bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers insbesondere dann bleiben, wenn die Frage der Notwendigkeit in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet wurde, das Gericht aber lediglich seine rechtliche Auffassung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 StPO änderte. Denn der Eintritt einer Änderung war nach objektiven Kriterien zu bestimmen. Insofern war es grundsätzlich unbeachtlich, wenn das Gericht im Laufe des Verfahrens nur seine subjektive Auffassung hinsichtlich der Notwendigkeit der Pflichtverteidigung durch eine andere Beurteilung ersetzen will oder ein während des Verfahrens neu zuständig werdendes Gericht die Auffassung des zuvor tätigen Gerichts nicht zu teilen vermag. Dies folgte aus dem Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Februar 2014 – 2 Ws 49/14 –; KG, Beschluss vom 30. Dezember 2015 – 4 Ws 140/15 –; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. November 2010 – III-4 Ws 615/10 –). Etwas anderes konnte dann gelten, wenn das Vertrauen des Angeklagten auf die einmal getroffene positive Entscheidung des Gerichts nicht schutzwürdig war, weil sich die für die Anordnung der Pflichtverteidigung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder das Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. Dann war auch die Zurücknahme einer Bestellung zulässig (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Februar 2014 aaO; OLG Düsseldorf aaO, jeweils mwN). Diese Grundsätze gelten auch nach der Neufassung des § 143 StPO fort (vgl. Willnow in: KK-StPO, 9. Aufl., § 143 Rn. 2; Krawczyk in BeckOK-StPO, § 143 Rn. 7).

Die Aufhebung der Bestellung nach § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO steht im Ermessen des Gerichts. Dem liegt nach der Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Aspekte des Vertrauensschutzes trotz Wegfalls der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die Fortdauer der Beiordnung rechtfertigen können (vgl. BT-Drucks. aaO S. 45). Den Beschlussgründen muss zu entnehmen sein, dass sich das Gericht des ihm eröffneten Ermessensspielraums bewusst war und dass es sein Ermessen unter Berücksichtigung der im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte ausgeübt hat (vgl. KG, Beschluss vom 15. Mai 2020 aaO; OLG Düsseldorf aaO; OLG Celle, Beschluss vom 29. Juli 2010 – 1 Ws 392/10 –).
b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann die Aufhebung der Verteidigerbestellung durch den Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer keinen Bestand haben. Der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes gebietet hier die Aufrechterhaltung der vom Amtsgericht beschlossenen Bestellung, solange sich die hierfür maßgeblichen Umstände nicht ersichtlich wesentlich geändert haben.

Der Senat kann die Gründe für die Entscheidung des Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer allein aus den prozessualen Umständen schließen. An einer Darlegung der Umstände, von denen der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer bei seiner Aufhebungsentscheidung ausgegangen ist, fehlt es. Die Begründung des Beschlusses beschränkt sich auf die floskelhafte Wiedergabe, dass die Gründe, die zur Anordnung geführt hätten, nicht mehr vorlägen.

Aus den prozessualen Umständen ergibt sich weder, dass sich die für die Anordnung der Pflichtverteidigung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben noch dass das Amtsgericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist.

(1) Dafür, dass das Amtsgericht bei seiner Bestellungsentscheidung von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen wäre, bestehen keine Anhaltspunkte. Dem stünde es gleich, wenn das Amtsgericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hätte; denn auch in diesem Fall kann sich ein schützenswertes Vertrauen in den Bestand der Entscheidung nicht bilden (vgl. KG, Beschluss vom 10. September 2013 aaO). Die konkreten Gründe, die zur Anordnung führten, ergeben sich nicht aus dem Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 20. Februar 2023, der nur § 140 Abs. 2 StPO zitiert. Der Senat nimmt insoweit an, dass die Beiordnung mit Blick auf die mögliche Strafe für den Angeklagten wegen des Vorwurfs des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, auf seine Vorstrafen, sowie mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen erfolgte. Unter Zugrundelegung dieser Umstände stellt sich die Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung durch das Amtsgericht Tiergarten jedenfalls nicht als grob fehlerhaft dar, so dass sich daraus auch kein Grund für die Aufhebung ergibt.

(2) Aus dem Akteninhalt lässt sich auch nicht entnehmen, dass sich maßgebliche Umstände wesentlich geändert haben, insbesondere nicht mit Blick auf die Straferwartung. Die Straferwartung war aufgrund der vom Senat oben aufgeführten weiteren Gründe bereits nicht allein maßgeblich für die Pflichtverteidigerbestellung. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme auf das zwischenzeitliche Inkrafttreten des Gesetzes zum Umgang mit Konsumcannabis (Konsumcannabisgesetz – KCanG) verweist, das eine geringere Strafandrohung vorsehe, so führt dies nach Ansicht des Senats vorliegend nicht zu einer wesentlichen Änderung der Straferwartung im Hinblick auf den von der Staatsanwaltschaft Berlin verfolgten Vorwurf des unerlaubten Handeltreibens. Die Strafandrohungen von § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren und § 34 KCanG mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren unterscheiden sich nur im Bereich der Höchststrafe. Die Straferwartung lag hier von Anfang an im Bereich der Geld- oder niedrigen Freiheitsstrafe: der Angeklagte wurde vor dem Amtsgericht – Strafrichter – angeklagt, dessen Strafgewalt bis zu zwei Jahre reicht (§ 25 Nr. 1 GVG), die Tat liegt bereits geraume Zeit zurück und eine Pflichtverteidigerbestellung wurde bei Anklageerhebung nicht beantragt. Da auch die Staatsanwaltschaft Berlin das Rechtsmittel der Berufung eingelegt hat, gilt zudem nicht das Verschlechterungsverbot des § 331 Abs. 1 StPO; die Straferwartung hat sich mithin auch nicht mit Abschluss des amtsgerichtlichen Verfahrens wesentlich verändert (zur Berücksichtigung dieses Umstandes, vgl. Senat, Beschluss vom 10. Februar 2014 aaO; Willnow, aaO).

(3) Mit Blick auf die Zitierung des § 140 Abs. 2 StPO im amtsgerichtlichen Beschluss geht der Senat auch nicht davon aus, dass die zwischenzeitliche Inhaftierung des Angeklagten Grund für die Pflichtverteidigerbestellung durch das Amtsgericht war. Aus dem amtsgerichtlichen Urteil ergibt sich, dass der Angeklagte erst nach dem ersten Tag der Hauptverhandlung am 31. August 2023, also rund sechs Monate nach der Pflichtverteidigerbestellung, wegen der ausstehenden Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen festgenommen wurde; er wurde am 17. Oktober 2023 aus der Justizvollzugsanstalt Plötzensee entlassen.

Da diese Inhaftierung schon aufgrund des zeitlichen Ablaufs kein maßgeblicher Umstand für die Pflichtverteidigerbestellung durch das Amtsgericht gewesen sein kann, begründet auch die Entlassung am 17. Oktober 2023 keine Änderung eines maßgeblichen Umstandes, der die Aufhebung auf die Grundlage des § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO stützen könnte.

3. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

Auch eine Ermessensausübung lässt der angefochtene Beschluss nicht erkennen. Aus den Beschlussgründen geht bereits nicht hervor, dass der Vorsitzende sich seines Ermessensspielraums überhaupt bewusst war und in Betracht gezogen hat, dass es auf der Rechtsfolgenseite gleichwohl bei der Beiordnung verbleiben kann. Erst recht fehlt es an einer Abwägung unter – wenigstens knapper – Mitteilung der Gesichtspunkte, die den Vorsitzenden zu seiner Entscheidung bewogen haben (vgl. dazu KG, Beschluss vom 15. Mai 2020 aaO mwN). Lässt die angefochtene Entscheidung eine Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Aspekten vermissen, muss das Beschwerdegericht davon ausgehen, dass sich die Vorinstanz des ihr zustehenden Ermessens nicht bewusst gewesen ist und die gebotene Abwägung nicht vorgenommen hat (vgl. OLG Celle aaO). Diese fehlende Ermessensausübung kann ausnahmsweise abweichend von § 309 Abs. 2 StPO die Zurückverweisung der Sache an das Ausgangsgericht begründen, um diesem die Möglichkeit zu geben, das Ermessen rechtsfehlerfrei auszuüben (vgl. KG, Beschluss vom 15. Mai 2020 aaO; OLG Düsseldorf aaO).

III.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last, weil kein anderer dafür haftet. Die Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RiKG D. Neumann, Berlin

Anmerkung:


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