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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Berufungsverfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 06.02.2024 – 2 ORs 43/23

Leitsatz des Gerichts:

Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt.


2 ORs 43/23121 Ss 174/23

In der Strafsache

gegen pp.

wegen gefährlicher Körperverletzung

hat der 2. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 6. Februar 2024 – einstimmig – beschlossen:

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Juli 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revisionen – an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.


Gründe:

I.

1. Die Amtsanwaltschaft Berlin hat den Angeklagten Z, G, Sn O und St. mit der zur Verhandlung vor dem Strafrichter des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin zugelassenen Anklage der Amtsanwaltschaft Berlin vom 8. Juli 2021 zur Last gelegt, sich wegen einer mittäterschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung gemäß den §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 StGB strafbar gemacht zu haben.

Aus Unzufriedenheit über eine bestehende Beziehung zwischen der Zeugin Sa O und dem Zeugen D N hätten die Angeklagten – nach einem zuvor gemeinsam gefassten Tatplan – am 8. August 2020 das Handy der Zeugin Sa O an sich gebracht, um den Zeugen N in die Sc-straße x zu locken und zu überfallen. Dort sei es dann zu einem gemeinschaftlichen tätlichen Übergriff auf den Zeugen N, der sich in Begleitung des Zeugen K befunden habe, gekommen.

2. Das Amtsgericht Tiergarten sprach die Angeklagten mit Urteil vom 21. November 2021 vom Anklagevorwurf der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen frei, da ihnen ohne eine Aussage des Zeugen D N die Tat nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit habe nachgewiesen werden können. Der Zeuge D N hatte in der dortigen Hauptverhandlung vor dem Strafrichter unter Berufung auf eine Verlobung mit der Zeugin Sa O ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO geltend gemacht, das ihm daraufhin zugebilligt wurde.

3. Gegen dieses Urteil legte die Amtsanwaltschaft Berlin Berufung ein, da das Amtsgericht dem Zeugen D N unter Verletzung seiner Aufklärungspflicht zu Unrecht ein Zeugnisverweigerungsrecht in Bezug auf die vier Angeklagten zugebilligt habe. Die Amtsanwaltschaft erstrebte mit ihrer Berufung eine anklagegemäße Verurteilung der Angeklagten wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung zu Lasten des Zeugen D N.
4. Am 3. Mai 2023 begann die Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin. Sie wurde am 10. und 15. Mai, am 5. und 23. Juni sowie am 12. Juli 2023 fortgesetzt und endete an diesem Tag mit der Verkündung des Urteils. An der Hauptverhandlung vor der Berufungskammer nahmen an folgenden Tagen als Verteidiger der Angeklagten teil: Am 3. Mai Rechtsanwalt H für Z O und Rechtsanwalt Y für G Ob, am 10. Mai ebenfalls Rechtsanwalt H für Z O und Rechtsanwalt Y für G O, am 15. Mai wiederum Rechtsanwalt H für Z O und Rechtsanwalt Y für G O, am 5. Juni niemand, am 23. Juni Rechtsanwalt H für Z O und Rechtsanwalt Y für G O sowie schließlich am 12. Juli 2023 Rechtsanwalt H für Z O und Rechtsanwalt Y für G O. Die übrigen Angeklagten waren durchgehend unverteidigt.
5. Mit dem am 12. Juli 2023 in Gegenwart der Angeklagten verkündeten Urteil hob das Landgericht Berlin die Freisprüche auf und sprach die Angeklagten Z O, G O und Sn O jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung und den Angeklagten Sta wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung schuldig. Es verurteilte die Angeklagten Z O und G O jeweils zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten und die Angeklagte Sn O zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Den Angeklagten Sta verurteilte das Berufungsgericht wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung unter Einbeziehung der Geldstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 22. Juni 2022 – (321 Ds) 3012 Js 6983/21 (62/21) – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten. Die Vollstreckung sämtlicher Strafen setzte das Gericht zur Bewährung aus.

Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte in ihrem Schlussvortrag beantragt, alle Angeklagten wegen mittäterschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung schuldig zu sprechen und die Angeklagten Z O, G O und Sn O jeweils zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten zu verurteilen und deren Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen. Gegen den Angeklagten Sta sollte nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft unter Einbeziehung der oben genannten Geldstrafe eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängt und diese gleichfalls zur Bewährung ausgesetzt werden.

6. Folgende Feststellungen hat das Berufungsgericht zum Tatgeschehen im engeren Sinne getroffen (UA S. 11 f.):

„Am 8. August 2020 gegen 2.30 Uhr nachts trafen L K in seinem PKW als Fahrer und D N als Beifahrer an dem ursprünglich noch persönlich mit Sa O vereinbarten Treffpunkt in der Nähe des Grundstücks der Angeklagten O in Berlin-x ein. Sie hielten mit dem Fahrzeug des K in der Sc-straße in Höhe der Hausnummer x und parkten dort am Straßenrand. Sie warteten eine knappe Stunde, jeweils bei geöffnetem Fenster, auf das Eintreffen von Sa O. D N schrieb währenddessen Textnachrichten über „whatsapp" mit dem sich als Sa O ausgebenden Angeklagten G O und teilte ihm den genauen Standort mit, an dem er und K parkten (‚lauf die Straße hoch[ ... ] vor eurem Haus die Straße hoch [ ... ] wenn du aus der tür gehst einfach gerade aus nicht links nicht rechts‘), woraufhin er die Antwort ‚Ok mach ich‘ erhielt und deswegen mit der baldigen Ankunft seiner Verlobten rechnete.

Die vier Angeklagten bestiegen nun gemeinsam ein Auto, um zu N, den sie des Täuschungsmanövers wegen für arglos hielten, zu fahren und ihm die geplante gewalttätige Abreibung zu verpassen.

Gegen 3. 30 Uhr fuhr das von der Angeklagten Sn O geführte Fahrzeug, ein VW Caddy, vor und hielt vor dem Fahrzeug des K.
Aus dem VW Caddy stiegen die Angeklagten G und Z O aus und liefen in Umsetzung des gemeinsamen Plans sogleich zur Beifahrertür des Fahrzeugs des K – also zu D N.

Die Angeklagte Sn O und der Angeklagte Sta stiegen ebenfalls aus dem VW Caddy und traten schnell an die Fahrertür des Fahrzeugs des K. Dort stellten sie sich dicht neben die Fahrertür, und der Angeklagte StA rief nachdrücklich und mit drohendem Gesichtsausdruck zum Zeugen L K ‚Du bleibst im Auto! Wehe, du mischt dich ein, sonst bekommst du wie D!‘, wobei er mit erhobenem Arm eine drohende Geste machte, um den eingriffsbereiten Zeugen L K an einem Eingreifen zu Gunsten des D N zu hindern und dadurch den von ihm und den drei Mitangeklagten geplanten körperlichen Angriff auf D N zu unterstützen. Die drei anderen Angeklagten bemerkten spätestens jetzt, dass StA den Zeugen K in Schach hielt und ihnen so den Angriff auf D N erleichterte.
L K verstand die Drohung – wie vom Angeklagten StA beabsichtigt – dahingehend, dass er im Falle seines Eingreifens zu Gunsten von D N körperliche Gewalt durch die Angeklagten erfahren würde, und griff aus diesem Grund aus Angst vor solch körperlicher Gewalt nicht in das Geschehen ein.

D N, der die an den Zeugen L K gerichteten Worte des Angeklagten StA gehört hatte, erkannte derweil, dass er in eine ‚Falle‘ gelockt worden war, und dass die Angeklagten ihm gegenüber körperliche Gewalt ausüben wollten.

Zwischen ihm und den Angeklagten G und Z O kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Angeklagten G und Z O dem Zeugen D N lautstark nahelegten, die Beziehung mit Sa O zu beenden, wenn er nicht gewillt sei, zu ihnen nach Berlin zu ziehen.

D fühlte sich durch die sich dicht an das geöffnete Fenster drängenden Angeklagten G und Z O und deren ausholende Gesten mit den Händen bedroht. Als der Angeklagte Z O mit seinem Arm ausholte und durch das geöffnete Fenster nach dem Zeugen D N schlug, ergriff dieser die in das Fahrzeug hineinragende Hand des Angeklagten Z O für wenige Sekunden, um den Schlag abzuwehren und sagte zum Angeklagten Z O ‚Ich bin nicht gekommen, um mich mit euch zu schlagen.‘ Als D N die Hand losließ, schlug derweil der Angeklagte G O zwei Mal durch das geöffnete Fenster mit der Faust nach D N und traf ihn jeweils am Kopf.

Die Angeklagten Z und G O öffneten daraufhin die Beifahrertür und zogen D N gemeinsam aus dem Fahrzeug, der sich dagegen nicht wehrte, weil er die von ihm erhoffte Chance ergreifen wollte, um zu Fuß zu fliehen. Dies gelang ihm jedoch nicht.

Denn nachdem sie ihn aus dem PKW gezerrt hatten, hielt der Angeklagte Z O den Zeugen D N am Arm fest, während der Angeklagte G O mit mehreren kräftigen Faustschlägen in dessen Gesicht und auf dessen Oberkörper einschlug. Dabei bewegten sich die Angeklagten Z und G O mit D N circa 30 bis 40 Meter vom Fahrzeug weg, wo sie ihn zu Boden brachten.
Als D N am Boden lag, traten sowohl G als auch Z O kräftig mit den Füßen mit nicht genau feststellbarem Schuhwerk auf ihn ein, und trafen ihn dabei am Kopf, am Oberkörper, an Bauch und Rücken. Währenddessen kam die Angeklagte Sn O, die bis kurz zuvor gemeinsam mit dem Angeklagten StA am Fahrzeug des K gestanden hatte, dazu und trat entsprechend dem gemeinsamen Tatplan ebenfalls mindestens einmal kräftig auf den Oberkörper in den Rücken von D N ein und rief dabei ‚Geschieht dir recht!‘

Der Angeklagte StA blieb während des Geschehens an dem Fahrzeug des K stehen, und hielt den Zeugen K weiterhin durch Aufrechterhalten der beschriebenen Drohgebärde tatplangemäß von einem Eingreifen und einer Unterstützung des D N ab. Nach dem Tritt der Angeklagten Sn O begab sich der Angeklagte StA ebenfalls zu dem am Boden liegenden D N. Es ließ sich jedoch nicht sicher feststellen, dass der Angeklagte StA selbst D N getreten oder geschlagen hat.

Die vier Angeklagten bestiegen anschließend – gegen 4 Uhr morgens – ihr Fahrzeug und fuhren zurück zum Wohnhaus der Familie O, wo sie wenig später von den durch Sa O zwischenzeitlich alarmierten Polizeibeamten angetroffen wurden.“

7. Gegen das Urteil haben alle vier Angeklagten Revision eingelegt und diese im weiteren Verlauf begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat die Verwerfung der Revisionen beantragt.

II.

1. Die Revisionen der Angeklagten Z O, G O und Sta sind innerhalb der Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO eingelegt und innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 StPO und entsprechend § 345 Abs. 2 StPO jeweils von einem Rechtsanwalt mit der Sachrüge sowie mit einem Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO begründet worden.

Auch die Revision der Angeklagten Sn O wahrt die genannten Fristen, wenngleich sie erst am 20. Juli 2023 mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 19. Juli 2023 auf elektronischem Wege beim Landgericht Berlin eingegangen ist. Bereits am 19. Juli 2023 hatte die Verteidigerin ihren Schriftsatz per Fax an das Landgericht gesandt. Zwar müssen Verteidiger und Rechtsanwälte den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten die Revision, ihre Begründung und die Gegenerklärung grundsätzlich als elektronisches Dokument übermitteln (§ 32d Satz 2 StPO). Jedoch hat die Verteidigerin glaubhaft gemacht, dass ihr Letzteres aus technischen Gründen vorübergehend nicht innerhalb der Frist möglich war, so dass hier die ersatzweise Einlegung des Rechtsmittels per Fax gemäß § 32d Satz 3 StPO die Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO gewahrt hat.

Mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 2. Oktober 2023, beim Landgericht Berlin eingegangen am selben Tag, erhebt auch die Angeklagte Sn O die Rüge der Verletzung sachlichen und formellen Rechts und begründet dies mit einem Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO.

III.

1. Die Revision des Angeklagten Z O hat mit der form- und fristgerecht begründeten (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Rüge eines Verstoßes gegen § 338 Nr. 5 StPO auch in der Sache vorläufigen Erfolg, so dass es auf die zudem erhobene Sachrüge nicht ankommt.

Die Hauptverhandlung hat jedenfalls an einem Tag, nämlich am 5. Juni 2023, in vorschriftswidriger Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden, denn die Voraussetzungen, unter denen dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger hätte bestellt werden müssen, lagen vor.

a) Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung auch dann vor, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Jedenfalls wegen der Schwierigkeit der Sachlage war hier die Mitwirkung eines Verteidigers im Berufungsverfahren geboten.

b) Maßgeblich für die Beurteilung ist die Sicht eines juristischen Laien (vgl. Moltekin StraFo 2005, 52, 55). Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte hat die Regelung in § 140 Abs. 2 StPO für das Berufungsverfahren dahin konkretisiert, dass dem An-geklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen ist, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 336; OLG Köln NStZ-RR 2003, 330, 331; siehe auch BVerfG NJW 2003, 882; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 140 Rn. 27). Die unterschiedliche Bewertung des Sachverhalts durch die Staatsanwaltschaft und das erstinstanzliche Gericht belegt dabei zwar nicht ausnahmslos die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. Mai 2005 – 2 Ws 121/05 –, juris), denn sie kann gleichwohl – ausnahmsweise – so einfach sein, dass der Angeklagte des Beistands eines Verteidigers nicht bedarf (vgl. OLG Düsseldorf wistra 1990, 323).

Hier allerdings sprechen die mutmaßliche Beteiligung mehrerer Täter, mit noch dazu offenbar unterschiedlichen Rollen, und eine durch die Staatsanwaltschaft erstrebte Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, die sich der Jahresgrenze nähert oder sie (ggf. aufgrund nachträglicher Gesamtstrafenbildung) erreicht und die Anzahl der Hauptverhandlungstage für die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage. Hinzu kommt, dass sich die Beweiswürdigung der Berufungskammer nicht unmaßgeblich auf bei den Akten befindliche schriftliche frühere Ausführungen des Geschädigten D N stützt, weshalb für eine wirksame Verteidigung zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung Akteneinsicht erforderlich war, um sich Kenntnis von dem Inhalt dieser Ausführungen zu verschaffen und so die Möglichkeit zu erhalten, gegebenenfalls Fragen dazu zu stellen und Vorhalte zu machen (vgl. OLG Köln NStZ-RR 2003, 330, 331).

Zur Bedeutung dieser früheren Angaben des Geschädigten heißt es im Urteil der Kammer unter anderem (UA S. 18 ff.):

„Die Feststellungen zum körperlichen Angriff der drei Angeklagten O auf D N und zum Einwirken des Angeklagten StA auf den Zeugen K beruhen jeweils auf den entsprechenden Angaben des Zeugen D N. Die Aussage von D N ist insoweit glaubhaft.
(…)

Ein Motiv des Zeugen N, die Angeklagten zu Unrecht zu belasten, war nicht feststellbar. Etwaige Rachegedanken des Zeugen D N gegenüber Sa O wegen des konflikthaften Verlaufs und Endes ihrer Beziehung scheiden als mögliches Motiv für eine Falschbelastung aus, da er zum Zeitpunkt seiner erstmaligen Schilderung des festgestellten Tatgeschehens in dem als Antwort auf einen polizeilichen Fragebogen verfassten Schreiben vom 18. September 2020 mit S O verlobt, in einem Haushalt wohnhaft und die Beziehung zu ihr in einem guten Zustand war. Aus diesem Grund bestand für ihn damals auch kein Anlass, sich an deren Familienmitgliedern durch falsche Bezichtigung für die von der Familie O ausgehenden Schwierigkeiten beim Umzug von Sa O nach Bayern zu rächen.
(…)

Die Kammer hat auch vor dem Hintergrund der eingeführten schriftlichen Angaben des Zeugen D N im Ermittlungsverfahren keine Anhaltspunkte gesehen, an seinen Angaben in der Hauptverhandlung zu zweifeln. Vielmehr erweisen sie eine konstante Bekundung des Geschehens, und lassen sich die wenigen, nicht das Kerngeschehen betreffenden Abweichungen ohne Weiteres erklären.

So hatte D N in seiner am 18. September 2020 – knapp sechs Wochen nach der Tat – verfassten schriftlichen Darstellung den festgestellten Geschehensablauf einschließlich der Vorgeschichte und die festgestellten Tathandlungen der Angeklagten G, Z und Sn O geschildert.

Bereits dort hatte er nicht nur das Gespräch mit den Angeklagten am Vorabend der Tat, den nächtlichen Austausch von Textnachrichten mit der vermeintlichen Sa O und das Postieren der Angeklagten an den Türen des Fahrzeugs des K detailliert und plausibel geschildert. D N hatte dort ebenfalls ausgeführt - auch insoweit konstant mit den Bekundungen in der Hauptverhandlung -, dass der Angeklagte Z O zu einem Schlag angesetzt und er deshalb dessen Arm festgehalten habe, und ihm (N) unmittelbar nach Loslassen des Arms zwei Faustschläge gegen den Kopf durch den Angeklagten G O versetzt worden waren. Ebenfalls konstant mit seinen Bekundungen in der Hauptverhandlung hatte er bereits dort geschildert, dass er unter dem Eindruck weiterer Faustschläge seitens der
Angeklagten G und Z O zu Boden gegangen und dort weiter auf ihn eingeschlagen und getreten worden sei, und zwar gegen Kopf, Bauch und Rücken. Auch den seitens der Angeklagten Sn O ausgeführten Tritt gegen den Rücken, als er bereits am Boden lag, hatte er bereits in der schriftlichen Wiedergabe des Tatgeschehens geschildert.

Der Umstand, dass D N in der hiesigen Hauptverhandlung – anders als noch in seinen schriftlichen Angaben – die Beibringung von Tritten und Schlägen (auch) durch den Angeklagten StA nicht mehr sicher hat bezeugen können, war nicht geeignet, Zweifel an den Angaben des D N hinsichtlich der festgestellten Geschehensabläufe zu begründen. Vielmehr hat sich D N – nachdem er mit den Angaben des Zeugen L K in der Hauptverhandlung konfrontiert worden war, wonach sich der Angeklagte StA während der gesamten Zeit des Einwirkens der Angeklagten G und Z O auf D N an der Fahrerseite von Ks Fahrzeug befunden habe – erinnerungskritisch gezeigt. Er hat während seiner Befragung deutlich gemacht, dass er weiterhin glaube, dass er damals auch den Angeklagten StA als auf ihn schlagend und tretend wahrgenommen habe, er dies aber angesichts des Vorbringens des K, des Zeitablaufs und des Umstands, dass er, während er am Boden lag, auch zeitweise sein Gesicht bedeckt habe, um es vor Schlägen und Tritten zu schützen, nicht mehr mit absoluter Sicherheit sagen könne und niemanden zu Unrecht belasten wolle. In diesem Zusammenhang hat er jedoch deutlich differenziert, dass seine Erinnerungen an die festgestellten Tathandlungen der übrigen Angeklagten belastbar und sicher seien, und dies nachvollziehbar und plausibel damit begründet, dass aufgrund des späteren unmittelbaren Umgangs mit den übrigen Angeklagten, insbesondere auch, als er mit diesen – anders als mit dem Angeklagten StA – zeitweise unter einem Dach lebte, deren Handlungen in der Tatnacht durch deren späteres Verhalten oder Äußerungen ihm gegenüber immer wieder in Erinnerung gerufen und ‚aufgefrischt‘ worden seien.

Ebenso wenig war der Umstand, dass D N in seiner schriftlichen Darstellung vom 18. September 2020 ausgeführt hatte, der Zeuge K sei – anders, als es die Kammer feststellen konnte – vom Angeklagten StA nicht nur mit Worten, sondern mit einem spitzen Gegenstand bedroht worden, geeignet, Zweifel an den Angaben des D N hinsichtlich der festgestellten Geschehensabläufe zu begründen. In der Hauptverhandlung hat D N hierzu klargestellt, dass er insoweit in dem Schreiben nicht hinreichend dahingehend differenziert habe, dass ihm dieser Umstand nur durch den Zeugen K berichtet worden war. Er hat weiter erklärt, dass er damals zwar nicht geschrieben habe, dass er eine solche – durch K auch in der hiesigen Hauptverhandlung behauptete – Bedrohung mit einem spitzen Gegenstand selbst gesehen habe, man seine Formulierung in der schriftlichen Darstellung aber dahingehend missverstehen könnte. In der Hauptverhandlung hat er ausdrücklich klargestellt, dass er lediglich die festgestellte Äußerung des Angeklagten StA (‚Du bleibst im Auto! Wehe, du mischt dich ein, sonst bekommst du wie D!‘) gehört habe, jedoch nicht gesehen habe, dass dem K ein spitzer Gegenstand an den Hals gehalten wurde – dies sei ihm von dem Zeugen K als Begründung für dessen Nichteingreifen berichtet worden, weshalb er es in seine schriftliche Schilderung der Geschehensabläufe aufgenommen habe. Vor diesem Hintergrund war beim Zeugen D N auch kein Mehrbelastungseifer hinsichtlich des Angeklagten StA erkennbar, auch eine etwaige Abstimmung seiner Aussage mit der des am gleichen Hauptverhandlungstag vor ihm gehörten Zeugen K lag vor diesem Hintergrund fern.“

2. Auch den ebenfalls form- und fristgerecht begründeten (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Verfahrensrügen der weiteren Angeklagten kann im Hinblick auf den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO ein vorläufiger Erfolg nicht versagt bleiben, denn jedenfalls am 5. Juni 2023 war keiner der Angeklagten verteidigt, obwohl das oben Ausgeführte sinngemäß auch auf sie zutrifft.

IV.

Nachdem die Berufungshauptverhandlung gegen die Angeklagten mindestens an einem Tag ohne einen Verteidiger und somit in Abwesenheit einer Person stattgefunden hat, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Der Senat hebt es daher gemäß § 349 Abs. 4 StPO auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurück (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).


Einsender: RiKG D. Neumann, Berlin

Anmerkung:


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