Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 12.12.2023 – 2 Ws 139/23
Eigener Leitsatz:
Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist in der Regel erst bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu bejahen.
In der Strafsache
gegen pp.
wegen gefährlicher Körperverletzung u. a.
hat der 2. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 12. Dezember 2023 beschlossen:
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 4. September 2023 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
I.
Bei dem Landgericht Berlin ist das Berufungsverfahren gegen ein Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin – Strafrichter – vom 11. August 2022 anhängig. Mit diesem Urteil hatte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin den Einspruch gegen einen Strafbefehl nach § 412 StPO verworfen, da der Angeklagte zum Termin zur Hauptverhandlung nicht erschienen war. Durch den Strafbefehl vom 17. März 2022 war gegen den Angeklagten wegen versuchter Körperverletzung und versuchter gefährlicher Körperverletzung eine Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 20 Euro festgesetzt worden.
Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Nichterscheinens im Einspruchstermin vom 22. August 2022 war vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin mit Beschluss vom 29. September 2022 als unbegründet verworfen worden. Die gegen diesen Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Landgericht Berlin am 14. November 2022 als unbegründet. Der Angeklagte hatte für den Termin am 11. August 2022 eine Ladung in deutscher Sprache mit der (richtigen) Ladungszeit um 10.30 Uhr sowie eine beigefügte Übersetzung in die englische Sprache erhalten, die eine Ladungszeit um 13.30 Uhr auswies. Weder um 10.30 Uhr noch um 13.30 Uhr waren der Angeklagte oder sein Verteidiger erschienen.
Mit Schriftsatz vom 15. April 2023 teilte der Verteidiger des Angeklagten mit, dass sein mit Schriftsatz vom 22. August 2022 eingelegtes Rechtsmittel als Berufung auszulegen sei. Mit weiterem Schriftsatz vom 21. Juli 2023 beantragte der Verteidiger seine Bestellung und Beiordnung als Pflichtverteidiger des Angeklagten. Zur Begründung führte er aus, dass sich die besondere Schwierigkeit der Sachlage daraus ergebe, dass es vorliegend um eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gehe, die eine eingehende Glaubhaftigkeitsprüfung erforderlich mache. Dies sei dem Angeklagten aufgrund seiner fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache selbst nicht möglich.
Mit Beschluss vom 4. September 2023 wies der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer des Landgerichts Berlin den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der Begründung zurück, dass kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege. Der Beschluss wurde dem Angeklagten und seinem Verteidiger formlos übermittelt. Eine Zustellung war vom Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer nicht verfügt worden.
Mit sofortiger Beschwerde vom 16. September 2023, eingegangen bei den Justizbehörden in Berlin-Moabit am 18. September 2023, wendet sich der Verteidiger des Angeklagten im eigenen Namen gegen diesen Beschluss. Nach Zustellung des Antrags der Generalstaatsanwaltschaft im Beschwerdeverfahren teilte der Verteidiger des Angeklagten mit Schreiben vom 10. November 2023, eingegangen am gleichen Tag, mit, dass er sämtliche Rechtsbehelfe, insbesondere auch die sofortige Beschwerde, für und im Namen seines Mandanten eingelegt habe.
Zur Begründung der sofortigen Beschwerde führte der Verteidiger mit Schreiben vom 24. November 2023 aus, dass es sich bei der Frage der unverschuldeten Säumnis um eine schwierige Rechtsfrage handele. Auch gebiete der Grundsatz des fairen Verfahrens die Beiordnung, da das Amtsgericht Tiergarten in Berlin bereits am 17. März 2022 einen Strafbefehl erlassen habe, obwohl der Angeklagte unverschuldet an der Teilnahme des Hauptverhandlungstermins am 17. März 2022 gehindert gewesen sei. Auch hätten die Voraussetzungen für den Erlass eines Strafbefehls nicht vorgelegen, da der Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt gewesen sei.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig, sie ist aber unbegründet.
1. Die sofortige Beschwerde ist nach § 142 Abs. 7 StPO statthaft.
a) Der Verteidiger des Angeklagten hat ausweislich seines Schreibens vom 16. September 2023 die sofortige Beschwerde zwar zunächst eindeutig im eigenen Namen eingelegt („lege ich […] sofortige Beschwerde ein“). Einem Rechtsanwalt steht gegen die Ablehnung seiner Bestellung als Pflichtverteidiger jedoch kein eigenes Beschwerderecht zu (vgl. jüngst KG, Beschluss vom 22. September 2017 – 5 Ws 149/23 –; Meyer/Goßner-Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 142 StPO Rn. 63, jeweils mwN).
b) Nach Mitteilung des Verteidigers mit Schreiben vom 10. November 2023, dass die sofortige Beschwerde für und im Namen seines Mandanten eingelegt worden sei, ist auch die Beschwerdeberechtigung zu bejahen. Der Angeklagte ist beschwerdebefugt und kann sich gegen die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers wenden (vgl. Meyer/Goßner-Schmitt, aaO, § 142 StPO Rn. 62).
Diese Mitteilung, dass es sich bei dem Angeklagten um den Beschwerdeführer handele, war auch nicht verfristet. Gemäß § 142 Abs. 7 i.V.m. § 311 Abs. 2 StPO ist die sofortige Beschwerde binnen einer Woche einzulegen. Die einwöchige Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde (§ 311 Abs. 2 StPO) ist nicht in Gang gesetzt worden, weil das Landgericht den Beschluss vom 4. September 2023 nicht förmlich zugestellt hat (§§ 35 Abs. 2 Satz 1, 37 Abs. 1 StPO, § 166 ZPO). Der Beschluss ist sowohl an den Angeklagten als auch seinen Verteidiger formlos übermittelt worden. Zwar ist nach § 189 ZPO i.V. m. § 37 Abs. 1 StPO von einer Heilung eines Zustellungsmangels auszugehen, wenn dem Adressaten das zuzustellende Schriftstück tatsächlich zugeht. Von einem tatsächlichen Zugang kann hier ausgegangen werden, da erst die Kenntnis des Beschlusses vom 4. September 2023 zur Einlegung der sofortigen Beschwerde am 16. September 2023 führte. Voraussetzung für die Annahme einer Heilung ist aber zudem der Zustellungswille des Gerichts. § 189 ZPO setzt voraus, dass eine Zustellung vom Gericht beabsichtigt war, diese muss folglich angeordnet worden sein (vgl. KG NStZ-RR 2011, 86, 87). An dieser Voraussetzung eines Zustellungswillens fehlt es hier, so dass die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde noch nicht abgelaufen war.
2. Die sofortige Beschwerde ist aber unbegründet. Denn der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer hat die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu Recht abgelehnt. Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers liegen nicht vor.
Ein Fall notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO liegt ersichtlich nicht vor. Auch § 140 Abs. 2 StPO gebietet nicht die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Weder die konkrete Straferwartung noch die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage machen die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich.
Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird in der Regel bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bejaht (vgl. KG, Beschluss vom 6. Januar 2017 – 4 Ws 212/16 –, juris). Der Angeklagte wurde vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt. Die Straferwartung liegt damit deutlich unter einer Freiheitsstrafe von einem Jahr.
Es liegt auch keine schwierige Sachlage vor. Ausgangspunkt der anhängigen Berufung ist das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 11. August 2022. Gegenstand der Berufung ist mithin die Frage, ob die Voraussetzungen für die Verwerfung des Einspruchs gegen den Strafbefehl vorgelegen haben. Im Falle des Erfolgs der Berufung würde das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 11. August 2022 aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen werden. Die allein maßgebliche Frage, ob das Nichterscheinen des Angeklagten in der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung am
11. August 2022 genügend entschuldigt war, ist einfach gelagert (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Mai 2012 – 2 Ws 194/12 –, juris). Dass diese Beurteilung der genügenden Entschuldigung im Sinne des § 412 Satz 1 StPO besondere Schwierigkeit aufwirft, die die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig machen würde, ist nicht ersichtlich. In der Berufungsverhandlung wird es nicht zur Verhandlung in der Sache, also zur Verhandlung über die Vorwürfe der versuchten (gefährlichen) Kopfverletzung kommen, so dass sich die Problematik einer etwaigen Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nicht stellen wird.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Einsender: RiKG D. Neumann, Berlin
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