Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Saarbrücken, Beschl. v. 03.06.2024 – 1 Ss (OWi) 44/24
Leitsatz des Gerichts:
1. Eine Verjährungsunterbrechung nach §§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG setzt die Wirksamkeit der Zustellung des Bußgeldbescheides voraus.
2. Voraussetzung einer wirksamen Ersatzzustellung des Bußgeldbescheides durch Einlegen in den Briefkasten nach den §§ 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG, 1 SVwZG, 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG, 180 ZPO ist der Vermerk des Datums der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks.
3. Die Heilung eines Zustellungsmangels nach den §§ 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG, 1 SVwZG, 8 VwZG durch den tatsächlichen Zugang des Bußgeldbescheides beim Verteidiger setzt das Vorliegen einer Zustellungsvollmacht voraus.
In pp.
1. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts St. Ingbert vom 12. März 2024 aufgehoben.
2. Das Verfahren wird eingestellt.
3. Die Kosten des Verfahrens und die der Betroffenen darin entstandenen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Die Zentrale Bußgeldbehörde beim Landesverwaltungsamt setzte gegen die Betroffene mit Bußgeldbescheid vom 5. Juni 2023, der laut Postzustellungsurkunde durch eine Zustellerin der Deutschen Post AG am 9. Juni 2023 in den zur Wohnung der Betroffenen gehörenden Briefkasten eingelegt wurde, wegen fahrlässiger Überschreitung der außerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 46 km/h eine Geldbuße in Höhe von 320 Euro und ein Fahrverbot von einem Monat fest.
Auf den hiergegen vom Verteidiger der Betroffenen, der mit Schreiben der Zentralen Bußgeldbehörde vom 5. Juni 2023 unter Übersendung eines Duplikats über den Erlass des Bußgeldbescheids gegen die Betroffene informiert worden war, am 12. Juni 2023 eingelegten Einspruch hat das Amtsgericht St. Ingbert gegen die Betroffene mit Urteil vom 12. März 2024 wegen der ihr im Bußgeldbescheid vom 5. Juni 2023 zur Last gelegten Verkehrsordnungswidrigkeit eine Geldbuße in Höhe von 320 Euro festgesetzt und ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet.
Am 15. März 2024 hat der Verteidiger der Betroffenen gegen das Urteil Rechtsbeschwerde eingelegt und diese nach der an demselben Tag erfolgten Zustellung der Urteilsgründe am 15. April mit der Rüge der Verletzung sowohl formellen als auch sachlichen Rechts begründet. Verfahrensrechtlich beanstandet er die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung infolge der Missachtung eines aus der fehlenden Speicherung sog. Rohmessdaten folgenden Verbots zur Verwertung des Ergebnisses der Geschwindigkeitsmessung und der Ablehnung eines im Hinblick auf nicht zur Verfügung gestellte Messunterlagen gestellten Aussetzungsantrags sowie die Ablehnung eines in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrags. Sachlich-rechtlich macht er insbesondere geltend, dass die Verfolgung der verfahrensgegenständlichen Ordnungswidrigkeit zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits verjährt gewesen sei.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Urteil vom 12. März 2024 auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht St. Ingbert zurückzuverweisen, weil das Recht der Betroffenen auf ein faires Verfahren jedenfalls dadurch entscheidungserheblich verletzt worden sei, dass das Amtsgericht es unterlassen habe, darauf hinzuwirken, dass der Betroffenen und ihrem Verteidiger die sog. Token-Datei samt zugehörigem Passwort zur Entschlüsselung der digitalen Falldatei zur Verfügung gestellt wird, die dem Ordnungswidrigkeitenvorwurf zugrunde liegt.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 OWiG statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 341 Abs. 1, § 345 Abs. 1 und 2, § 43 Abs. 2 StPO) Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Auf die Rechtsbeschwerde waren das angefochtene Urteil aufzuheben und das Verfahren gemäß § 206a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG einzustellen, weil der Verfolgung der der Betroffenen zur Last gelegten Ordnungswidrigkeit gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 OWiG das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung entgegensteht.
1. Die Frage, ob Verfolgungsverjährung eingetreten ist, ist als Verfahrenshindernis vom Senat auf die mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts zulässig erhobene Rechtsbeschwerde vorrangig von Amts wegen eigenständig im Freibeweisverfahren zu überprüfen (vgl. Bauer in: Göhler, OWiG, 19. Aufl., § 31 Rn. 17; Krehl in: KK-StPO, 9. Aufl., § 244 Rn. 12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. März 2012 – 6 Ss 54/12 –, juris; BayObLG, Beschluss vom 17. November 2020 – 201 ObOWi 1385/20 –, juris Rn. 7).
2. Zum Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteils am 12. März 2024 war die maßgebliche Verjährungsfrist auch unter Berücksichtigung etwaiger Unterbrechungen gemäß § 33 Abs. 1, 2 und 3 Satz 1 OWiG bereits abgelaufen.
a) Für die der Betroffenen zur Last gelegte Ordnungswidrigkeit i.S.d. § 24 Abs. 1 StVG beträgt die Frist der Verfolgungsverjährung gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG drei Monate, solange wegen der Handlung weder ein Bußgeldbescheid ergangen ist noch öffentliche Klage erhoben worden ist, danach sechs Monate.
Die dreimonatige Verjährungsfrist des § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG begann gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG am 9. Februar 2023, dem Tag, an dem die Betroffene die ihr zur Last gelegte Geschwindigkeitsüberschreitung begangen haben soll, und lief damit zunächst bis zum Ablauf des 8. Mai 2023. Innerhalb dieses Zeitraums wurde die Verjährungsfrist gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG durch die am 15. März 2023 angeordnete Anhörung der Betroffenen unterbrochen und begann infolge dessen gemäß § 33 Abs. 3 Satz 1 OWIG neu zu laufen bis zum 14. Juni 2023.
b) Eine erneute rechtswirksame Unterbrechung der Verjährungsfrist ist nicht erfolgt. Insbesondere der Erlass des Bußgeldbescheids am 5. Juni 2023 und dessen Einlegung durch eine Zustellerin der Deutschen Post AG in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten der Betroffenen am 9. Juni 2023 bewirkten weder eine Unterbrechung der Verfolgungsverjährung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG noch eine Verlängerung der Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 2. HS StVG auf sechs Monate, innerhalb derer durch den Eingang der Akten beim Amtsgericht gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG am 19. September 2023 eine erneute Verjährungsunterbrechung bewirkt worden wäre.
Zwar erbringt die bei der Akte befindliche Postzustellungsurkunde vom 9. Juni 2023 (Bl. III f. d.A.) als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO, § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG, § 1 SVwZG, § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG (vgl. BVerfG NJW-RR 2002, 1008; BGH VersR 1984, 81, 82, 442, 443; NJW 1992, 1963; OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2011, 00211; OLG Düsseldorf VRS 87, 441, 442; OLG Hamm NJW-RR 1995, 223, 224; KG VRS 83, 52) den vollen Beweis für die darin von der Zustellerin bezeugte Tatsache (vgl. BGH, Beschluss vom 22. August 2023 – AnwZ (Brfg) 14/23 –, juris Rn. 6), dass der Bußgeldbescheid vom 5. Juni 2023 am 9. Juni 2023 in den zur Wohnung der Betroffenen gehörenden Briefkasten eingelegt wurde, nachdem die Betroffene von der Zustellerin nicht angetroffen worden war, ohne dass insoweit der nach § 418 Abs. 2 ZPO zulässige Beweis der Unrichtigkeit erbracht ist. Dies allein belegt aber noch keine Verlängerung und Unterbrechung der Verjährungsfrist. Sowohl für die Verlängerung der Verjährungsfrist auf sechs Monate gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 2. HS StVG als auch für die Unterbrechung der Verjährung nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG ist erforderlich, dass die Zustellung im Einzelfall auch wirksam war, mithin unter Beachtung der für die gewählte Art der (Ersatz-)Zustellung maßgeblichen zwingenden Zustellungsvorschriften erfolgte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 28. Oktober 1999 – 4 StR 453/99 –, juris Rn. 9 f.; OLG Celle, Beschluss vom 18. August 2015 – 2 Ss (OWi) 240/15 –, juris Rn. 11 m.w.N.; zur Unterbrechung der Verjährung vgl. auch BT-Drucks. 13/3691, S. 7). Daran fehlt es hier. Ebenso wenig kann angenommen werden, dass der Zustellungsmangel rechtzeitig vor Ablauf der Verjährungsfrist geheilt worden ist.
aa) Die gemäß § 50 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 51 Abs. 2 OWiG gesetzlich vorgeschriebene Zustellung des Bußgeldbescheids (zur Einordnung des Bußgeldbescheids als Maßnahme i.S.d. § 50 Abs. 1 Satz 2 OWiG vgl. Bauer in: Göhler, OWiG, 19. Aufl., § 50 Rn. 6) an die Betroffene war nicht wirksam.
(1) Für das Zustellungsverfahren der Verwaltungsbehörde gelten gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG die Vorschriften des Saarländischen Verwaltungszustellungsgesetzes (SVwZG), das für das Zustellungsverfahren der Behörden des Landes die Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (des Bundes) für entsprechend anwendbar erklärt (§ 1 SVwZG). Danach sind für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend anzuwenden (§ 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG).
(2) Bei der durch Einlegen des Bußgeldbescheids in den Briefkasten der Betroffenen erfolgten Zustellung sind die gesetzlichen Regelungen über das Zustellungsverfahren nicht eingehalten worden, weil davon auszugehen ist, dass die Zustellerin entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat.
(a) Die Voraussetzungen einer wirksamen Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ergeben sich aus § 180 ZPO. Gemäß § 180 Satz 1 ZPO kann, wenn der Zustellungsadressat - wie hier - in seiner Wohnung nicht angetroffen wird und die Ersatzzustellung durch Übergabe in der Wohnung an einen erwachsenen Familienangehörigen, eine in der Familie beschäftigte Person oder einen erwachsenen ständigen Mitbewohner (§ 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) nicht ausführbar ist, das Schriftstück in einen zu der Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt (§ 180 Satz 2 ZPO). Gemäß § 180 Satz 3 ZPO hat der Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung zu vermerken.
Bei der Verpflichtung nach § 180 Satz 3 ZPO handelt es sich nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs um eine zwingende Zustellungsvorschrift i.S.d. § 189 ZPO mit der Folge, dass das eingelegte Schriftstück bei einer Missachtung dieser Vorschrift erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt gilt (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 15. März 2023 – VIII ZR 99/22 –, juris Rn. 18 ff.; Beschlüsse vom 29. Juli 2022 – AnwZ (Brfg) 28/20 –, juris Rn. 15 ff. in Abkehr von BGH, Beschluss vom 14. Januar 2019 – AnwZ (Brfg) 59/17 –, juris, sowie vom 22. August 2023 – AnwZ (Brfg) 14/23 –, juris Rn. 10; vgl. auch dem folgend OLG Koblenz, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 10 U 472/23 –, juris Rn. 21 sowie BayObLG, Beschluss vom 31. Juli 2023 – 102 AR 128/23 e –, juris Rn. 18; noch a.A. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 Rb 8 Ss 387/18 –, juris Rn. 6 ff.; OLG Braunschweig, Beschluss vom 12. Oktober 2021 – 1 Ss (OWi) 172/21 –, juris; Lampe in: KK-OWiG, 5. Aufl., § 51 Rn. 35). Der Bundesgerichtshof stellt insoweit ausgehend davon, dass der Wortlaut des § 180 ZPO einem solchen Verständnis nicht entgegenstehe, neben der systematischen Erwägung, dass die Pflicht, das Datum der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks zu vermerken, ausdrücklich in der die Art und Weise dieser Form der Ersatzzustellung regelnden Vorschrift des § 180 ZPO und nicht in der Vorschrift des § 182 ZPO über die - nur dem Nachweis dienende (vgl. BT-Drucks. 14/4554, S. 22) - Beurkundung der Zustellung geregelt sei (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 15. März 2023 – VIII ZR 99/22 –, juris Rn. 20), insbesondere auf den Willen des Gesetzgebers (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 15. März 2023 – VIII ZR 99/22 –, juris Rn. 24 ff.) und den Schutzzweck der Verpflichtung aus § 180 Satz 3 ZPO ab, die im Hinblick darauf, dass sich an die Zustellung prozessuale Wirkungen knüpfen, die Ungewissheit über den genauen Zeitpunkt der Zustellung und damit über den Beginn einer gegebenenfalls mit der Einlegung in Gang gesetzten Frist für den Zustellungsadressaten ausgleichen und ihm so ermöglichen soll, seine Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung darauf einzurichten (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 15. März 2023 – VIII ZR 99/22 –, juris Rn. 22 f.).
Im Anwendungsbereich der für das Bußgeldverfahren maßgeblichen Regelungen von § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 1 SVwZG, § 3 Abs. 2 Satz 1 und § 8 VwZG kann der Vorgabe des § 180 Satz 3 ZPO keine abweichende Bedeutung beigemessen werden. Die Zustellung des Bußgeldbescheids bewirkt als einheitlicher Akt nicht bloß den Beginn des Laufs der Verjährungsfrist, sondern auch denjenigen der Frist zur Einlegung des Einspruchs nach § 67 Abs. 1 Satz 1 OWiG. Die Einheit der Rechtsordnung verbietet es, die Wirksamkeit einer Zustellung insoweit unterschiedlich zu beurteilen. Die danach anzunehmende Bedeutsamkeit der Beachtung der Vorgabe des § 180 Satz 3 ZPO auch für die Unterbrechung der Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG im Bereich der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten stellt sich als Ergebnis gesetzgeberischer Wertentscheidung dar. Die Verjährung wird im Interesse der Beschleunigung und der Rechtssicherheit (vgl. BT-Drucks. 13/3691, S. 7) durch den Erlass des Bußgeldentscheids gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG nur (noch) dann unterbrochen wird, sofern er binnen zwei Wochen zugestellt wird, ansonsten durch die Zustellung. Dies ist in der Rechtsanwendung hinzunehmen.
Soweit das Oberlandesgericht Karlsruhe und das Oberlandesgericht Braunschweig in früheren Entscheidungen angenommen haben, dass eine Verletzung der Vorgabe des § 180 Satz 3 ZPO durch den Zusteller die Wirksamkeit der Zustellung nicht berührt und der Ersatzzustellung, die durch Einlegung der ohne Datumsvermerk versehenen Sendung erfolgt, verjährungsunterbrechende Wirkung zugesprochen haben (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 Rb 8 Ss 387/18 –, juris Rn. 6 ff.; OLG Braunschweig, Beschluss vom 12. Oktober 2021 – 1 Ss (OWi) 172/21 –, juris), sieht sich der Senat zu einer Vorlage nach § 121 Abs. 2 GVG i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG nicht veranlasst. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Braunschweig stützt sich ausdrücklich auf frühere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2019 – AnwZ (Brfg) 59/17 –, juris), die dieser durch seine dargelegte jüngste Rechtsprechung aufgegeben hat (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 15. März 2023 – VIII ZR 99/22 –, juris Rn. 18 ff.; Beschlüsse vom 29. Juli 2022 – AnwZ (Brfg) 28/20 –, juris Rn. 15 ff. und vom 22. August 2023 – AnwZ (Brfg) 14/23 –, juris Rn. 10). Dabei hat der Bundesgerichtshof zugleich die vom Oberlandesgericht Karlsruhe seiner bisherigen abweichenden Auffassung zugrunde gelegten historischen, gesetzessystematischen und teleologischen Erwägungen verworfen. Der Senat geht daher davon aus, dass die abweichenden Entscheidungen der Obergerichte durch die jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs überholt sind.
(b) Vorliegend ist anzunehmen, dass die Zustellerin entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat und der Widerspruchsbescheid daher erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt galt.
(aa) Zwar erbringt die Postzustellungsurkunde vom 9. Juni 2023 (Bl. III f. d.A.) als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO (vgl. BVerfG NJW-RR 2002, 1008; BGH VersR 1984, 81, 82, 442, 443; NJW 1992, 1963; OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2011, 00211; OLG Düsseldorf VRS 87, 441, 442; OLG Hamm NJW-RR 1995, 223, 224; KG VRS 83, 52) vollen Beweis zunächst auch insoweit, als die Zustellerin darin durch Unterschrift bestätigt hat, auf dem Umschlag des in den Briefkasten der Betroffenen eingelegten Schriftstücks den Tag der Zustellung vermerkt zu haben (vgl. BGH, Beschluss vom 22. August 2023 – AnwZ (Brfg) 14/23 –, juris Rn. 6).
Hiergegen ist aber gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2, § 418 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG, § 1 SVwZG, § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG der im Wege des Freibeweises zu führende Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache zulässig, den die Betroffene hier hinsichtlich des unterbliebenen Vermerks des Datums der Zustellung auf dem Umschlag des zugestellten Schriftstücks erbracht hat.
Der Beweis der Unrichtigkeit setzt grundsätzlich den vollen Beweis des Gegenteils, das heißt der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen, voraus (vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 2017 – VIII ZR 224/16 –, juris Rn. 18 m.w.N.). Die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde muss vollständig entkräftet und jede Möglichkeit der Richtigkeit der in ihr niedergelegten Tatsachen ausgeschlossen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 22. August 2023 – AnwZ (Brfg) 14/23 –, juris Rn. 7 m.w.N.). Dementsprechend muss ein anderer Geschehensablauf substantiiert dargelegt werden und die dargelegten Umstände müssen dabei geeignet sein, ein Fehlverhalten des Postzustellers und damit eine Falschbeurkundung zu belegen (vgl. BVerfG, NJW-RR 2002, 1008; BVerwG, NJW 1986, 2127, 2128; BGH, Beschluss vom 22. August 2023 – AnwZ (Brfg) 14/23 –, juris Rn. 7, jew. m.w.N.). Dort, wo die oder der Betroffene keine umfassende Kenntnis der Umstände haben kann oder sonst eine Beweisnot besteht, dürfen die Anforderungen an substantiierten Vortrag aber nicht überspannt werden (vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 2017 – VIII ZR 224/16 –, juris Rn. 20). Ist der Vortrag schlüssig, so ist der im Wege des Freibeweises zu führende Gegenbeweis zu erheben; ob der vorgetragene Sachverhalt wahrscheinlich ist, obliegt der freien Beweiswürdigung des Gerichts (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 17. Februar 2012 − V ZR 254/10 –, juris Rn. 9 f.).
(bb) Danach ist hier der Beweis als erbracht anzusehen, dass die Urkunde über die Zustellung des Bußgeldbescheids an die Betroffene (Bl. III f. d.A.) in Bezug auf die darin enthaltene Erklärung, die Zustellerin habe den Tag der Zustellung auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt, unrichtig ist.
Der Verteidiger der Betroffenen hat das Vorbringen, bei der Einlegung des Bußgeldbescheids in den Briefkasten sei entgegen der Angabe im Protokoll über die Zustellung das Datum der Einlegung nicht auf dem Umschlag vermerkt worden, damit untermauert, dass er eine Lichtbildaufnahme eines Umschlags vorgelegt hat, der – mit der Ausnahme, dass er ein Sichtfenster aufweist – dem Muster nach Anlage 2 zu § 1 Nr. 2 der Verordnung zur Einführung von Vordrucken für die Zustellung im gerichtlichen Verfahren (Zustellungsvordruckverordnung - ZustVV) entspricht, das Landesverwaltungsamt – Zentrale Bußgeldbehörde als Absender ausweist und durch das Sichtfenster hindurch erkennbar ein gegen Zustellungsurkunde an die Betroffene gerichtetes Schreiben beinhaltet, das das Aktenzeichen des ihr gegenüber erlassenen Bußgeldbescheids vom 5. Juni 2023 trägt. Das auf dem Umschlag für die Eintragung des Datums der Zustellung vorgesehene Textfeld ist nicht ausgefüllt.
Anhaltspunkte dafür, dass die vorgelegte Lichtbildaufnahme nicht den Zustellungsumschlag des gegen die Betroffene erlassenen Bußgeldbescheids vom 5. Juni 2023 zeigt, sind nicht ersichtlich. Zwar trägt der Umschlag selbst mit Ausnahme der Angabe des Landesverwaltungsamtes als Absender keinen Hinweis auf einen Zusammenhang mit dem gegen die Betroffene erlassenen Bußgeldbescheid. Insbesondere ist das für einen Aufdruck des Aktenzeichens auf dem Umschlag vorgesehene Textfeld nicht ausgefüllt. Die Handhabung, in Wahrnehmung der Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 2 ZustVV Umschläge mit Sichtfenster zu verwenden und von der Angabe des Aktenzeichens auf dem Umschlag selbst abzusehen, entspricht aber nach Auskunft der Zentralen Bußgeldbehörde gegenüber dem Senat der dort ständigen Praxis. Dieses zulässige Verwaltungshandeln, das praktischen Erwägungen der verwaltungsinternen Organisation entspringt, darf aber nicht zu Lasten von Betroffenen gehen, indem von ihnen verlangt wird, die Zuordnung eines Umschlags zu einer konkreten Sendung im Einzelfall über den schlüssigen Vortrag hinaus, dass es sich um den Umschlag der Zustellung handele, zu belegen. Ein solcher Nachweis ist in Fällen, in denen die Verwaltungsbehörde von der Möglichkeit nach § 2 Abs. 2 ZustVV Gebrauch macht, regelmäßig nicht möglich. Ihn zu verlangen, würde daher die Anforderungen an den Nachweis i.S.d. § 418 Abs. 2 ZPO überspannen. Anhaltspunkte dafür, dass im konkreten Fall das vorgelegte Lichtbild nicht den Umschlag der Zustellung an die Betroffene zeigt und die Betroffene insoweit, ggf. gar bewusst, falsch vorträgen lässt, liegen nicht vor. Ein solches Handeln kann, selbst wenn darin im Einzelfall noch zulässiges Verteidigungsverhalten liegen sollte (vgl. Bartel in: MüKo-StPO, 2. Aufl., § 261 Rn. 194), der Betroffenen auch nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Demnach ist durch die Vorlage des Umschlags die Angabe auf der Zustellungsurkunde, dass das Datum der Zustellung auf dem Umschlag vermerkt ist, gem. § 418 Abs. 2 ZPO widerlegt (vgl. BGH, Beschluss vom 22. August 2023 – AnwZ (Brfg) 14/23 –, juris Rn. 11).
bb) Es kann auch nicht angenommen werden, dass der Zustellungsmangel rechtzeitig vor Ablauf der Verjährungsfrist geheilt worden ist.
(1) Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Bußgeldbescheids nicht nachweisen oder ist er unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt der Bußgeldbescheid gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 1 SLVwZG und § 8 VwZG in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem er dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist.
Eine solche Heilung des Zustellungsmangels durch tatsächlichen Zugang war zwar nicht bloß bis zum Ablauf der ohne erneute Unterbrechung bis zum 14. Juni 2023 laufenden Verjährungsfrist, sondern bis zum Ablauf des 19. Juni 2023 möglich, da die Verjährung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 1. Alt. OWiG aufschiebend bedingt bereits durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 5. Juni 2023 unterbrochen worden wäre, sofern er binnen zwei Wochen nach Erlass zugestellt worden wäre. Ein tatsächlicher Zugang bei einer empfangsberechtigten Person ist aber auch bis zum Ablauf dieser längeren Frist nicht nachweisbar.
(a) Ein tatsächlicher Zugang des am 9. Juni 2023 im Briefkasten der Betroffenen eingelegten Bußgeldbescheids bis zum Ablauf der zweiwöchigen Frist des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 1. Alt. OWiG bei der Betroffenen selbst, der voraussetzen würde, dass sie den Bußgeldbescheid bis dahin „in die Hand“ bekam (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 15. März 2023 – VIII ZR 99/22 –, juris Rn. 30 m.w.N.), ist dem in der Akte dokumentierten Verfahrensgang nicht zu entnehmen. Allein der Umstand, dass der Bußgeldbescheid ausweislich der Postzustellungsurkunde, deren Beweiskraft gemäß § 418 Abs. 1 ZPO insoweit unberührt ist (vgl. dazu unter 2. b)), am 9. Juni 2023 in den Briefkasten der Betroffenen eingelegt wurde, belegt nicht, dass der Bußgeldbescheid der Betroffenen persönlich auch tatsächlich vor dem Ablauf der Frist aus § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 1. Alt. StGB körperlich zugegangen ist. Auch daraus, dass der Verteidiger der Betroffenen bereits am 12. Juni 2023 Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt hat, kann nicht ohne Weiteres darauf geschlossen werden, dass der Betroffenen selbst zu diesem Zeitpunkt der Bußgeldbescheid bereits tatsächlich zugegangen war, zumal die Verwaltungsbehörde den Verteidiger zuvor gem. § 51 Abs. 3 Satz 5 OWiG unter Übersendung eines Duplikats des Bußgeldbescheids über dessen Erlass informiert hatte und der Verteidiger hierauf entsprechend seines Vorbringens bei Einlegung des Einspruchs gemäß § 297 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG aus eigenem Recht gehandelt haben kann, ohne dass die Betroffene hiervon zunächst Kenntnis erlangt und den Bußgeldbescheid bis zum Ablauf des 19. Juni 2023 in die Hand bekommen haben muss (zur Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels durch einen Verteidiger zunächst ohne Wissen des Mandanten vgl. OLG Hamm NJW 2008, 3799). Selbst bei einem Handeln im ausdrücklichen Auftrag der Betroffenen wäre nicht ohne Weiteres belegt, dass der Bußgeldbescheid der Betroffenen zu diesem Zeitpunkt bereits tatsächlich zugegangen und nicht bloß dessen Inhalt durch den Verteidiger vermittelt war, was für einen Zugang i.S.d. § 8 VwZG nicht ausreicht (vgl. BVerwG NVwZ 1999, 178; Preisner in: BeckOK OWiG, 42. Ed. 1.4.2024, VwZG § 8 Rn. 20). Ein tatsächlicher Zugang vor Ablauf der Frist des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 1. Alt. StGB kann auch mit den dem Senat im Wege des Freibeweises zur Verfügung stehenden Mitteln nicht nachgewiesen werden. Im Freibeweisverfahren gilt kein im Verhältnis zum gesetzlich geregelten sog. Strengbeweis abgeschwächter Überzeugungsgrad. Es gilt der allgemeine Grundsatz der freien Beweiswürdigung (vgl. Becker in: LR-StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 37). Beweise, die einen tatsächlichen Zugang vor Ablauf der Frist des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 1. Alt. OWiG, belegen könnten, der nach allgemeiner Lebenserfahrung naheliegen mag, aber im Hinblick auf zahlreiche denkbare Gründe einer längerfristigen Abwesenheit etwa infolge Urlaubs oder auswärtiger Erwerbstätigkeit nicht ohne Weiteres angenommen werden kann, liegen nicht vor. Eine Verpflichtung der Betroffenen, sich zum Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs oder zu Gründen zu verhalten, die einem solchen entgegenstehen, besteht von Rechts wegen im Bußgeldverfahren, ebenso wie es für das Strafverfahren anerkannt ist (vgl. Becker in: LR-StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 37; Krehl in: KK-StPO, 9. Aufl., § 244 Rn. 16; Dahs, Die Revision im Strafprozess, Rn. 94), nicht. Im Wege des Freibeweises nicht zu beseitigende Zweifel, ob die tatsächlichen Voraussetzungen einer Verjährungsunterbrechung vorliegen, wirken zugunsten der Betroffenen (vgl. BGH NStZ 1996, 274; NStZ 2009, 205, 206; NStZ-RR 2018, 172; Bosch in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 78c Rn. 26 m.w.N.).
(b) Eine Heilung ist auch nicht durch den spätestens am 12. Juni 2023, dem Tag der Einlegung des Einspruchs, erfolgten tatsächlichen Zugang des Bußgeldbescheids beim Verteidiger infolge der informatorischen Übersendung eines Duplikats durch die Verwaltungsbehörde gem. § 51 Abs. 3 Satz 5 OWiG eingetreten.
(aa) In der Rechtsprechung wird zwar angenommen, dass eine unwirksame Zustellung an einen Betroffenen im Bußgeldverfahren gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 1 SVwZG, § 8 VwZG (vgl. BT-Drucks. 15/5216, S. 14) auch durch den Zugang einer gemäß § 51 Abs. 3 Satz 5 OWiG übersandten Abschrift des Bußgeldbescheids beim Verteidiger geheilt werden kann (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 31. März 2022 – 1 OWi 32 SsBs 233/21 –, juris Rn. 5 ff. m.w.N. auch zur verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung; BayObLG, Beschluss vom 21. Januar 2022 – 202 ObOWi 2/22 –, juris Rn. 25 ff.; Preisner in: BeckOK OWiG, 42. Edition 01.04.2024, § 8 VwZG Rn. 19; vgl. auch Senatsbeschluss vom 29. April 2009 – Ss (Z) 205/2009 (37/09) –, juris Rn. 10 für den Fall der Heilung einer unwirksamen Zustellung an den Verteidiger durch tatsächlichen Zugang beim Betroffenen; offengelassen von OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Oktober 2020 – 2 Rb 35 Ss 618/20 –, juris Rn. 10; a.A. OLG Celle, Beschlüsse vom 30. August 2011 – 311 SsRs 126/11 –, juris, Rn. 17 f. und vom 18. August 2015 – 2 Ss (OWi) 240/15 –, juris, Rn. 12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 10. Oktober 2013 – 4a Ss 428/13 –, juris Rn. 11; im Allgemeinen zur Eignung des Zugangs einer Kopie oder eines Duplikats zur Heilung im Anwendungsbereich der Verwaltungszustellungsgesetze BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 – 8 C 43.95 –, juris Rn. 29 für § 9 VwZG a.F. sowie speziell für das Bußgeldverfahren OLG Hamm, Beschluss vom 8. August 2017 – 3 RBs 106/17 –, juris Rn. 29). Empfangsberechtigter i.S.d. nach dem Willen des Gesetzgebers inhaltlich an § 189 BGB (zur einschlägigen Rechtsprechung zu § 189 BGB vgl. BGH BeckRS 2015, 6671 Rn. 15; NJW 2016, 1517, 1518; OLG Köln, Urteil vom 6. November 2019 – I-13 U 226/17 –, juris Rn. 56 ff.) angelehnten § 8 VwZG (vgl. BT-Drs. 15/5216, S. 14) sei nicht nur derjenige, an den die Zustellung gerichtet sei, sondern jede Person, an die die Zustellung nach den gesetzlichen Bestimmungen hätte gerichtet werden können (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 31. März 2022 – 1 OWi 32 SsBs 233/21 –, juris Rn. 7; BayObLG, Beschluss vom 21. Januar 2022 – 202 ObOWi 2/22 –, juris Rn. 25). Danach kann die Heilung eines Zustellungsmangels gemäß § 51 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 1 SLVwZG, § 8 VwZG aber nur dann angenommen werden, wenn ein Verteidiger, dem gemäß § 51 Abs. 3 Satz 5 OWiG ein Duplikat eines seinem Mandanten nicht wirksam zugestellten Bußgeldbescheids tatsächlich zugeht, kraft Gesetzes (§ 51 Abs. 3 Satz 1 OWiG) oder rechtsgeschäftlich (zur Möglichkeit rechtsgeschäftlicher Zustellungsermächtigung vgl. BGH StraFo 2010, 339; KG, Beschluss vom 15. Juni 2020 – (4) 161 Ss 55/20 (59/20) –, juris Rn. 11; BayObLG NJW 2004, 1263 f.) ermächtigt war, Zustellungen für die oder den Betroffenen entgegenzunehmen (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 31. März 2022 – 1 OWi 32 SsBs 233/21 –, juris Rn. 7; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Oktober 2020 – 2 Rb 35 Ss 618/20 –, juris Rn. 9).
(bb) Nichts von dem kann hier unter Berücksichtigung dessen, dass sich Zweifel auch insoweit zugunsten der Betroffenen auszuwirken haben, angenommen werden.
Der Verteidiger war nicht gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 1. HS OWiG kraft Gesetzes berechtigt, Zustellungen entgegenzunehmen, weil er weder bestellt war noch die ihm als gewähltem Verteidiger erteilte Bevollmächtigung im Zeitpunkt des Zugangs des Duplikats des Bußgeldbescheids nachgewiesen war. Letzteres setzt voraus, dass sich zum Zeitpunkt der Zustellung eine Vollmacht bei der Akte befand (vgl. Senatsbeschluss vom 29. April 2009 – Ss (Z) 205/2009 (37/09) –, juris Rn. 10); das bloße Auftreten des Verteidigers gegenüber der Bußgeldbehörde genügt nicht, um die gesetzlich fingierte Zustellungsvollmacht gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 1. HS OWiG auszulösen (vgl. BGHSt 41, 303; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1996, 237; Senatsbeschluss vom 29. April 2009 – Ss (Z) 205/2009 (37/09) –, juris Rn. 10).
Es kann auch nicht angenommen werden, dass dem Verteidiger zum Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs des Bußgeldbescheids oder, soweit angenommen wird, dass eine Heilung auch in dem Fall und Zeitpunkt eintritt, in dem ein Rechtsanwalt erst nachträglich zustellungsbevollmächtigt wird und er bereits zuvor oder zeitgleich mit der Bevollmächtigung in den Besitz des zuzustellenden Schriftstücks gelangt war (vgl. BGH, Urteil vom 29. März 2017 – VIII ZR 11/16 –, juris Rn. 44 m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 21. Januar 2022 – 202 ObOWi 2/22 –, juris Rn. 28; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. April 2008 – IV-2 Ss (OWi) 191/07 - (OWi) 101/07 III –, juris Rn. 24), zumindest vor Ablauf der Frist des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 1. Alt. OWiG rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht erteilt worden war. Soweit der Verteidiger bei der vom Amtsgericht veranlassten Zustellung des angefochtenen Urteils am 15. März 2024 durch elektronisch signiertes Empfangsbekenntnis bestätigt hat, zur Entgegennahme ermächtigt zu sein, erlaubt dies allein nicht die Annahme einer Zustellungsbevollmächtigung bereits zum Zeitpunkt des Zugangs des Bußgeldbescheids im Juni 2023. Zwar liegt in der Bestätigung im Empfangsbekenntnis, zur Entgegennahme legitimiert zu sein, der Nachweis einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. Februar 2017 – 2 (6) SsRs 723/16 –, BeckRS 2017, 103585 Rn. 7 m.w.N.; KG VRS 125, 230; BayObLG NJW 2004, 1263). Nicht angenommen werden kann indes, dass die rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht bereits zum Zeitpunkt des Zugangs des Bußgeldbescheids im Juni 2023 bestand. Die Möglichkeit zur Urteilszustellung an den Verteidiger folgte daraus, dass der Verteidiger in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht eine ihm von der Betroffenen am 9. Januar 2024 erteilte Vollmacht zur Akte gereicht hatte, die ihn auch zur Entgegennahme von Zustellungen ermächtigt (Bl. 126 d.A.). Eine frühere, bereits im Juni 2023 bestehende Zustellungsvollmacht kann nicht nachgewiesen werden. Auf Ersuchen des Senats hat der Verteidiger erklärt, dass ihm vor dem 9. Januar 2024 von der Betroffenen keine Zustellungsvollmacht erteilt worden war (vgl. Bl. 244 d.A.). Umstände, die Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit dieser Auskunft geben könnten, liegen nicht vor. Auf das Vorliegen einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht bereits im Juni 2023 kann, was anders als im Rahmen des § 51 Abs. 3 Satz 1 1. HS OWiG bezüglich der allgemeinen Bevollmächtigung grundsätzlich möglich ist, im konkreten Fall auch nicht aus konkludentem Verhalten geschlossen werden. Liegt eine ausdrückliche Bevollmächtigung zur Entgegennahme von Zustellungen nicht vor, so ist die Frage, ob der Angeklagte und sein Verteidiger dahingehend übereingekommen sind, anhand der Gesamtheit der erkennbaren Umstände sowie des Auftretens des Rechtsanwalts im Verfahren zu entscheiden (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 20. April 2016 – 1 Ws 40/16 –, juris Rn. 12). Allein daraus, dass ein Verteidiger wie hier gegenüber der Bußgeldbehörde die Verteidigung eines Betroffenen anzeigt und um Akteneinsicht ersucht, ergibt sich nicht die Erklärung, dass der Verteidiger rechtsgeschäftlich auch zur Empfangnahme von Zustellungen bevollmächtigt ist. Denn nach außen erkennbar ist aufgrund der Anzeige der Bestellung allenfalls die Bevollmächtigung hinsichtlich der vom Verteidiger vorgenommenen Verteidigungshandlungen, während eine Zustellungsvollmacht passiven Charakter hat (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Oktober 2020 – 2 Rb 35 Ss 618/20 –, juris Rn. 15). Sonstige Umstände, die belegen könnten, dass der Verteidiger bereits im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs des Bußgeldbescheids bei ihm im Juni 2023 rechtsgeschäftlich zur Entgegennahme von Zustellungen bevollmächtigt war, liegen nicht vor und ließen sich auch mit den dem Senat im Wege des Freibeweisverfahrens zur Verfügung stehenden Mitteln nicht ermitteln.
c) Umstände, die eine Vereitelung der Zustellung oder deren Heilung durch bewusst irreführende Verfahrensgestaltung seitens der Verteidigung belegen könnten, liegen nicht vor.
d) War die Frist zur Verfolgungsverjährung demnach mit Ablauf des 14. Juni 2023 abgelaufen, konnten der Eingang der Akten beim Amtsgericht am 19. September 2023 (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 OWiG) und die Anberaumungen von Hauptverhandlungen am 6. Oktober 2023 und 9. Februar 2024 (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 OWiG) als weitere, dem Grunde nach verjährungsunterbrechende Tatbestände (vgl. zur wiederholten Unterbrechung der Verfolgungsverjährung: OLG Celle, Beschluss vom 18. August 2015 – 2 Ss (OWi) 240/15 –, juris Rn. 14) erneute Verjährungsunterbrechungen nicht mehr bewirken.
Die angefochtene Entscheidung war daher bereits auf die Sachrüge hin wegen des im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr behebbaren Verfahrenshindernisses eingetretener Verfolgungsverjährung gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben. Zudem war das Verfahren gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. 206a StPO einzustellen, was der Senat gemäß § 79 Abs. 6 OWiG selbst aussprechen konnte. Einer weitergehenden sachlich-rechtlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung bedurfte es bei dieser Sachlage ebenso wenig wie einer Entscheidung über die verfahrensrechtlichen Beanstandungen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Nachdem der Verteidiger der Betroffenen bereits im Ausgangsverfahren auf den Eintritt der Verfolgungsverjährung hingewiesen hatte, sind keine Gründe ersichtlich, die es unbillig erscheinen lassen würden, von einer Auferlegung der notwendigen Auslagen der Betroffenen auf die Landeskasse ausnahmsweise gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO abzusehen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 18. August 2015 – 2 Ss (OWi) 240/15 –, juris Rn. 17).
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