Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.06.2024 - 1 ORbs 137/24
Eigener Leitsatz:
Der Tatrichter, der sich einem (anthropologischen) dem Sachverständigengutachten anschließt, muss in den Urteilsgründen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen des Sachverständigengutachtens mitteilen.
1 ORbs 137/24
Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss
In dem Bußgeldverfahren
gegen
Verteidiger:
Rechtsanwalt Tobias Reulecke, Dornbergweg 39 a, 38855 Wernigerode
wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften u. a.
hat das Brandenburgische Oberlandesgericht - 1. Senat für Bußgeldsachen - durch die Richterin am Oberlandesgericht als Einzelrichterin am 19. Juni 2024 beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Zossen vom 09. Februar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht Zossen zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerorts um 47 km/h sowie wegen Benutzens eines elektronischen Gerätes als Fahrzeugführer zu einer Geldbuße von 400 Euro verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat Dauer angeordnet.
Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung materiellen und formellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Zossen vom 09. Februar 2024 gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe als unbegründet zu verwerfen, dass der Betroffene des vorsätzlichen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 47 km/h schuldig ist.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg und führt bereits auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht (§ 79 Abs. 6 OWiG).
Das angefochtene Urteil weist durchgreifende, auf die Sachrüge hin beachtliche, Rechtsfehler in der Beweiswürdigung auf.
Grundsätzlich ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters. Das Revisions- bzw. Rechtsbeschwerdegericht kann nur eingreifen, wenn sie rechtsfehlerhaft ist, insbesondere wenn sie Widersprüche oder erhebliche Lücken aufweist oder mit Denkgesetzen oder gesicherten Erfahrungssätzen nicht vereinbar (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 08. Juni 2017 - III-4 RVs 64/17 – m.w.N.).
Die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil ist hinsichtlich der Täteridentifizierung lückenhaft. Folgt der Richter dem Gutachten eines Sachverständigen, hat er die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachtens so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und ob die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (BGHSt 39, 291, 297).
Der Umfang der Darlegungspflicht richtet sich danach, ob es sich um eine standardisierte Untersuchungsmethode handelt, sowie nach der jeweiligen Beweislage und der Bedeutung, die der Beweisfrage für die Entscheidung zukommt (BGH NStZ 2000, 106 m. w. N.; OLG Bamberg, DAR 2010, 390). Diesen Anforderungen genügt die Darstellung des anthropologischen Gutachtens im angegriffenen Urteil nicht.
Zwar sind keine Angaben zum Verbreitungs- oder Häufigkeitsgrad bestimmter morphologischer Merkmale erforderlich, wenn der Sachverständige - wie hier - keine Wahrscheinlichkeitsberechnung anstellt und daraus unmittelbar das Ergebnis des Gutachtens ableitet. Denn nur in diesem Fall bedarf es der Kenntnis der in die Berechnung eingestellten Rechengrößen, um die Richtigkeit der Berechnung überprüfen und die Berechnung nachvollziehen zu können (OLG Jena, VRS 122, 143 m. w. N.).
Jedoch muss der Tatrichter, der sich dem Sachverständigengutachten anschließt, zunächst die wesentlichen Anknüpfungstatsachen des Sachverständigengutachtens mitteilen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 12. August 2008, 2 Ss (OWi) 148 B/08; Beschl. v. 22. Februar 2007, 2 Ss (OWi) 39 B/07), d. h. das ausgewertete Bildmaterial und die vom Sachverständigen dabei herausgearbeiteten morphologischen Merkmale, die er einem Vergleich unterzogen hat, sowie deren Anzahl. Sodann ist darzustellen, in welchem Maße der Sachverständige Übereinstimmungen festgestellt, auf welche Art und Weise er diese ermittelt hat und welche Aussagekraft er ihnen beimisst, d. h. wie er die jeweilige Übereinstimmung bei der Beurteilung der Identität gewichtet hat (Senatsbeschluss vom 4. November 2010, (1 B) 53 Ss-OWi 505/10 (271/10)). In welcher Form diese Darstellung erfolgt, ist dabei unerheblich, sofern sich die vom Sachverständigen untersuchten Merkmalsprägungen - soweit das Gericht sie für ergebnisrelevant hält -, deren Gewichtung und das Ergebnis des Vergleichs daraus ablesen lassen (OLG Jena, a. a. O.).
Diesen Anforderungen genügt die Darstellung des anthropologischen Gutachtens im angegriffenen Urteil nicht. Das Urteil enthält keine Feststellungen darüber, welche morphologischen Merkmale die Sachverständige untersucht hat. Aus der Angabe, dass 107 Merkmale bei dem Fahrer erkennbar waren, wobei die Merkmale der Nase, der Untergesichtsregion und des rechten Ohres beim Fahrer als stark charakteristisch hervorzuheben seien und dass Übereinstimmungen bei 65 der 65 untersuchten Gesichtsmerkmalen festgestellt worden seien und zugleich den Betroffenen ausschließende Merkmale nicht aufgefunden wurden, lässt auch in Verbindung mit dem Umstand, dass der Betroffene „sehr wahrscheinlich“ der Fahrer des Tatfahrzeugs gewesen sei, keinen Rückschluss auf die Geeignetheit dieser Anzahl von übereinstimmenden Merkmalen zur Identifizierung des Betroffenen zu. Im Übrigen stellt das Gericht nicht dar, zu welchem Ausprägungsgrad die Sachverständige Übereinstimmungen festgestellt hat und welche Aussagekraft sie ihnen beimisst. Diese Ausführungen waren auch nicht entbehrlich.
Zwar hat die Bußgeldrichterin gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i. V. m. § 71 Abs. 1 OWiG wirksam auf das Beweisfotos Bezug genommen, indem sie im Rahmen der Nennung und Erörterung des der Täteridentifizierung dienenden Lichtbildes in den Urteilsgründen einen Klammerzusatz mit einer genauen Fundstelle in den Akten angefügt hat (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 22. Mai 2023 – 1 Ss (OWi) 47/22 –). Das Beweisfoto ist indes nicht, wie die Generalstaatsanwaltschaft meint, zur Identifizierung des Fahrers uneingeschränkt geeignet. Im Urteil wird zutreffend ausgeführt, dass das Beweisfoto für die Sachverständige zwar insgesamt zur Identifikation geeignet sei, weil es mehr als 20 Merkmale erkennen lasse, allerdings sei es von nur mäßiger Qualität. Darüber hinaus wird ein großer Teil der Stirn und des Haaransatzes des Fahrers von der Sonnenblende des Fahrzeuges verdeckt. Von einer uneingeschränkten Eignung zur Identifizierung des Fahrzeugführers kann hiernach gerade nicht ausgegangen werden, weshalb sich das Amtsgericht auch folgerichtig der Sachverständigen zur Identifizierung des Fahrzeugführers bedient hat.
Aufgrund der aufgezeigten Darstellungsfehler ist dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung der Schlüssigkeit des Gutachtens und seines Beweiswertes nicht möglich.
Der Senat weist darauf hin, dass das Amtsgericht die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft zu einer vorsätzlichen Begehung der Ordnungswidrigkeit zu berücksichtigen haben wird.
Einsender: RA T. Reulecke, Wernigerode
Anmerkung:
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".