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Entscheidungen

StPO

Verfahrensrüge, Begründung, Urteilsabsetzungsfrist

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.10.2023 - 3 ORs 26/23

Leitsatz des Gerichts:

In der Revisionsbegründung sind alle Tatsachen vollständig vorzutragen, welche für die Prüfung erforderlich sind, ob das Urteil innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden ist. Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Überschreitung der Frist durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren und unabwendbaren Umstand bedingt war (§ 275 Abs. S. 4 StPO), muss die Revision auch diese besonderen Umstände mit Tatsachen unterlegt darlegen. Eine Verfahrensrüge ist deshalb unzulässig, wenn es die Revisionsbegründung versäumt, über einen entsprechenden Vermerk des Tatrichters zu informieren.


In pp.

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Marburg vom 15.05.2023 wird als unbegründet verworfen, weil die Überprüfung des angefochtenen Urteils auf das Revisionsvorbringen hin keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Marburg hat den Angeklagten am 15.05.2023 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 15,00 Euro verurteilt, seine Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von vier Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen (Bl. 99, 100 ff. d.A.).

Das Urteil wurde am Tag der Hauptverhandlung am 15.05.2023 - dem einzigen Termin - verkündet. Die Entscheidungsgründe des Urteils gelangten am 06.07.2023 zur Geschäftsstelle. In den Akten befindet sich ein Vermerk vom 06.07.2023 (Bl. 109 d.A.) des Tatrichters, wonach der Erste Justizhauptwachtmeister der vom Tatrichter verfügten Frist zur Vorlage des Hauptverhandlungsprotokolls, nämlich zwei Wochen nach der Hauptverhandlung (Bl. 89 RS d.A.), erst am 06.07.2023 nachkommen konnte, weil der Justizhauptwachtmeister wegen hoher Arbeitsbelastung zeitweise dem Amtsgericht Stadt1 zugeordnet gewesen sei. Deshalb sei vom zuständigen Richter das vom Angeklagten am 17.05.2023 eingelegte Rechtsmittel übersehen und die Absetzung des Urteils erst am 06.07.2023 unverzüglich nachgeholt worden.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. hat nach richterlichem Hinweis unter Zurücknahme ihrer Anträge vom 09.08.2023 und 30.10.2023 zuletzt unter dem 06.11.2023 beantragt, die Revision des Angeklagten als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

II.

Die statthafte (§ 335 StPO) sowie form- und fristgerecht gem. § 341 StPO eingelegte und nach wirksamer Zustellung des Urteils am 11.07.2023 mit den Schriftsätzen vom 13.07.2023 und 14.07.2023 gem. § 345 StPO begründete Revision ist zulässig, deckt aber keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

1. Die Verfahrensrüge einer Verletzung des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO i.V.m. § 338 Nr. 7 StPO ist nicht den Förmlichkeiten des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechend ausgeführt.

a) In der Revisionsbegründung sind alle Tatsachen vollständig vorzutragen, welche für die Prüfung erforderlich sind, ob das Urteil innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden ist (BGH, Urt. v. 06.02.1980 - 2 StR 729/79, BGHSt 29, 203 f. = NJW 1980, 1292; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 31.03.2014 - Ss (B) 18/2014 (15/14 OWi), NJOZ 2014, 1545, 1546). Im Regelfall genügt die Mitteilung des Tags der Urteilsverkündung, der Zahl der Hauptverhandlungstage und des Datums des auf dem Urteil angebrachten Eingangsstempels (BGH, Beschl. v. 22.01.2019 - 2 StR 413/18, StV 2019, 820, 821 Tz. 3; BayObLG, Beschl. v. 16.05.2022 - 201 ObOWi 483/22, BeckRS 2022, 11544 Rn. 4; OLG Brandenburg, Beschl. v. 31.01.2000 - 1 Ss 11/00, juris Rn. 4; MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, 2019, § 338 Rn. 177; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. 2023, § 338 Rn. 98).

Liegen jedoch Anhaltspunkte dafür vor, dass die Überschreitung der vorgenannten Frist durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren und unabwendbaren Umstand bedingt war (§ 275 Abs. S. 4 StPO), muss die Revision auch diese besonderen Umstände mit Tatsachen unterlegt darlegen, z.B. überraschendes Versterben, Krankschreibungen, Urlaubszeiten des Tatrichters bzw. des Berichterstatters oder lebensgefährliche Erkrankungen von deren nahen Angehörigen (BayObLG, Beschl. v. 16.05.2022 - 201 ObOWi 483/22, BeckRS 2022, 11544 Rn. 4; KK-StPO/Gericke aaO., § 338 Rn. 98). Eine Verfahrensrüge ist deshalb unzulässig, wenn es die Revisionsbegründung versäumt, über einen entsprechenden Vermerk des Tatrichters zu informieren (BGH, Beschl. v. 24.11.2006 - 1 StR 558/06, NStZ-RR 2007, 88).

b) So liegt es hier. In der Revisionsbegründung wird der Vermerk des Tatrichters vom 06.07.2023 (Bl. 109 d.A.), welcher tatsächliche Hintergründe für das Überschreiten der Frist nach § 275 Abs. 1 S. 2 StPO beschreibt, nicht wiedergeben. Das Revisionsgericht ist daher außer Stande, allein an Hand der Revisionsbegründung zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO für eine Fristüberschreitung ausnahmsweise erfüllt waren. Ob der Inhalt des Vermerks die Fristüberschreitung tatsächlich rechtfertigt, ist für ihre Begründetheit relevant. Es ist aber durch das Gesetz (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) gerade dem Beschwerdeführer aufgegeben, die für den Verfahrensverstoß relevanten Tatsachen in der Revisionsbegründung so vollständig vorzutragen, dass das Revisionsgericht ohne Bezugnahme auf den Akteninhalt in der Lage ist, den Sachverhalt zu bewerten. Ihm war es ohne Weiteres möglich, sich durch Akteneinsicht Kenntnis von dem Vermerk und somit der für die Beurteilung der gerügten Verletzung des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO relevanten Tatsachen zu verschaffen (vgl. BGH, Beschl. v. 17.07.2007 - 1 StR 317/07, BeckRS 2007, 12146 Rn. 2; BGH, Beschl. v. 28.08.2007 - 1 StR 402/07, BeckRS 2007, 14491).

2. Die Sachrüge des Beschwerdeführers ist unbegründet.

Insoweit der Beschwerdeführer geltend macht, der Tatrichter habe pflichtwidrig davon abgesehen, einen Sachverständigen mit einer Begleitstoffanalyse zur Überprüfung des Nachtrunks zu beauftragen, kann dies nicht mit der Sachrüge geltend gemacht werden. Eine Verfahrensrüge der Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO ist aber nicht erhoben worden.

Ein sachlich-rechtlicher Mangel läge nur dann vor, wenn Darstellung und Würdigung des festgestellten Sachverhalts unklar, widersprüchlich oder ersichtlich nicht vollständig wäre, Denkfehler enthielte oder Erfahrungssätze missachtete (st. Rspr., vgl. nur OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.09.2006 - 2 St Ss 170/06, BeckRS 2006, 11724; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 337 Rn. 21 m.w.N.).

a) Angesichts dieses Prüfungsmaßstabs ist die Beweiswürdigung, welche die konkrete Nachtrunkbehauptung des Beschwerdeführers als unglaubhaft würdigt, nicht zu beanstanden. Zwar ist der Beweiswert einer zweiten Blutentnahme im Einzelnen umstritten (MüKo-StGB/Pegel, 4. Aufl. 2022, § 316 Rn. 83; Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 316 Rn. 20), gleichwohl bildet sie hier für die Beweiswürdigung des Tatrichters eine tragfähige Grundlage, da sie neben die Widersprüche in der Einlassung des Angeklagten zu seinem Trinkverhalten und die Aussagen der Zeugen V und W tritt, die zudem durch die Angaben des Zeugen POK X bestätigt wurden.

b) Schließlich halten auch die Feststellung der Fahruntüchtigkeit revisionsgerichtlicher Prüfung stand.

Angesichts der in der Anflutungsphase verstärkten Ausfallerscheinungen bedarf es einer Rückrechnung nicht, wenn bei der Blutentnahme wenigstens der Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,1 Promille BAK erreicht ist. Dann steht fest, dass eine entsprechende Körperalkoholmenge zur Tatzeit vorgelegen haben muss (BGH, Beschl. vom 11.12.1973 - 4 StR 130/73, BGHSt 25, 246, 251 = NJW 1974, 246, 247; Schönke/Schröder-StGB/Hecker, 30. Aufl. 2019, § 316 Rn. 17; MüKo-StGB/Pegel aaO., § 316 Rn. 77; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke-Straßenverkehrsrecht/Burmann, 27. Aufl. 2022, § 316 Rn. 17). Die Berücksichtigung eines Nachtrunks im Umfang einer Dose Bier (5 Volumenprozent) zu 0,5 l durch den Vorderrichter ist zwar rechtsfehlerhaft, jedoch beruht das Urteil nicht darauf. Dem Amtsgericht ist noch zuzustimmen, dass die BAK, die sich aus dem Genuss einer bestimmten Alkoholmenge ergibt, in der Weise errechnet werden darf, dass die wirksame Alkoholmenge in Gramm durch das mit dem sog. Reduktionsfaktor multiplizierte Körpergewicht in Kilogramm geteilt wird. Es bedarf daher der Feststellung des Körpergewichts zum Tatzeitpunkt, der Bestimmung des Reduktionsfaktors und der Mitteilung der aufgenommenen Alkoholmenge in Gramm (vgl. Senat, Beschl. vom 28.11.1996 - 3 Ss 363/96, NZV 1997, 239). Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Amtsgerichts gerecht. Allerdings geht es unzulässiger Weise zuungunsten des Angeklagten davon aus, dass der Angeklagte 0,05 Promille in 30 Minuten zwischen Nachtrunkende und der ersten Blutprobenentnahme abgebaut hat. Zu beanstanden ist dabei aber nicht der Abbauwert von 0,05 Promille in 30 Minuten (= 0,1 Promille pro Stunde), sondern der Abzug des Zeitfaktors an sich, da sich der Angeklagte nach den Erwägungen des Amtsgerichts hinsichtlich des Nachtrunks unwiderlegt noch in der Anflutungsphase befand. Der verminderte Nachtrunkwert führt dazu, dass sich die vorgeworfene BAK zu Lasten des Angeklagten erhöht.

Ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler ist aber ausgeschlossen, zumal es das Amtsgericht unterlassenen hat, von der „Nachtrunkpromille“ das sogenannte Resorptionsdefizit (bei einer tätergünstigen Annahme 10 %) in Abschlag zu bringen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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