Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 20.03.2024 -204 StRR 77/24
Leitsatz des Gerichts:
1. Bei sowohl vom Angeklagten als auch von der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufungen ist § 340 StPO grundsätzlich nicht anwendbar.
2. Das Berufungsgericht muss auch bei Vertretung des Angeklagten durch einen mit besonderer Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger ausreichende Feststellungen dazu treffen, ob die Voraussetzungen für eine Verhandlung über beide Berufungen gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vorliegen.
3. Zur „Erforderlichkeit“ der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung.
4. Vorliegend kann der Senat wegen der zulässig erhobenen Verfahrensrüge aufgrund der Aktenlage selbst feststellen, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben ist.
Bayerisches Oberstes Landesgericht
204 StRR 77/24
In dem Strafverfahren
gegen pp.
wegen Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht
erlässt das Bayerische Oberste Landesgericht - 4. Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 20. März 2024 folgenden
Beschluss
I. Auf die Revision des Angeklagten W. wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 14. November 2023 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Fürth hat den Angeklagten am 30.06.2023 wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
Gegen dieses Urteil haben - jeweils form- und fristgerecht - der Angeklagte am 03.07.2023 unbeschränkt und die Staatsanwaltschaft am 05.07.2023 zu dessen Lasten beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch Berufung eingelegt.
Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist dem Angeklagten und seinem Pflichtverteidiger nicht zugestellt worden. Dem Pflichtverteidiger ist auf seinen Antrag gemäß Verfügung vom 19.07.2023 Akteneinsicht gewährt worden.
Zur Berufungshauptverhandlung ist nur der Pflichtverteidiger des Angeklagten, der eine Strafprozess- und Vertretungsvollmacht vom 30.10.2023 übergeben hat, nicht aber der Angeklagte selbst erschienen.
Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat nach Beweisaufnahme mit Urteil vom 14.11.2023 auf die Berufung der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts Fürth vom 30.06.2023 dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer (nicht zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird, und die Berufung des Angeklagten verworfen.
Gegen dieses seinem Verteidiger am 28.11.2023 zugestellte Urteil hat jener am 15.11.2023 Revision eingelegt und diese am 28.12.2023 begründet, wobei er neben der Verletzung materiellen Rechts mit der ausgeführten Verfahrensrüge einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend macht.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen.
Hierauf erwiderte der Angeklagte mit der Gegenerklärung seines Verteidigers vom 28.02.2024.
II.
Die gemäß §§ 333, 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO frist- und formgerecht eingelegte Revision des Angeklagten hat mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge jedenfalls vorläufig Erfolg.
Das Berufungsgericht hat über die vom Angeklagten unbeschränkt und von der Staatsanwaltschaft zu dessen Lasten auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt eingelegten Berufungen in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt. Mit der Verfahrensrüge nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO kann gerügt werden, dass das Gericht nicht in Abwesenheit des Angeklagten hätte verhandeln dürfen (BeckOK StPO/Eschelbach, 50. Ed. 01.01.2024, § 329 Rn. 72). Deren Zulässigkeit steht § 340 StPO nicht entgegen (vgl. unten unter 1.). Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat nur unzureichend festgestellt, ob die Voraussetzungen für eine Verhandlung über beide Berufungen gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vorlagen (vgl. unten unter 2.). Der Angeklagte wurde zwar in der Hauptverhandlung durch einen mit besonderer Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger vertreten (vgl. unten unter 2.a). Es fehlen jedoch erforderliche Feststellungen dazu, dass die Anwesenheit des Angeklagten bei der Hauptverhandlung nicht erforderlich war (vgl. unten unter 2.b). Ob die fehlenden Feststellungen hierzu bereits zur Aufhebung des Berufungsurteils führen würden, kann dahinstehen. Denn die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung war aufgrund der Umstände des Einzelfalles zur Durchführung eines fairen Verfahrens erforderlich, was der Senat aufgrund der zulässig erhobenen Verfahrensrüge aufgrund der Aktenlage selbst feststellen kann (vgl. unten unter 3.). Damit ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben.
1. Die durch das Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe vom 17.07.2015 (BGBl. I, S. 1332) mit Wirkung zum 25.07.2015 eingefügte Regelung des § 340 StPO steht der Verfahrensrüge des Angeklagten nicht entgegen.
a) Danach kann der Angeklagte die Revision gegen das auf seine Berufung hin ergangene Urteil nicht darauf stützen, dass seine Anwesenheit in der Berufungshauptverhandlung erforderlich gewesen wäre. Eine solche Rüge würde sich im Wesentlichen als selbstwidersprüchliches Handeln („venire contra factum proprium“) darstellen und sollte daher explizit ausgeschlossen werden. § 340 StPO schließt insoweit insbesondere eine Berufung auf den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO aus (vgl. die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 18/3562, S. 76; s.a. Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz - im Folgenden: Rechtsausschuss -, BT-Drucks. 18/5254, S. 6; SK-StPO/Frisch, 6. Aufl. 2022, § 329 Rn. 51k; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 329 Rn. 48 und § 340 Rn. 1). Die Vorschrift hindert insoweit auch eine mittelbare Überprüfung auf die Sachrüge; ausgenommen sind Fälle einer (hier nicht vorliegenden) unabdingbaren körperlichen Anwesenheit des Angeklagten (BeckOK StPO/Wiedner, 50. Ed. 01.01.2024, § 340 Vor Rn. 1; MüKoStPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. 2019, § 340 Rn. 11 und 12).
b) Nach Wortlaut und Zweck bleibt § 340 StPO jedoch auf Fälle eines allein auf die Berufung des Angeklagten ergangenen Urteils beschränkt und hindert nicht die Rüge, das Berufungsgericht hätte über die Berufung der Staatsanwaltschaft nicht ohne Anwesenheit des Angeklagten entscheiden dürfen (vgl. BeckOK StPO/Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 3 bis 5; MüKoStPO/Knauer/ Kudlich, a.a.O., § 340 Rn. 4; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. 2023, § 340 Rn. 1; Temming in: Gercke/ Temming/Zöller, StPO, 7. Aufl. 2023, § 340 Rn. 3). Die Rügebeschränkung des § 340 StPO wäre bei einem Rechtsmittel, über dessen Verhandlung der Angeklagte nicht disponieren kann (§ 329 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO) und das wie hier zu seinem Nachteil eingelegt ist, nicht zu rechtfertigen. Somit hat das Revisionsgericht in diesen Fällen eine unbeschränkte Überprüfungsmöglichkeit (MüKoStPO/Knauer/Kudlich, a.a.O., § 340 Rn. 4; BeckOK StPO/Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 4).
c) Auch bei der Anfechtung von Urteilen, die wie hier auf beidseitige Berufungen ergangen sind, ist § 340 StPO nicht anwendbar (MüKoStPO/Knauer/Kudlich, a.a.O., § 340 Rn. 6; KK-StPO/ Gericke, a.a.O., § 340 Rn. 1; Temming in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, a.a.O., § 340 Rn. 4), wobei es auf den Grad des jeweiligen Erfolges nicht ankommt (BeckOK StPO/ Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 5). Denn in Fällen einer parallelen Berufung von Staatsanwaltschaft und Angeklagtem, über die nach § 329 Abs. 2 StPO ohne den Angeklagten verhandelt wird, ist das Urteil regelmäßig auf beide Berufungen „hin ergangen“ im Sinne von § 340 StPO. Eine Unterscheidung, inwieweit das mit der Revision angefochtene Urteil auf die Berufung der Staatsanwaltschaft und inwieweit es auf jene des Angeklagten zurückgeht, wird sich nicht treffen lassen (so zutreffend BeckOK StPO/Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 5).
Ausnahmsweise kann aber § 340 StPO eingreifen, wenn sich der Anfechtungsumfang der beiden Berufungen aufgrund von Beschränkungen unterscheidet und das Berufungsurteil in dem Umfang, in dem es von der Revision angegriffen wird, ausschließlich auf die Berufung des Angeklagten hin ergangen ist (vgl. KK-StPO/Gericke, a.a.O., § 340 Rn. 1; BeckOK StPO/Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 5). Das kann der Fall sein, wenn sich die Staatsanwaltschaft mit der Berufung gegen einen Teilfreispruch wendet und der Angeklagte mit seiner Berufung eine im erstinstanzlichen Urteil ausgeurteilte Maßregel der Besserung und Sicherung angreift (vgl. BeckOK StPO/Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 5.1.; Temming in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, a.a.O., § 340 Rn. 4).
So verhält es sich aber nicht bei einer unbeschränkten Berufung des Angeklagten und einer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung der Staatsanwaltschaft. Das Berufungsgericht muss zunächst die Schuldfrage und sodann den Rechtsfolgenausspruch prüfen. Zwar ist die Überprüfung des Berufungsgerichts hinsichtlich des Schuldspruchs allein auf die Berufung des Angeklagten erfolgt. Beide Berufungen beziehen sich aber auf den Rechtsfolgenausspruch, der auch von der Revision erfasst wird, so dass § 340 StPO nicht eingreift (vgl. BeckOK StPO/Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 5.2).
2. Gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO findet, soweit die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist, die Hauptverhandlung auch ohne ihn statt, wenn er durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft nicht genügend entschuldigt ist.
a) Nach den im Berufungsurteil unter Ziffer III 1. der Gründe getroffenen und mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen wurde der Angeklagte im Hauptverhandlungstermin am 14.11.2023 durch seinen mit einer Vollmacht gemäß § 329 Abs. 4 StPO versehenen Verteidiger vertreten.
b) Weitere Feststellungen zu den Voraussetzungen für eine Verhandlung über beide Berufungen gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO enthält das Berufungsurteil nicht.
aa) Die Gründe des auf die Berufung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten ergehenden Urteils müssen, da es sich um ein Sachurteil handelt, den Anforderungen des § 267 StPO genügen (SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 49 und 51k; KK-StPO/Paul, a.a.O., § 329 Rn. 19; Reichenbach in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 58; Löwe-Rosenberg/Gössel, StPO, 26. Aufl. 2012, § 329 Rn. 85) und außerdem, da es zugleich ein Prozessurteil darstellt, entsprechend § 34 StPO dartun, dass die prozessualen Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nach § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO überhaupt vorlagen (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.09.2019 – (1) 53 Ss 108/19 (63/19) –, juris Rn. 10 f.; OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.05.1972 – 1 Ss 73/72 -, NJW 1972, 1871, 1872; OLG Köln, Urteil vom 08.01.1963 – Ss 288/62 -, NJW 1963, 1265; MüKoStPO/Quentin, 2. Aufl. 2024, StPO § 329 Rn. 84; Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 33 und 39; BeckOK StPO/Eschelbach, a.a.O., § 329 Rn. 50; Reichenbach in: Gercke/Temming/ Zöller, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 58; Löwe-Rosenberg/Gössel, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 85; SK-StPO/ Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 49; KK-StPO/Paul, a.a.O., § 329 Rn. 19). Auch für die Berufungshauptverhandlung gilt die grundsätzliche Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§ 230 Abs. 1, § 231, § 332 StPO), von der nur im geregelten Ausnahmefall abgewichen werden kann (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.09.2019 – (1) 53 Ss 108/19 (63/19) –, juris Rn. 10). Demgemäß müssen die Urteilsgründe insbesondere zu der Frage Stellung nehmen, ob der Angeklagte durch einen Verteidiger „mit wirksamer Vertretungsvollmacht vertreten wird“ und weshalb die Anwesenheit des Angeklagten für nicht erforderlich erachtet wird (so - zum Verfahren nach § 329 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 StPO - OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.09.2019 – (1) 53 Ss 108/19 (63/19) –, juris Rn. 11), ob der Angeklagte ordnungsgemäß geladen wurde (MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 84) und ob er unentschuldigt ausgeblieben ist (so bereits - zum Verhandeln in Abwesenheit des Angeklagten auf die Berufung der Staatsanwaltschaft gemäß § 329 Abs. 1 StPO a.F. - OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.05.1972 – 1 Ss 73/72 -, NJW 1972, 1871, 1872; OLG Köln, Urteil vom 08.01.1963 – Ss 288/62 -, NJW 1963, 1265; s.a. Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 39; Reichenbach in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 58; Löwe-Rosenberg/Gössel, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 85). Fehlt es daran, so verfällt das Urteil der Aufhebung im Rahmen der Revision (vgl. nur SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 49 m.w.N.).
bb) Das Fehlen von Feststellungen zur ordnungsgemäßen Ladung und zum unentschuldigten Ausbleiben des Angeklagten ist allerdings unschädlich, da der abwesende Angeklagte durch seinen mit einer Vollmacht gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 StPO versehenen Verteidiger im Hauptverhandlungstermin vertreten wurde, und wurde konsequenterweise mit der Verfahrensrüge nicht beanstandet. Die Möglichkeit der Abwesenheitsverhandlung bei Vertretung durch einen Verteidiger gewährt § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO seinem Wortlaut nach nicht nur bei der Verhandlung über die Berufung des Angeklagten, sondern auch bei einer solchen über die Berufung der Staatsanwaltschaft (vgl. MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 79). Hierfür spricht auch die Begründung zum Regierungsentwurf des Gesetzes vom 17.07.2015 (BGBl. I, S. 1332), wonach es bei Anwesenheit eines mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidigers nach § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO für die Frage der Durchführung einer Abwesenheitsverhandlung nicht darauf ankomme, ob es sich um eine Berufung des Angeklagten oder der Staatsanwaltschaft handelt (vgl. BT-Drucks. 18/3562, S. 74).
cc) Das Urteil enthält jedoch auch keine Feststellungen dazu, dass die Anwesenheit des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin nicht erforderlich war. Ob bereits das Fehlen der Feststellungen zur Frage der Erforderlichkeit der Anwesenheit in der Hauptverhandlung bei entsprechender Verfahrensrüge zur Aufhebung des Berufungsurteils führt, weil dem Senat die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise nach § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO sonst nicht möglich ist (so das OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.09.2019 – (1) 53 Ss 108/19 (63/19) –, juris Rn. 10; so auch – für das Verwerfungsurteil gemäß § 329 Abs. 4 Satz 2 StPO - Thüringer OLG, Beschluss vom 08.04.2021 – 1 OLG 351 Ss 16/21 –, juris Rn. 15; wohl auch BeckOK StPO/Eschelbach, a.a.O., § 329 Rn. 50; MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 84 „Ausführungen zu einer ordnungsgemäßen Ladung und den übrigen Voraussetzungen“; anders wohl SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 49 „Ausbleiben des Angeklagten und dessen nicht genügende Entschuldigung“ und zu § 329 Abs. 2 StPO a.F. OLG Hamburg, Beschluss vom 05.10.1982 - 2 Ss 99/82 -, StV 1982, 558 f.), kann vorliegend dahinstehen.
3. Das Urteil war nämlich deshalb aufzuheben, da die Voraussetzungen für eine in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführte Hauptverhandlung über dessen unbeschränkte Berufung und über die Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft tatsächlich nicht vorlagen.
a) Die derzeitige Fassung des § 329 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO beruht weitgehend auf der Änderung der Vorschrift durch das bereits zitierte Gesetz vom 17.07.2015 (BGBl. I S. 1332). Zu dieser Reform sah sich der Gesetzgeber nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 08.11.2012 (Beschwerde-Nr. 30804/07 - Rechtssache Neziraj ./. Deutschland) veranlasst, um die dort niedergelegten Grundsätze zur Abwesenheitsvertretung des Angeklagten durch den Verteidiger in das nationale Recht zu übertragen (vgl. BT-Drucks. 18/3562 S. 2; BGH, Beschluss vom 24.01.2023 – 3 StR 386/21 –, NStZ 2023, 759, juris Rn. 12). Der Gerichtshof hatte in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass mit Rücksicht auf das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 MRK und auf angemessene Verteidigung auch im Berufungsverfahren das Ausbleiben des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung es auch dann, wenn er keine Entschuldigung dafür hat, nicht rechtfertigt, ihm das Recht zu entziehen, sich nach Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c MRK durch einen Anwalt verteidigen zu lassen (EGMR, Urteil vom 08.11.2012 – 30804/07 –, StraFo 2012, 490, Rn. 49 m.w.N.).
Nach der früheren Rechtslage konnte gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO a.F. auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft auch ohne den Angeklagten zur Sache verhandelt werden. Demgegenüber war gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO a.F. eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache jenseits des Anwendungsbereichs des § 411 Abs. 2 Satz 1 StPO zwingend auch dann zu verwerfen, wenn für den ausbleibenden und nicht genügend entschuldigten Angeklagten ein umfassend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger erschienen war. Diese von allen Oberlandesgerichten aus dem eindeutigen Wortlaut der Norm abgeleitete Sicht (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 19.03.2013 – 32 Ss 29/13 –, NStZ 2013, 615, juris Rn. 10 ff.; OLG Hamburg, Beschluss vom 03.12.2013 – 1 - 25/13 (REV) –, juris Rn. 13 ff.; OLG München, Beschluss vom 17.01.2013 – 4 StRR (A) 18/12 –, NStZ 2013, 358, juris Rn. 9 ff.; s.a. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O, § 329 Rn. 1; Mosbacher, NStZ 2013, 312, 313 f.) verstieß somit gegen die Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c MRK.
Demgegenüber räumt die aktuelle Gesetzesfassung der Vertretung des Angeklagten regelmäßig Vorrang gegenüber einer Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ein; dessen Anwendungsbereich wurde mit der Möglichkeit der anwaltlichen Vertretung deutlich eingeschränkt (BGH, Beschluss vom 24.01.2023 – 3 StR 386/21 –, NStZ 2023, 759, juris Rn. 19).
Die Aussagekraft der Entscheidung des Gerichtshofs beschränkte sich somit auf den Umstand der Verwerfung der Berufung ohne Sachentscheidung bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten trotz dessen Willens, sich durch einen (anwesenden) Verteidiger seiner Wahl (gegebenenfalls auch durch einen Pflichtverteidiger) verteidigen zu lassen (vgl. EGMR, a.a.O., Rn. 46, 49 und 51). Zur Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten selbst, also der Möglichkeit einer Abwesenheitsverhandlung, trifft die Entscheidung des Gerichtshofs keine Aussage.
b) Die Durchführung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten setzt seit der Neufassung des § 329 Abs. 2 StPO sowohl bei einer Berufung des Angeklagten als auch bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft voraus, dass die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist.
Während der Gesetzentwurf der Bundesregierung noch die Formulierung enthielt „soweit nicht besondere Gründe dessen Anwesenheit erfordern“ (vgl. BT-Drucks. 18/3562, S. 7), beruht die endgültige Fassung „soweit die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist“ auf dem Vorschlag des Rechtsausschusses, um klarzustellen, dass die Durchführung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten in den genannten Fällen nicht der gesetzliche Regelfall ist (BT-Drucks. 18/5254, S. 2 und 5 f.; so auch BeckOK StPO/Eschelbach, a.a.O., § 329 Rn. 1; SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 47).
(1) Zum Merkmal der „Erforderlichkeit“ betont die Entwurfsbegründung, dass das Anwesenheitsrecht und die Anwesenheitspflicht auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Verfahrens bezogene Strukturprinzipien des Strafprozesses seien (BT-Drucks. 18/3562, S. 48). Eine Abwesenheitsverhandlung sollte auch nach der Neufassung des § 329 StPO nur zulässig sein, soweit dem nicht die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) oder sonstige besondere Gründe entgegenstehen (vgl. BT-Drucks. 18/3562, S. 73). Hierbei seien die Bedeutung des persönlichen Eindrucks, einer eventuellen Einlassung sowie des Frage- und Antragsrechts des Angeklagten einerseits und der sonstigen Beweise andererseits abzuwägen, um zu prüfen, ob die Anwesenheit des Angeklagten für Zwecke der Sachaufklärung einer rascher durchzuführenden Verhandlung in seiner Abwesenheit vorzuziehen ist. „Besondere Gründe“, die die Anwesenheit des Angeklagten „erfordern“, seien etwa bei konkreten Anhaltspunkten dafür gegeben, dass die Aufklärung bestimmter Umstände oder die Erhebung bestimmter Beweise – etwa eine Gegenüberstellung mit Zeugen oder Mitangeklagten – ohne den Angeklagten nicht möglich sein werden (vgl. BT-Drucks. 18/3562, S. 73), etwa wenn das Gericht einen Abgleich der Person des Angeklagten mit einem Lichtbild vornehmen oder ihn mit einem Zeugen konfrontieren muss, um die Identität des Angeklagten zu klären (so die Begründung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 18/5254, S. 6). Könne von dem Erscheinen des Angeklagten eine weitere, dem Verfahren dienende Sachaufklärung nicht erwartet werden, sei das Gericht verpflichtet, ohne ihn zu verhandeln, da die mit der Erzwingung der Anwesenheit des Angeklagten in der Regel verbundene Verfahrensaussetzung dem Zweck der auf Verfahrensbeschleunigung ausgerichteten Vorschrift zuwiderlaufen würde (vgl. BT-Drucks. 18/3562, S. 73; so auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 10.03.1987 - 3 Ws 66/87 -, NStZ 1987, 377 bei angekündigter Aussageverweigerung).
(2) Nach der Begründung des Rechtsausschusses hat das Berufungsgericht stets, also während der gesamten Hauptverhandlung, zu prüfen, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung erforderlich ist. Das sei dann der Fall, wenn eine Sachentscheidung des Berufungsgerichts allein aufgrund der vom anwesenden Verteidiger für den Angeklagten abgegebenen Erklärungen nicht möglich sei, etwa wenn der Vortrag des Verteidigers erkennbar lückenhaft ist oder Widersprüche aufweist, oder wenn es auf den unmittelbaren persönlichen Eindruck des Gerichts von der Person des Angeklagten für die Urteilsfindung ankommt (vgl. BT-Drucks. 18/5254, S. 6).
(3) Bereits die Entwurfsbegründung ging davon aus, dass diesem persönlichen Eindruck bei der Frage der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung besondere Bedeutung beigemessen werde (BT-Drucks. 18/3562, S. 47 und S. 73 unter Hinweis auf OLG Hamm, Beschluss vom 17.08.1995 – 2 Ss 810/95 –, StV 1997, 346; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.11.2002 – 2 Ss 64/02 –, NStZ-RR 2004, 21, 22), wobei jedoch auch in diesem Fall eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten erfolgen könne, wenn das Berufungsgericht seine Anwesenheit nicht für Zwecke einer besseren Beurteilung der für die Entscheidung über eine Strafaussetzung maßgeblichen Tatsachen für erforderlich halte (BT-Drucks. 18/3562, S. 73). § 329 Abs. 2 StPO enthalte zwar keine Beschränkung auf eine bestimmte Strafhöhe, wobei aber eine erhebliche Straferwartung einen besonderen Grund darstellen könne, der die Anwesenheit des Angeklagten erfordert (so auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 37), während die Erwartung einer geringfügigen Bestrafung umso eher die Anwesenheit des Angeklagten als entbehrlich erscheinen lasse (vgl. BT-Drucks. 18/3562, S. 74).
c) Im Einklang hiermit gehen Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass sich die Frage, ob die Anwesenheit des Angeklagten trotz der Vertretung durch einen Verteidiger erforderlich ist, sowohl bei der Hauptverhandlung über die Berufung des Angeklagten als auch über die Berufung der Staatsanwaltschaft in erster Linie nach der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO bestimmt (vgl. bereits OLG Hamburg, Beschluss vom 05.10.1982 - 2 Ss 99/82 -, StV 1982, 558, 559; und jüngst Beschluss vom 21.10.2016 – 1 Rev 57/16 –, NStZ 2017, 607, juris Rn. 16; OLG Hamm, Beschluss vom 17.08.1995 - 2 Ss 810/95 -, StV 1997, 346; so auch MüKoStPO/Quentin, a.a.O., StPO § 329 Rn. 76 und 80; BeckOK StPO/Eschelbach, a.a.O., StPO § 329 Rn. 47; SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 48; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 36). Danach scheidet eine Verhandlung in Abwesenheit aus, wenn eine erneute Anhörung des Angeklagten oder sein persönlicher Eindruck für die Entscheidung benötigt werden (OLG Hamburg, Beschluss vom 05.10.1982 - 2 Ss 99/82 -, StV 1982, 558, 559; OLG Hamm, Beschluss vom 17.08.1995 - 2 Ss 810/95 -, StV 1997, 346; MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 76; SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 48; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 36) oder konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass die Aufklärung bestimmter Umstände oder die Erhebung bestimmter Beweise ohne den Angeklagten nicht möglich sind (MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 76).
aa) Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es um die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 StGB geht, weil gerade hier der Berücksichtigung der Persönlichkeit maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. OLG Hamburg, Beschlüsse vom 05.10.1982 - 2 Ss 99/82 -, StV 1982, 558, 559; vom 21.10.2016 – 1 Rev 57/16 –, NStZ 2017, 607, juris Rn. 16; OLG Hamm, Beschluss vom 17.08.1995 - 2 Ss 810/95 -, StV 1997, 346; OLG Köln, Urteil vom 08.01.1963 - Ss 288/62 -, NJW 1963, 1265; Beschluss vom 17.06.2011 – III-1 RVs 140/11 –, StraFo 2011, 360, juris Rn. 1). Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Köln ist dabei zu berücksichtigen, wie lange die erstinstanzliche Verurteilung zurückliegt und ob deshalb für die Strafzumessung zu beachtende Umstände in der Entwicklung der Persönlichkeit des Angeklagten eingetreten sein konnten, was bei einer bereits knapp sechs Monate zurückliegenden erstinstanzlichen Hauptverhandlung angenommen wurde (Beschluss vom 17.06.2011 – III-1 RVs 140/11 –, StraFo 2011, 360, juris Rn. 1).
bb) Ohne den persönlichen Eindruck des Angeklagten wird im Allgemeinen auch nicht verhandelt werden können, wenn er mit seiner Berufung eine deutliche Absenkung der Strafe, eine andere Strafart oder eine (nochmalige) Strafaussetzung anstrebt und dies bei vorläufiger Bewertung nicht aussichtslos erscheint (MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 76). Entsprechend wird die Anwesenheit des Angeklagten in aller Regel auch erforderlich sein, wenn die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung eine deutliche Erhöhung der Strafe (SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 48), eine andere Strafart oder den Wegfall einer zugebilligten Strafaussetzung (SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 48; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 36) anstrebt und ein Erfolg des Rechtsmittels bei vorläufiger Bewertung nicht ausgeschlossen erscheint (MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 80). Wurde der Angeklagte in erster Instanz freigesprochen, kann in aller Regel nicht ohne seine erneute Anhörung entschieden werden (MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 80; Reichenbach in: Gercke/Temming/Zöller, a.a.O., § 329 Rn. 50).
cc) Eine Abwesenheitsverhandlung wurde demgemäß von der Rechtsprechung dann als unzulässig angesehen, wenn auf die Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft die erstinstanzlich verhängte Freiheitsstrafe in der Berufungsinstanz erhöht und die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung in Wegfall geraten ist (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 05.10.1982 - 2 Ss 99/82 -, StV 1982, 558: Erhöhung der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr mit Bewährung auf ein Jahr zwei Monate ohne Bewährung; OLG Hamm, Beschluss vom 17.08.1995 - 2 Ss 810/95 -, StV 1997, 346: Erhöhung der Freiheitsstrafe von vier Monaten mit Bewährung auf acht Monate ohne Bewährung; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.11.2002 - 2 Ss 64/02 -, NStZ-RR 2004, 21: Erhöhung der Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung auf eine nicht mehr aussetzungsfähige Freiheitsstrafe von drei Jahren; zustimmend KK-StPO/Paul, a.a.O., § 329 Rn. 11b; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 36).
dd) Ein Teil der Rechtsprechung sowie der Kommentarliteratur vertreten hierbei die Auffassung, dass der Begriff der „Erforderlichkeit“ mit Blick auf die Gesetzesgenese einerseits und zwingende verfassungsrechtliche Maßgaben andererseits weit auszulegen sei (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 21.10.2016 – 1 Rev 57/16 –, NStZ 2017, 607, juris Rn. 6; zustimmend KG, Beschluss vom 12.12. 2018 – (6) 161 Ss 161/18 (63/18) –, juris Rn. 7 mit 11; BeckOK StPO/Eschelbach, a.a.O., § 329 Rn. 47; KK-StPO/Paul, a.a.O., § 329 Rn. 11b). „Der schon vom Gesetzgeber anerkannte absolute Ausnahmecharakter einer strafgerichtlichen Verhandlung ohne den Angeklagten“ lasse „sich indes nicht ohne weiteres aus Wortlaut und Systematik der Neuregelung ableiten. Der gebotene Rückgriff auf tragende verfassungsrechtlich vorgegebene Strukturprinzipien des deutschen Strafverfahrens“ (unter Hinweis auf BVerfG, Urteile vom 15.12.2015 - 2 BvR 2735/14 -, BVerfGE 140, 318, juris Rn. 58.; vom 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 -, BVerfGE 133, 168, juris Rn. 56 und 125) erzwinge daher Einschränkungen des Anwendungsbereichs des § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO und führe dazu, dass ein Verhandeln ohne den Angeklagten im Berufungsrechtszug regelmäßig verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar sei (OLG Hamburg, a.a.O., juris Rn. 10 bis 13; ablehnend Reichenbach in: Gercke/Temming/Zöller, a.a.O., § 329 Rn. 47). Demgemäß werde die Anwesenheit des Angeklagten nur in wenigen Ausnahmekonstellationen nicht im S inne des einfachen Rechts „erforderlich“ sein. Sie sei demzufolge stets erforderlich, wenn die Aufklärung irgendeines für die Schuld- und Straffrage bedeutsamen Umstandes in Rede steht, so dass die Berufungsstrafkammer nach § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO nur dann verfahren könne, wenn sich Fragen der Tatschuld und der Strafe gar nicht oder nicht mehr stellen (OLG Hamburg, a.a.O., juris Rn. 14; zustimmend Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 36; als zu weitgehend ablehnend SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 329 Rn. 48). Ein Verhandeln ohne den Angeklagten sei – jenseits des Anwendungsbereichs des § 411 Abs. 2 Satz 1 StPO – von Verfassungs wegen hinnehmbar und nur dann möglich, wenn das Berufungsgericht bei liquiden Beweismitteln einen Freispruch erwäge, das Verfahren wegen eines Prozesshindernisses einzustellen sei oder wenn – bei entsprechender Beschränkung des Rechtsmittels – beispielsweise nur noch eine Entscheidung über die Tagessatzhöhe zu treffen sei (§ 40 Abs. 2 StGB) und dem Gericht die für diese Entscheidung notwendigen Unterlagen vorgelegt werden. In allen anderen Konstellationen, namentlich auch bei Entscheidungen über die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) oder einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB), bleibe die Anwesenheit des Angeklagten im Hinblick auf den Aufklärungsgrundsatz stets erforderlich (OLG Hamburg, a.a.O., juris Rn. 15 f.).
d) Es kann vorliegend dahinstehen, ob dieser den Anwendungsbereich des § 329 Abs. 2 StPO weit einschränkenden Entscheidung, die von Teilen der Literatur kritisiert worden ist (vgl. Gerson, StraFo 2016, 520; Esser in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2024, MRK, Rn. 1032; Asholt in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Band 9, 1. Aufl. 2023, § 58 Berufung, Rn. 68; Hüls, StV 2018, 146 f.; Spitzer, NStZ 2021, 327, 331; für eine konventionsfreundliche Auslegung – Erforderlichkeit der Anwesenheit nur bei Unerlässlichkeit - auch Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 329 Rn. 15c; s. aber auch ders. Rn. 36 zum Meinungsstand), in dieser Tragweite zu folgen ist. Jedenfalls gebot es das Recht auf ein faires Verfahren aufgrund der Umstände des vorliegenden Einzelfalls (hierauf stellt auch das Thüringer OLG, Beschluss vom 01.10.2019 – 1 OLG 161 Ss 83/19 –, StraFo 2020, 420, juris Rn. 18 ab), nicht in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln.
aa) Das Revisionsgericht prüft die Eingangsvoraussetzungen von § 329 Abs. 2 StPO nach revisionsrechtlichen Grundsätzen vollständig, mithin auch dahin, ob die Einschätzung des Tatrichters, die Anwesenheit des Angeklagten sei für die zu treffende Sachentscheidung entbehrlich, an Rechtsfehlern leidet. Soweit es sich insoweit um tatsächliche Fragen handelt, steht dem Berufungsgericht ein durch das Revisionsgericht nicht näher überprüfbarer Beurteilungsspielraum bei seiner Einschätzung bezüglich der Entbehrlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten zu (BeckOK StPO/Wiedner, a.a.O., § 340 Rn. 4.1; Temming in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, a.a.O., § 340 Rn. 3). Das Revisionsgericht ist insoweit an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 337 Rn. 17).
Da das Berufungsgericht sich jedoch nicht zur Frage der erforderlichen Anwesenheit des Angeklagten verhalten hat, kann das Revisionsgericht aufgrund der im Urteil getroffenen Feststellungen sowie der durch die zulässig erhobene Verfahrensrüge mitgeteilten Verfahrenstatsachen eine eigene Entscheidung über diese Frage treffen.
bb) Für die Erforderlichkeit der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten spricht zum einen, dass dieser mit seiner unbeschränkt eingelegten Berufung einen Freispruch, hilfsweise die Verurteilung zu einer Geldstrafe erstrebt hat, während die Berufung der Staatsanwaltschaft eine deutliche Erhöhung der erstinstanzlich verhängten unbedingten Freiheitsstrafe (von vier Monaten auf sechs Monate, also um 50 %) zum Ziel hatte, welches auch erreicht worden ist. Damit hatte das Berufungsgericht sowohl die Schuldfrage als auch die Strafzumessung zu beurteilen. Bei letzterer war auf die Berufung des Angeklagten hin zu prüfen, ob eine Geldstrafe ausreichend war, ob gegebenenfalls die Voraussetzungen für die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe nach § 47 Abs. 1 StGB vorlagen, oder ob auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin eine - jedenfalls in relativer Hinsicht - deutliche Erhöhung der Freiheitsstrafe auf ein Maß in Betracht kam, das keine Prüfung der Unerlässlichkeit der Verhängung einer Freiheitsstrafe gemäß § 47 Abs. 1 StGB mehr erforderlich machte. Schließlich war vom Berufungsgericht die Frage der Aussetzung der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung zu prüfen.
cc) Auch wenn die Erfolgsaussicht der Berufung des Angeklagten hinsichtlich des Schuldspruchs aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme und hinsichtlich der Strafzumessung aufgrund der Vorahndungen von vornherein als nicht sehr hoch zu beurteilen gewesen sein mag (vgl. zu diesem Kriterium MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 76), liegt die Besonderheit vor, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte, wie die Revision vorbringt, keine Kenntnis davon hatte, dass auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hatte. Diese war, worauf die Revision mit der Verfahrensrüge zutreffend hingewiesen hat, dem Angeklagten und seinem Verteidiger entgegen § 320 Satz 2 StPO nicht zugestellt worden.
Aus dem von der Generalstaatsanwaltschaft genannten Umstand, dass der Verteidiger Akteneinsicht erhalten und somit die Möglichkeit hatte, von der Einlegung der Berufung durch die Staatsanwaltschaft Kenntnis zu nehmen, kann nicht auf eine Kenntnis des Angeklagten geschlossen werden.
Wie der Senat aufgrund der zulässig erhobenen Verfahrensrüge des Angeklagten durch einen Blick in die Akten selbst ergänzend feststellen kann (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17.03.2006 – 1 StR 577/05 –, NStZ 2006, 587, juris Rn. 5; Urteil vom 04.03.1987 – 3 StR 623/86 –, juris Rn. 4; OLG Bamberg, Beschluss vom 06.03.2013 – 3 Ss 20/13 –, juris Rn. 13; s.a. Thüringer OLG, Beschluss vom 07.03.2006 – 1 Ss 193/05 –, NStZ-RR 2006, 278, juris Rn. 32), ergibt sich auch aus der Verfügung des Vorsitzenden der Berufungskammer über die Bestimmung des Hauptverhandlungstermins und über die Ladung zu diesem kein Hinweis darauf, dass auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hat.
Auch wenn die Revision nicht darauf gestützt werden kann, dass die Zustellung der Berufung unterblieben ist (BeckOK StPO/Eschelbach, a.a.O., StPO § 320 Rn. 7) und ein möglicher Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung (vgl. OLG Köln, Vorlagebeschluss vom 04.04.1984 – 3 Ss 104/84 –, NStZ 1984, 475, 476; KK-StPO/Paul, a.a.O., § 320 Rn. 2) nicht gestellt worden ist, bedeutet dies nicht, dass der Umstand der fehlenden Zustellung vom Berufungsgericht bei der Prüfung der Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten nicht zu beachten wäre (s. hierzu auch BeckOK StPO/Eschelbach, a.a.O., § 320 Rn. 7).
Es kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass dem Angeklagten nicht bewusst war, dass im Hauptverhandlungstermin am 14.11.2023 auch über eine Berufung der Staatsanwaltschaft verhandelt werden würde und eine deutliche Straferhöhung in Betracht käme, so dass nicht davon auszugehen ist, er habe in Kenntnis auch der Berufung der Staatsanwaltschaft und einer möglichen Erhöhung der Freiheitsstrafe bewusst auf eine Teilnahme an der Berufungshauptverhandlung verzichtet. In der Gesamtabwägung der genannten Umstände des Einzelfalles war damit die Anwesenheit des Angeklagten als erforderlich anzusehen.
e) Da die Berufungshauptverhandlung ohne den Angeklagten stattgefunden hat, obwohl die Voraussetzungen für eine Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht vorliegen, greift somit der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO ein (vgl. zu einem Ausnahmefall OLG Köln, Urteil vom 08.11.2022 – III-1 RVs 116/22 –, juris Rn. 16).
III.
Wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers ist das Urteil des Landgerichts mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben (§ 349 Abs. 4, § 353 Abs. 1 und 2 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Einsender: 4. Strafsenat des BayObLG
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