Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Nürnberg, Beschl. v. 13.05.2024 - Ws 276/24
Eigener Leitsatz:
Maßgebend für die Frage, ob das Ausbleiben des Angeklagten im Berufungshauptverhandlungstermin nicht genügend entschuldigt ist, ist, ob dem Angeklagten wegen seines Ausbleibens nach den Umständen des Einzelfalls billigerweise ein subjektiver Vorwurf zu machen ist
Oberlandesgericht Nürnberg
Ws 276/24
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt
wegen Bestechung
hier: sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen die Verwerfung seines Wiedereinsetzungsantrags durch das Berufungsgericht
erlässt das Oberlandesgericht Nürnberg - Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 13. Mai 2024 folgenden
Beschluss
Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth - 6. Strafkammer - vom 25.03.2024 aufgehoben.
Dem Angeklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung gewährt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Der Angeklagte, der sich derzeit aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Erlangen vom 28.01.2024 (4 Gs 59/24) in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt pp. befindet, wurde am 18.08.2023 durch das Amtsgericht Nürnberg wegen zweier Fälle der Bestechung, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt.
Gegen dieses Urteil legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 18.08.2023, eingegangen beim Amtsgericht Nürnberg am selben Tag, Berufung ein.
Zum ersten Hauptverhandlungstermin im Berufungsverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth - 6. Strafkammer - vom 20.12.2023 ist der Angeklagte erschienen.
Fortsetzungstermin war für den 10.01.2024, 9:30 Uhr, anberaumt. Der Verteidiger teilte mit, dass sein Mandant um 9 Uhr in seiner Kanzlei angerufen und erklärt habe, dass er krank sei. Die Kanzleimitarbeiterin habe ihn auf die Erforderlichkeit eines Attests wegen Verhandlungsunfähigkeit hingewiesen. Das Attest liege nun in der Kanzlei vor. Vorgelegt, in Augenschein genommen und verlesen wurde ein mit Unterschrift versehenes Schreiben der Praxis pp. in dem bescheinigt wurde: „o.g. Patient war heute in meiner fachärztlichen Behandlung und ist für den Rest der Woche verhandlungsunfähig." Im Schreiben fehlt allerdings die Nennung eines Patientennamens. Die Arztpraxis war telefonisch nicht erreichbar. Ferner wurde eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von Dr. med. pp. für den Zeitraum vom 10.01.2024 bis 12.01.2024 unter Angabe des ICD-10-Codes „R10.4 G" als begründende Diagnose. Das Landgericht verwarf die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 18.08.2023 ohne Verhandlung zur Sache und führte zur Begründung aus: „Der Angeklagte hat zwar ein Attest vorgelegt, das jedoch keinen Patienten ausweist. Eine telefonische Rückfrage war mangels Erreichbarkeit des Arztes (kein AB kein Personal keine Warteschleife) nicht möglich. Die sodann noch vorgelegte AU-Bescheinigung ist nicht ausreichend, da es die Verhandlungsunfähigkeit nicht belegt und von einem anderen Arzt unterschrieben ist."
Am 15.01.2024 legte der Verteidiger Revision ein. Mit am 16.01.2024 beim Landgericht Nürnberg-Fürth eingegangenem weiteren Schriftsatz seines Verteidigers vom 15.01.2024 beantragte der Angeklagte Wiedereinsetzung gemäß § 329 Abs. 7 StPO. Der Angeklagte sei ordnungsgemäß entschuldigt gewesen. Ihm sei am 10.01.2024 durch die Praxis pp. Verhandlungsunfähigkeit bis Ende der Woche bescheinigt worden. Er legte ein berichtigtes Schreiben der Praxis vom 10.01.2024 vor, in dem nunmehr der Name des Angeklagten eingetragen war.
Das Landgericht Nürnberg-Fürth führte im Freibeweisverfahren für die Verfahren mit den Aktenzeichen 6 NBs 839 Js 20444/22 und 6 Ns 912 Js 146095/21 am 04.03.2024 und 18.03.2024 zwei Termine durch, in denen die Zeugen Dr. pp. und Dr. pp. zur Behandlung des Angeklagten am 10.01.2024 sowie die Zeugin pp. vernommen wurden. Dr. pp. bestätigte die Unterzeichnung beider im Hauptverhandlungstermin vom 10.01.2024 vorliegender Schriftstücke (Schreiben zur Verhandlungsunfähigkeit vom 10.01.2024 und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 10.01.2024) und auch des um die Patientendaten ergänzten, mit dem Wiedereinsetzungsgesuch vorgelegten Schreibens vom 10.01.2024.
Mit Beschluss vom 25.03.2024 hat das Landgericht Nürnberg-Fürth - 6. Strafkammer - den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung vom 10.01.2024 als unzulässig verworfen.
Gegen diesen dem Verteidiger am 26.03.2024 zugestellten Beschluss vom 25.03.2024 richtet sich die mit Verteidigerschriftsatz vom 28.03.2024 am selben Tag eingelegte sofortige Beschwerde des Verurteilten. Zur Begründung wird ausgeführt, dass dem Angeklagten Verhandlungsunfähigkeit vom Arzt bestätigt worden sei und es nicht Aufgabe des Beschwerdeführers sei, die Richtigkeit eines medizinischen Attests in Frage zu stellen.
Die Generalstaatsanwaltschaft legte die Akten mit Schreiben vom 08.04.2024 zur Beschwerdeentscheidung vor.
Der Verteidiger hatte im Beschwerdeverfahren weitere Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
1. Der Angeklagte, der seinen Antrag auf Wiedereinsetzung binnen einer Woche nach dem verwerfenden Urteil rechtzeitig nach § 45 Abs. 1 S. 1 StPO gestellt hat, kann sich im Wiedereinsetzungsverfahren darauf berufen, dass er durch die ihm bescheinigte Verhandlungsunfähigkeit entschuldigt war.
a) Die Wiedereinsetzung setzt voraus, dass zur Entschuldigung geeignete Tatsachen geltend und glaubhaft gemacht werden, die dem Berufungsgericht nicht bekannt waren. Auf Tatsachen, die das Gericht bereits in dem Urteil als zur Entschuldigung nicht geeignet angesehen hat, kann der Antrag daher nicht gestützt werden. Sie können nur im Zusammenhang mit neuen Tatsachen zur Begründung verwendet werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. § 329 Rn. 42; BeckOK StPO/Eschelbach, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 329 Rn. 57; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 09.05.2003, 1 Ws 172/03, juris). Auch auf neue Beweismittel für die vom Berufungsgericht schon gewürdigten Tatsachen kann der Antrag nicht gestützt werden. Der Angeklagte kann aber Tatsachen geltend machen, die das Berufungsgericht hätte würdigen können und müssen, die es jedoch im Berufungsverfahren nicht gewürdigt hat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. § 329 Rn. 42; OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.1997, 2 Ws 165/97; s.a. OLG München, Beschluss vom 21.04.1988, 2 Ws 191/88).
b) Soweit der Angeklagte zur Geltendmachung seiner ordnungsgemäßen Entschuldigung eine durch Einfügung seines Namens korrigierte Verhandlungsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, bezieht sich dieses Vorbringen zwar auf die bereits am Tag der Berufungsverhandlung vom Angeklagten für sein Nichterscheinen geltend gemachte Erkrankung und eine damit dem Berufungsgericht bei seiner Entscheidung bekannte Tatsache. Die attestierte Verhandlungsunfähigkeit hat das Berufungsgericht aber bei seinem Verwerfungsurteil nicht in seine Sachentscheidung einbezogen, sondern diese nicht berücksichtigt und insoweit ausgeführt, dass die Bescheinigung über die Verhandlungsunfähigkeit keinen Patientennamen enthalte. Da aber der Angeklagte sowohl die Bescheinigung über die Verhandlungsunfähigkeit als auch die in derselben Praxis ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemeinsam oder jedenfalls unmittelbar nacheinander eingereicht hat, war trotz des fehlenden Eintrags des Patientennamens im Schreiben betreffend die Verhandlungsunfähigkeit der bestehende Zusammenhang unübersehbar und eine gemeinsame Würdigung beider eingereichter Unterlagen hätte sich aufgedrängt und hätte daher auch erfolgen müssen. Der Angeklagte kann im Wiedereinsetzungsverfahren geltend machen, dass dies nicht geschehen ist.
2. Der Angeklagte ist unverschuldet nicht zur Berufungsverhandlung gekommen, da er jedenfalls ohne Verschulden davon ausgehen konnte, dass die von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen sein Fernbleiben entschuldigen.
a) Nach § 329 Abs. 7 StPO kann der Angeklagte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den in den §§ 44 und 45 StPO bezeichneten Voraussetzungen beanspruchen. Maßgebend sind also solche Gründe, die den Angeklagten ohne sein Verschulden am rechtzeitigen Erscheinen zur Berufungsverhandlung gehindert haben. Dies ist insbesondere der Fall bei Vorliegen einer Krankheit, die nach Art und Auswirkungen ein Erscheinen in der Hauptverhandlung unzumutbar machte (KK-StPO/Paul, 9. Aufl. 2023, StPO § 329 Rn. 23). Eine genügende Entschuldigung im Sinne der Vorschrift ist anzunehmen, wenn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls dem Angeklagten wegen seines Ausbleibens billigerweise kein Vorwurf zu machen ist. Auch wenn ein ärztliches Attest den Angeklagten objektiv nicht entschuldigt, darf ein Urteil nach § 329 Abs. 1 StPO nicht ergehen, wenn der Angeklagte ohne Verschulden annehmen durfte, der Inhalt des Attestes entschuldige sein Ausbleiben (KK-StPO/Paul, 9. Aufl. 2023, StPO § 329 Rn. 10; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.05.1985, 2 Ws 184/85 u. 2 Ss 161/85 - 104/85 II, beck-on-line; OLG Dresden, Beschluss vom 13.12.2016, 13 Ss 802/16, beck-online).
b) Der Angeklagte ist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze jedenfalls ohne subjektives Verschulden nicht zur Berufungsverhandlung gekommen.
Unabhängig von den im Freibeweisverfahren getroffenen Feststellungen zur Frage der ausreichenden Diagnostizierung der Erkrankung des Angeklagten und zur Gleichsetzung von Arbeitsunfähigkeit und Verhandlungsunfähigkeit durch den behandelnden und die Bescheinigungen ausstellenden Arzt hat das Landgericht nicht berücksichtigt, dass der Begriff der unentschuldigten Säumnis eine Pflichtverletzung auch in subjektiver Hinsicht voraussetzt und das Nichterscheinen einem Angeklagten nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn er in berechtigtem Vertrauen auf die Richtigkeit einer ärztlichen Diagnose davon ausgeht, aus gesundheitlichen Gründen einen Gerichtstermin nicht wahrnehmen zu können und zudem annehmen kann, das eingereichte Attest reiche aus, um ihn genügend zu entschuldigen (OLG Dresden, Beschluss vom 13.12.2016, 13 Ss 802/16, beck-online). Der Angeklagte, der durch die Information der Kanzleimitarbeiterin seines Verteidigers wusste, dass er ein Attest über seine Verhandlungsunfähigkeit vorlegen musste, und dem durch Dr. pp. sowohl eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als auch die Bescheinigung der Verhandlungsunfähigkeit ausgestellt worden waren, konnte auf die Bestätigungen des Mediziners vertrauen, sich angesichts seiner dem Arzt vorgetragenen Durchfallerkrankung für objektiv entschuldigt halten und ohne Schuldvorwurf annehmen, der Inhalt der von ihm eingereichten Atteste - Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit und der Verhandlungsunfähigkeit - reiche aus, um ihn genügend zu entschuldigen. Dass der Angeklagte seine Erkrankung nur vorgetäuscht und sich die ausgestellten Bescheinigungen erschlichen hat, ist nicht festgestellt. Auch durch die vom Landgericht durchgeführte Zeugenvernehmung ergaben sich hierfür keine Hinweise. Den ersten Termin zur Berufungshauptverhandlung vom 20.12.2023 hatte der Angeklagte im Übrigen wahr-genommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.
gez.
Kuschow Winter Zeller
Vorsitzender Richter Richterin Richterin
am Oberlandesgericht am Oberlandesgericht am Oberlandesgericht
Für die Richtigkeit der Abschrift
Nürnberg, 14.05.2024
Waldmann, JAng
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Dokument unterschrieben
von: Waldmann, OLG Nürnberg
am: 14.05.2024 14:12
Einsender: RA R. Peisl, Nürnberg
Anmerkung:
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