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Entscheidungen

Haftfragen

Haftprüfung, OLG, Verzögerungen des Verfahrens, unzuverlässiger Sachverständiger

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 23.04.2024 - 3 Ws 12/24 HP

Leitsatz des Gerichts:

Hat die Staatsanwaltschaft durch Auswahl eines zuverlässigen Sachverständigen, Fristsetzung zur Gutachtenerstattung und gegebenenfalls Anwendung von Zwangsmaßnahmen bei Ausbleiben des Gutachtens auf eine rechtzeitige Gutachtenerstattung hingewirkt, wird das Gutachten aber gleichwohl – für die Staatsanwaltschaft trotz rechtzeitiger und wirksamer Kontrollen nicht vorhersehbar – nicht oder nicht rechtzeitig erstellt, sind die dadurch entstandenen Verzögerungen dem Staat bei der Prüfung, ob ein wichtiger Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO besteht, nicht zuzurechnen.


In der Strafsache
gegen pp.

wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung u.a.

hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts am 23. April 2024 beschlossen:

Die Untersuchungshaft des Angeschuldigten dauert fort.
Bis zum Urteil, längstens bis zum 22. Juli 2024, wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe:

I.

1. Das Amtsgericht Tiergarten (383 Gs 329/23) hat am 19. Oktober 2023 auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin gegen den am 18. Oktober 2023 vorläufig festgenommenen Angeschuldigten einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts einer versuchten gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 241 (Abs. 1), 52 StGB sowie eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung gemäß §§ 114 Abs. 1, 223 Abs. 1, 52 StGB erlassen. Seit diesem Tag wird gegen ihn in hiesiger Sache in der Justizvollzugsanstalt Moabit - derzeit im dortigen Haftkrankenhaus - die Untersuchungshaft vollzogen.

Dem Angeschuldigten wird Folgendes zur Last gelegt:

Am 18. Oktober 2023 habe er gegen 6:50 Uhr im Außenbereich eines Restaurants in Berlin zunächst mit einer Glasflasche in die Richtung des Geschädigten, eines dort tätigen Mitarbeiters einer Sicherheitsfirma, gestoßen, um ihm Schnittwunden zuzufügen, was ihm jedoch nicht gelungen sei, weil der Geschädigte habe ausweichen können. Sodann habe der Angeschuldigte in Verletzungsabsicht einen Blumenkübel, eine Lampe und Steine in Richtung des Geschädigten geworfen. Dieser sei zwar getroffen worden, habe dadurch aber keine Schmerzen erlitten. Zudem habe der Angeschuldigte dem Geschädigten in Aussicht gestellt, ihn „totzumachen“, was dieser ernst genommen habe.

Ebenfalls am 18. Oktober 2023 habe der Angeschuldigte in Verletzungsabsicht in einer Verwahrzelle der Gefangenensammelstelle City gegen das Schienbein eines Polizeibeschäftigten getreten, der dadurch, wie vom Angeschuldigten beabsichtigt, Schmerzen erlitten habe.

Nachdem die Verteidigerin des Angeschuldigten in einem Telefonat vom 9. November 2023 auf psychische Auffälligkeiten des Angeschuldigten hingewiesen hatte, nahm die zuständige Dezernentin der Staatsanwaltschaft am selben Tag mit dem psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. zwecks Erteilung eines Begutachtungsauftrags telefonischen Kontakt auf. In dem Telefonat erklärte dieser sich bereit, das (vorläufige) Gutachten bis Ende Februar 2024 zu erstellen. Daraufhin erteilte die Dezernentin ebenfalls am 9. November 2023 dem Sachverständigen einen förmlichen Begutachtungsauftrag, in dem es unter anderem wörtlich heißt:

„Das vorläufige Gutachten bitte ich absprachegemäß bis Ende Februar 2024 fertig zu stellen.“

Mit E-Mail vom 11. Januar 2024 wies die Dezernentin der Staatsanwaltschaft den Sachverständigen darauf hin, sie gehe davon aus, dass das Gutachten gemäß der Zusage bis Ende Februar (2024) erstellt ist. Mit Schreiben vom 9. Februar 2024 teilte sie dem Sachverständigen anlässlich einer Aktenübersendung mit, sie bitte um Mitteilung, sollte das Gutachten nicht wie avisiert bis Ende Februar erstellt werden können. Auf beide Anschreiben hat der Sachverständige nicht reagiert. Da das vorläufige Gutachten Ende Februar absprachewidrig vom Sachverständigen nicht vorgelegt worden war, fragte die Staatsanwältin per E-Mail vom 4. März 2024 unter Hinweis auf die vereinbarte Vorlagefrist und die haftbedingte Eilbedürftigkeit an, wann mit dem Eingang des Gutachtens zu rechnen sei. Mit E-Mail vom selben Tag teilte der Sachverständige mit, dass er die Exploration wegen „sehr hoher Arbeitsbelastung“ erst Ende April vornehmen könne. Weil es der Staatsanwältin nicht gelang, den Sachverständigen telefonisch zu erreichen, schrieb sie ihn am 11. März 2024 per E-Mail an, wies nochmals auf die vom Sachverständigen zugesagte Frist zur Vorlage des Gutachtens hin, teilte mit, dass die gesetzliche Frist zur Überprüfung der Untersuchungshaft am 18. April 2024 ablaufe und bat um dringenden Rückruf. Mit E-Mail vom selben Tag erwiderte der Sachverständige, ein Gutachten sei „aus verschiedenen Gründen“ vor Mitte April nicht möglich, kündigte die Rücksendung der Akten an und bat um Beauftragung eines anderen Sachverständigen. Daraufhin hat die Staatsanwältin, nachdem sie von diversen Sachverständigen eine Absage erhalten hatte, mit Verfügung vom 21. März 2024 den Sachverständigen Dr. W., der zugesichert hat, das vorläufige Gutachten bis Mitte Mai 2024 erstellen zu können, mit der Begutachtung des Angeschuldigten beauftragt. In dem förmlichen Anschreiben vom selben Tag hat sie den neuen Sachverständigen zur Einhaltung der absprachegemäßen Fertigstellung des Gutachtens bis zum 15. Mai 2024 aufgefordert. Zugleich hat sie mit Verfügung vom selben Tag gegen den Angeschuldigten vor dem Amtsgericht Tiergarten - Schöffengericht - Anklage erhoben. In der Anklage, die dort am 2. April 2024 eingegangen ist, wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, die in dem Haftbefehl vom 19. Oktober 2023 bezeichneten Taten begangen zu haben. Abweichend vom Haftbefehl hat die Staatsanwaltschaft jedoch die Tat hinsichtlich des Geschehens auf der Gefangenensammelstellte als tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, versuchter vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung gemäß §§ 114 Abs. 1, 223 Abs. 1, 185, 22, 23, 52 StGB angeklagt.

Der Vorsitzende des Schöffengerichts hat am 2. April 2024 unter Hinweis auf die Eilbedürftigkeit der Haftsache die Übersetzung der Anklage in die arabische Sprache und die Zustellung der Anklage an die Verteidigerin unter Einräumung einer einwöchigen Stellungnahmefrist verfügt. Daneben hat er die Vorlage der Akten an das Kammergericht nach § 122 Abs. 1 StPO angeordnet und mitgeteilt, dass eine Terminierung der Schöffensache bis zum Ablauf der Frist am 18. April 2024 unter Einhaltung entsprechender Einlassungs- und Ladungsfristen nicht mehr erfolgen könne, zumal bis dahin kein Schöffentag der Abteilung verfügbar sei und vor einer Terminierung auch der Eingang des Sachverständigengutachtens abgewartet werden solle, insbesondere da sich die Begutachtung auch auf die Frage einer Unterbringung nach § 63 StGB erstrecke, und bejahendenfalls keine Zuständigkeit des Amtsgericht gegeben sei. Vorsorglich sei mit der Verteidigerin als möglicher Hauptverhandlungstermin der 22. Mai abgesprochen worden.

Die Akten sind am 10. April 2024 bei dem Kammergericht eingegangen.

II.

Der Senat ordnet die Fortdauer der Untersuchungshaft an.

1. Alleiniger Gegenstand der besonderen Haftprüfung durch den Senat sind die dem Angeschuldigten in dem Haftbefehl zur Last gelegten Taten (std. Rechtspr., vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 14. Juli 2023 - 3 Ws 27/23 -, 9. Dezember 2020 - (3) 121 HEs 26/20 (8-9/20) - und 8. Oktober 2019 - (3) 121 HEs 47/19 (20/19) -; jeweils m.w.N.), hier die in dem Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 19. Oktober 2023 und die darin gegenüber dem Angeschuldigten erhobenen Tatvorwürfe.

Danach ist der Angeschuldigte der in dem Haftbefehl genannten Taten auf Grund der im Haftbefehl und der in der Anklage aufgeführten Beweismittel, namentlich der Zeugen A, B, und C, dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO).

2. Es besteht - unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsgrundsätze (vgl. nur KG StV 2012, 350 m.w.N.) - der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), der derzeit durch mildere Maßnahmen als den Vollzug der Untersuchungshaft (§ 116 StPO) nicht ausgeräumt werden kann.

Der Angeschuldigte ist vielfach vorbestraft. Der Bundeszentralregisterauszug vom 10. Januar 2024 weist für den Zeitraum zwischen Januar 2017 und August 2022 insgesamt 14 Verurteilungen auf, davon mehrere wegen einschlägiger Delikte. Zuletzt hat ihn das Amtsgericht Potsdam am 22. August 2022 wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in drei Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung und Sachbeschädigung sowie Hausfriedensbruch zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die bis zum 3. Juli 2023 vollstreckt wurde. Zu weiteren Tätlichkeiten kam es nach Begehung der im Haftbefehl genannten Straftaten im Rahmen seiner Zuführung in die Justizvollzugsanstalt Moabit, bei der er zwei Mitarbeiter durch Schläge, Tritte und Kopfstöße verletzte; die Ermittlungen in dem daraufhin eingeleiteten Verfahren der Staatsanwaltschaft Berlin zu dem Geschäftszeichen 265 Js 1571/23 dauern noch an. Der Angeschuldigte muss deshalb nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens wegen einschlägiger, erheblicher Straftaten mit der Verhängung einer empfindlichen (Gesamt-) Freiheitsstrafe rechnen, deren Vollstreckung nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden wird.

Dem von dieser Straferwartung ausgehenden starken Fluchtanreiz stehen keine ihn mindernden beruflichen oder sozialen Bindungen gegenüber. Vielmehr überwiegt bei der gebotenen Gesamtwürdigung die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte im Falle seiner Freilassung dem weiteren Verfahren durch Flucht - etwa auch durch Untertauchen innerhalb Deutschlands oder Berlins - entziehen würde (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Juli 2023 a.a.O. und 24. November 2020 - 3 Ws 272/20 -; KG, Beschluss vom 31. März 2017 - 5 Ws 81/17 -). Der Angeschuldigte, dessen persönliche Verhältnisse im Wesentlichen unklar geblieben sind, kann nach eigenen Angaben weder schreiben noch lesen. Gleichwohl will er – nach Ansicht des Senats gänzlich unglaubhaft – in Damaskus Bauingenieurwesen studiert haben und von Beruf Fliesenleger, Bauhelfer, aber auch Zahnarzt sein. Er hat keinen festen Wohnsitz, geht keiner Erwerbstätigkeit nach und ist durch Bescheid des Landkreises Oberspreewald-Lausitz vom 25. April 2022 unter Androhung der Abschiebung aus der Bundesrepublik ausgewiesen worden. Zugleich ist ein fünfjähriges Einreiseverbot verhängt worden.

3. Der Zweck der Untersuchungshaft kann derzeit nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO erreicht werden. Voraussetzung für eine Entscheidung nach § 116 Abs. 1 StPO ist die Gewissheit des Senats, sich auf den Angeschuldigten verlassen zu können (vgl. Senat, Beschlüsse vom 14. Juli 2023 a.a.O. und 15. August 2019 - (3) 121 HEs 38/19 (15/19) -). Eine solche Vertrauensgrundlage ist nicht ansatzweise in Sicht. Der Angeschuldigte hat durch sein gesamtes Verhalten, selbst nach seiner Inhaftierung, dokumentiert, sich an keinerlei Regeln und Absprachen halten zu wollen.

4. Wichtige Gründe haben ein Urteil bislang nicht zugelassen und rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO).

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Mit der Dauer der Untersuchungshaft erhöhen sich die Anforderungen an die Zügigkeit der Verhandlung. Zudem nimmt auch der Begründungsaufwand an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (zum Ganzen vgl. BVerfG StV 2013, 640 m.w.N.; BVerfGK 7, 140, 161; 17, 517, 522; Senat, Beschlüsse vom 14. Juli 2023 a.a.O. und 9. Dezember 2020 - (3) 121 HEs 26/20 (8-9/20) -).

b) Das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über den Anklagevorwurf mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizuführen (vgl. BVerfG StV 2013, 640; Beschluss vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 - juris; OLG Düsseldorf StV 2001, 695; KG StraFo 2013, 507; Beschlüsse vom 6. Juni 2014 - 3 Ws 279/14 - und 7. März 2014 - 4 Ws 21/14 - juris). Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen, dem Verhalten der Verteidigung (vgl. BVerfGK 7, 140; BVerfG StV 2013, 640; BGH NStZ-RR 2013, 16), aber auch von der Höhe der möglicherweise zu verhängenden Strafe beeinflusst wird (vgl. BVerfG StV 2013, 640 m.w.N.; Senat a.a.O. m.w.N.). Dabei ist nicht entscheidend, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit eine Schwelle erreichen, die im Rahmen der Abwägung die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (vgl. BVerfGK 15, 474; Senat a.a.O. m.w.N.). Zu beachten ist dabei, dass die an die Zügigkeit der Bearbeitung von Haftsachen zu stellenden Anforderungen bei der ersten Haftprüfung nach § 122 Abs. 1 StPO weniger streng sind als bei weiteren Prüfungen nach § 122 Abs. 4 StPO (vgl. Senat a.a.O. m.w.N.).

c) Ist es im Laufe des Strafverfahrens zu Verzögerungen gekommen, besteht gemessen daran ein wichtiger Grund im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO nur, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert worden ist, denen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte durch geeignete Maßnahmen nicht haben entgegenwirken können. Maßgeblich ist insoweit, ob sie alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die notwenigen Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die vorgeworfenen Taten herbeizuführen (std. Rspr., vgl. BVerfG, Stattgebende Kammerbeschlüsse vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1853/20 -, juris und 6. Juni 2007 - 2 BvR 971/07 -, juris; KG, Beschluss vom 25. Januar 2021 - (4) 121 HEs 2/21 (2-3/21) -, juris; Beschluss vom 3. Februar 2022 - (5) 161 HEs 2/22 (1/22) -; Gärtner in Löwe-Rosenberg, StPO 27. Auflage, § 121 Rdn. 63 m.w.N.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Auflage, § 121 Rdn. 18; m.w.N.). Die Rechtfertigungsgründe für die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus sind eng auszulegen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. März 2006 - 2 BvR 170/06 -, juris; Gärtner, a.a.O. m.w.N., Rdn. 53; Schmitt, a.a.O., Rdn. 17; m.w.N.). Die den Urteilserlass hindernden Umstände können die Fortdauer der Haft grundsätzlich nur dann rechtfertigen, wenn ihr Vorliegen nicht in den Verantwortungsbereich des Staates fällt (Gärtner, a.a.O., Rdn. 54). Von dem Angeklagten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 1. Dezember 2020, a.a.O.). Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung zu dienen (vgl. BVerfG, a.a.O.; KG, Beschlüsse vom 11. Januar 2024 - 5 Ws 3/24 HP - und 17. Juni 2022 - (5) 121 HEs 15/22 (15-19/22) -; Schmitt, a.a.O., Rdn. 19; alle m.w.N.). Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot nicht Rechnung getragen werden, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Entscheidung, die Grundlage des Freiheitsentzuges ist, aufheben (vgl. KG, Beschlüsse vom 11. Januar 2024 a.a.O. und 17. Juni 2022 a.a.O.).

d) Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren unter Beachtung des in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgebots geführt, insbesondere nach Bekanntwerden von psychischen Auffälligkeiten des Angeschuldigten noch am selben Tag die psychiatrische Begutachtung in die Wege geleitet. Zwar ist es wegen der Erstellung des (vorläufigen) psychiatrischen Gutachtens zu einer erheblichen Verfahrensverzögerung gekommen, weil - für die Staatsanwaltschaft nicht vorhersehbar - der ursprünglich beauftragte Sachverständige Dr. X seine Zusage, das vorläufige Gutachten bis Ende Februar 2024 zu erstellen, nicht eingehalten und nach Ablauf der Frist erklärt hat, die Exploration erst Ende April vornehmen zu können, wodurch die Staatsanwaltschaft gezwungen gewesen ist, einen neuen Sachverständigen mit der Begutachtung des Angeschuldigten zu beauftragen. Die dadurch entstandene Verzögerung des Verfahrens ist der Staatsanwaltschaft und dem Amtsgericht bei der Prüfung, ob ein wichtiger Grund im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO vorliegt, der die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigt, indes nicht zuzurechnen.

aa) Wird durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, haben sie durch Auswahl eines zuverlässigen Sachverständigen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 StPO), Fristsetzung zur Gutachtenerstattung (§ 73 Abs. 1 Satz 2 StPO) und gegebenenfalls durch Vornahme von Zwangsmaßnahmen gegen einen Sachverständigen bei Ausbleiben des Gutachtens (§ 77 StPO) auf eine rechtzeitige Gutachtenerstellung hinzuwirken (vgl. BVerfG NStZ-RR 2021, 50; OLG Jena StraFo 1997, 318). Ist für das bisherige Ausbleiben des Sachverständigengutachtens ein Grund nicht ersichtlich und sind rechtzeitige und wirksame Kontrollen einer zügigen Gutachtenerstellung unterblieben, ist die damit verbundene Verfahrensverzögerung dem Staat zuzurechnen (vgl. OLG Jena a.a.O.). Sind die Strafverfolgungsbehörden diesen Auswahl- und Überwachungspflichten nachgekommen, konnte die Verzögerung aber gleichwohl nicht verhindert werden, ist sie dem Staat nicht zuzurechnen.

bb) Diese Anforderungen hat die Staatsanwaltschaft erfüllt. Ein Verschulden der Staatsanwaltschaft bei der Auswahl des Sachverständige Dr. X ist nicht erkennbar. Den Sachakten sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass dieser unzuverlässig ist, insbesondere Zusicherungen abredewidrig nicht einhalten wird. Zudem hat die Staatsanwaltschaft realistische Vorgaben bezüglich der Gutachtenerstellung gemacht, die mit dem Sachverständigen im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 2 StPO abgesprochen und im förmlichen Auftragsschreiben der Staatsanwaltschaft textlich hervorgehoben worden sind. Darüber hinaus hat die Staatsanwaltschaft den Sachverständigen Dr. X noch vor Ablauf der Erstellungsfrist zweimal (mit E-Mail vom 11. Januar 2024 und postalischem Anschreiben vom 9. Februar 2024) auf die einzuhaltende Frist hingewiesen und um Mitteilung gebeten, sollte diese vom Sachverständigen nicht eingehalten werden. Erstmalig mit E-Mail vom 4. März 2024 hat Dr. X mitgeteilt, die Exploration erst Ende April 2024 vornehmen zu können. Dass die Staatsanwaltschaft keinen Gebrauch von der Möglichkeit gemacht hat, gegen den Sachverständigen ein Ordnungsgeld nach § 77 Abs. 2 StPO zu verhängen, erscheint sachgerecht. Ein Ordnungsgeld hätte wegen der nach § 77 Abs. 2 Satz 2 StPO zu setzenden Nachfrist allenfalls zu einer minimalen Zeitersparnis geführt. Zudem hätte das Risiko bestanden, dass bei fortdauernder Weigerung des Sachverständigen Dr. X gleichwohl ein neuer Sachverständiger, dann aber mit zusätzlichem Zeitverlust, hätte bestellt werden müssen. Dies wäre für den Fortgang des Verfahrens kontraproduktiv gewesen. Der neue Gutachtenauftrag wurde von der Staatsanwaltschaft unverzüglich nach Bekanntwerden der endgültigen Weigerung des alten Sachverständigen erteilt, wiederum unter angemessener Fristsetzung bis Mitte Mai 2024 und dem Hinweis, das Gutachten bis zum festgesetzten Zeitpunkt zu erstellen.

Die genannte Verzögerung hätte nicht dadurch verhindert werden können, dass die Staatsanwaltschaft, ohne die ursprünglich gesetzte Begutachtungsfrist abzuwarten, den Angeschuldigten ohne vorherige Begutachtung angeklagt hätte. Denn angesichts dessen, dass die Verteidigerin auf psychische Auffälligkeiten des Angeschuldigten hingewiesen hat und das Haftkrankenhaus mit Schreiben vom 12. Februar 2024 wegen des Verdachts einer paranoiden Schizophrenie nach ICD-10: F20.0 seine forensisch-psychiatrische Begutachtung angeregt hat, hatte die Staatsanwaltschaft zu ermitteln, ob die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 63 StGB vorliegen, um dadurch zum einen zu klären, ob Anklage zu erheben oder eine Antragsschrift im Sicherungsverfahren zu fertigen ist, und zum anderen, welches Gericht nach Maßgabe von §§ 24 Abs. 1, 74 Abs. 1 GVG sachlich zuständig ist.

Dass die Staatsanwaltschaft nunmehr, ohne den Eingang des schriftlichen Gutachtens abzuwarten, Anklage erhoben hat, steht dazu nicht im Widerspruch. Denn dem Zeitgewinn, der durch eine vorab erfolgte gutachterliche Klärung oben genannter Fragestellung erzielt worden wäre, ist durch die Weigerung des Dr. X, das Gutachten fristgerecht zu erstellen, die Wirkung genommen worden.

Auch das Amtsgericht hat dem Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit Fortgang gegeben, indem es zeitnah die Übersetzung und Zustellung der Anklage verfügt und vorsorglich mit der Verteidigung einen Hauptverhandlungstermin für den 22. Mai 2024 abgesprochen hat. Dass es das Ergebnis des Gutachtens abwarten will, um Gewissheit über die sachliche Zuständigkeit zu gewinnen, ist sachgerecht. Eine Verfahrenseröffnung und sofortige Terminierung wäre vor dem Hintergrund einer möglichen Unzuständigkeit nach Maßgabe von § 74 Abs. 1 GVG dysfunktional, denn die dem zugrundeliegende Frage, ob gegen den Angeschuldigten eine Maßregel nach § 63 StGB anzuordnen ist, wäre ohnehin vor einem Urteil des Amtsgerichts zu klären.

5. Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht zu der Bedeutung der Sache und der für den Fall, dass der Angeschuldigte für die im Haftbefehl genannten Taten verurteilt wird, zu erwartenden (Gesamt-) Freiheitsstrafe nicht außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Zwar werden durch die verzögerungsbedingte Verlängerung der Untersuchungshaft - ungeachtet der Frage, wem die Verzögerung zuzurechnen ist - erhöhte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit gestellt. Indes ist in den Blick zu nehmen, dass der Angeschuldigte aus den dargelegten Gründen mit einer empfindlichen, nicht mehr zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe zu rechnen hat, und er wegen des Vorfalls anlässlich seiner Vorführung in die Untersuchungshaftanstalt mit einer weiteren Anklage und damit mit einer nochmals erhöhten (Gesamt-) Freiheitsstrafe zu rechnen hat, die im (noch) angemessenen Verhältnis zur Dauer der Untersuchungshaft steht.

III.

Die befristete Übertragung der weiteren Haftprüfung auf das erkennende Gericht beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.


Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin

Anmerkung:


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