Gericht / Entscheidungsdatum: LG Wiesbaden, Beschl. v. 15.05.2024 – 1 Qs 37/24
Eigener Leitsatz:
Da jede Straftat die Rechtsordnung beeinträchtigt und die in § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO genannten Katalogtaten bereits abstrakt-generell schwerwiegender Natur sind, kann die Auslegung des Merkmals der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung nur dahingehend erfolgen, dass einschränkend erforderlich ist, dass die jeweilige Anlasstat auch im Einzelfall schwer wiegt.
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt
wegen pp.
hat das Landgericht Wiesbaden 1. Große Strafkammer am 15.05.2024 beschlossen:
Auf die Beschwerde des Beschuldigten wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Wiesbaden vom 24.01.2024 Az. 70 Gs 45124 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die Insoweit entstandenen
notwendigen Auslagen des Beschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
Dem Beschuldigten wird in dieser Sache vorgeworfen, in 17 Fällen gemeinschaftlich handelnd fremde bewegliche Sachen einem anderen in der Absicht weggenommen zu haben, sich diese rechtswidrig zuzueignen, wobei er gewerbsmäßig und als Mitglied einer Bande gehandelt habe, die sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstahlstaten verbunden habe und unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds gestohlen habe.
Der Beschuldigte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichtes Wiesbaden vom 24.01_2024 — Az. 70 Gs 45/24 seit dem 05,02.2024 in Haft. Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, subsidiär auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 Kir, 2 StPO gestützt.
Mit einem im Rahmen der Haftprüfung erlassenen Beschluss vom 25.04.2024 hielt das Amtsgericht Wiesbaden den Haftbefehl des Amtsgerichtes Wiesbaden vom 24.01.2024 – Az 70 Gs 45/24 - mit der Maßgabe aufrecht, dass der Haftbefehl ausschließlich auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt werde. Noch in der Sitzung legte der Verteidiger des Beschuldigten gegen den verkündeten Beschluss Beschwerde ein; eine zunächst angekündigte Beschwerdebegründung erfolgte nicht.
Mit Beschluss vom 03.05.2024 half das Amtsgericht Wiesbaden der Beschwerde mit der Begründung, es seien zwar in den einzelnen Fällen keine hohen Schäden verursacht worden, jedoch deliktsbedingt und ausführungsbedingt nicht nur erhebliche wirtschaftlicher Schäden, sondern auch eine Verunsicherung der Bevölkerung hinsichtlich der Sicherheit im öffentlichen Raum bewirkt würden, nicht ab, In dem Beschluss verwies das Amtsgericht ferner darauf, dass der Beschuldigte keiner Erwerbstätigkeit nachgehe und er über keine Ausbildung verfüge, so dass nicht sichergestellt sei, dass der persönliche Bedarf durch andere Mittel als durch die, die illegal erworben würden, befriedigt werden könnten. Ferner sei in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen, dass die Familie in einer Wohnung wohne, die bereits gekündigt worden wäre, deren Räumung begehrt würde und die zeitweise unbewohnbar gewesen sei. Hieraus folge insgesamt, dass die wirtschaftliche Situation der Familie und des Beschuldigten erheblich strapaziert sei, was zumindest nicht fernliegend erscheinen lasse, dass sich die zugrundeliegenden Straftaten auch in Zukunft wiederholen würden.
Die gemäß den § 304 StPO zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Allerdings ist der Beschuldigte der im Haftbefehl vom 24.01.2024 aufgeführten Taten, nämlich gewerbsmäßig und als Mitglied einer Bande in 17 Fällen unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht weggenommen zu haben, sich die Sachen rechtswidrig zuzueignen, dringend verdächtig.
Dringender Tatverdacht liegt vor, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Der dringende Tatverdacht darf aus bestimmten Tatsachen, nicht aber aus bloßen Vermutungen hergeleitet werden. Maßgeblich ist das aus den Akten ersichtlich Ermittlungsergebnis (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., zu § 112, Rn. 5 ff.).
Die an den oben dargelegten Kriterien gemessene Verurteilungswahrscheinlichkeit folgt vorliegen aus dem Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen, insbesondere aus den sich im Haftbefehl vom 24.01.2022 genannten Beweismitteln.
Gegen das Vorliegen des dringenden Tatverdachts wendet sich die Haftbeschwerde nicht.
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Wiesbaden war jedoch aufzuheben, da es an einem Haftgrund mangelt.
Ersichtlich besteht weder der Haftgrund der Flucht nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO noch der Verdunklungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr, 3 StPO. Auch eine Fluchtgefahr 1.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist nicht gegeben, nachdem der Beschuldigte mit Meldebescheinigung vom 26.02.2024 seine Wohnadresse in dem Freiherr-Vom-Stein-Ring 21 in 65293 Hochheim, wo auch seine Familie aufhältig ist, nachgewiesen hat.
Auch die Voraussetzungen des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO liegen nicht vor.
Die Wiederholungsgefahr i.S. dieser Vorschrift setzt voraus, dass der Beschuldigte dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat im Sinne des §§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO begangen zu haben. Bereits diese Voraussetzung ist nach Auffassung der Kammer nicht gegeben.
Allerdings stellt der Vorwurf des gewerbsmäßigen Bandendiebstahls unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds gemäß dem §§ 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 244a Abs. 1 StGB in jedem einzelnen der Fälle eine Anlasstat nach dem Katalog des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dar, die grundsätzlich geeignet ist, den Haftgrund der Wiederholungsgefahr zu begründen. Bereits gemäß der angedrohten Freiheitsstrafe des § 244a Abs. 1 StGB ist hierbei auch von einer Straferwartung für jedenfalls einem Teil der verwirklichten Straftaten von über einem Jahr auszugehen (ausreichend: vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 — 3 Ws 161/10), wobei dahingestellt bleiben kann, ob nicht ohnehin auf die zu erwartende Gesamtfreiheitsstrafe maßgeblich abzustellen ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 —3 Ws 161/10).
Allerdings beeinträchtigt der gegebene dringende Tatverdacht die Rechtsordnung nicht schwerwiegend, so dass auch der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO ausgeschlossen ist.
Im Hinblick auf das Grundrecht der Freiheit der Person ist ein strenger Maßstab an das Bestehen des Haftgrunds anzulegen und auch bei der Prüfung, ob weitere schwerwiegende Straftaten zu erwarten sind, sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfGE 35,185). Da jede Straftat die Rechtsordnung beeinträchtigt und die in § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO genannten Katalogtaten bereits abstrakt-generell schwerwiegender Natur sind, kann die Auslegung des Merkmals der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung nur dahingehend erfolgen, dass einschränkend erforderlich ist, dass die jeweilige Anlasstat auch im Einzelfall schwer wiegt (KHK zur StPO, 9. Aufl. 2023, zu § 112a Rn. 14a). Diese muss daher in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, einen hohen Unrechtsgehalt aufweisen, so dass in einer Gesamtschau wenigstens eine Einordnung in dem Bereich der „oberen Hälfte der mittelschweren Kriminalität" zu erfolgen hat (OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.09.2016 — 1 Ws 126/16; OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 — 3 W s 161 /10; OLG Braunschweig, Beschluss vom 07.11.2011 — Ws 316/11). Dabei ist auf die einzelne Tat und nicht auf die Gesamtheit aller Taten abzustellen (OLG Frankfurt a.M., a.a.O.; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 24.11.2009 — 1 W s 126 /09; MüKo, StPO, 2. Aufl. 2023, zu § 112a, Rn. 40), da durch leichtere Übergriffe in der Regel keine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung im Sinne der Störung des allgemeinen Rechtsfriedens eintritt.
Maßgeblich für die Beurteilung im Rahmen des konkreten Erscheinungsbildes der Tat sind insbesondere Art und Umfang des jeweils angerichteten Einzelschadens, wobei bei der jeweiligen Einzeltat ein Schaden von mindestens 2000 € erreicht sein muss (MüKo, a.a.O., Rn. 26; KK zur StPO, 9. Aufl. 2023, zu § 112a, Rn. 14a; für gewerbsmäßigen Betrug: OLG Naumburg, Beschluss vom 26.07.2011 — 1 Ws 616 /11; OLG Hamburg, Beschluss vom 20.07.2017- 2 Ws 110/17; vgl. a. OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 — 3 Ws 161/10). Vorliegend wird dem Beschuldigten vorgeworfen, in 17 Fällen gewerbsmäßig und als Mitglied einer Bande Beträge zwischen 10 EUR und 1100 EUR widerrechtlich entwendet zu haben. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung kann hiernach nicht begründet werden,
Selbst wenn jedoch entgegen der hier vertretenen Auffassung das Vorliegen einer schwerwiegenden Beeinträchtigung bei fortgesetzten Taten auch anhand des Gesamtschadens zu bestimmen sein sollte, kann dieser auch bei tatmehrheitlich begangenen Serientaten nur bei einem sehr hohem (weit Überdurchschnittlichem) Gesamtunrecht Berücksichtigung finden (KK, StPO, 9. Aufl. 2023, zu § 112a, Rn. 14a; LG Freiburg, Beschluss vom 24.04.2015-2 Qs 47/15). Auch ein solches vermag die Kammer bei einem Gesamtschaden von 7.802,36 € nicht zu erkennen.
Schließlich genügen keine besonderen Umstände in Tat oder der Lebensumstände des Beschuldigten dem Tatbestandmerkmal einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung". So ist bereits zweifelhaft, ob solche Umstände überhaupt geeignet sind, eine solch schwerwiegende Beeinträchtigung i.S.d. Norm zu begründen. Selbst wenn dies aber bejaht werden sollte, müssten die Umstände in ihrer Schwere einen Grad erreichen, die eine Einordnung in den „oberen Bereich der mittelschweren Kriminalität" begründen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
So wird dem Beschuldigten vorgeworfen, zusammen mit seinen Brüdern Tankstellen und Verkaufsläden aufgesucht zu haben, wobei einer der Beschuldigten das Verkaufspersonal abgelenkt haben soll, während die übrigen Beschuldigten überwiegend E-Shishas, zum Teil auch elektronische Geräte widerrechtlich entwendeten. Hierbei handelt es sich um Ladendiebstähle, die angesichts der einfachen Ausführung und des begrenzten Schadens weder ein gesteigertes Handlungs- noch ein gesteigertes Erfolgsunrecht erkennen lassen. Allein eine gewerbsmäßige, bandenmäßige Begehung auch in 17 zeitnahen Einzelfellen genügt nicht, hier eine abweichende Bewertung und die Annahme einer Einordnung der vorgeworfenen Taten in den oberen Bereich der mittelschweren Kriminalität zu begründen. Gleiches gilt erst recht für die persönlichen Urnstände des Beschuldigten, nach welchem dieser derzeit arbeitslos ist und nach Haftentlassung in sein gewohntes Umfeld zurückkehrt. Hieraus eine besondere, schwerwiegende Beeinträchtigung i.S.d. § 112a StPO zu rechtfertigen, ist nach Ansicht der • Kammer ausgeschlossen.
Auch wird das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung durch die vorgeworfenen Taten nicht über das Maß der den vorgeworfenen Delikten immanenten Unrechtsgehalt hinaus beeinträchtigt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 46
Einsender: RA T. Tuma, Frankfurt am Main
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