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Entscheidungen

Haftfragen

U-Haft, Verdunkelungsgefahr, Fluchtgefahr

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 16.05.2024 - III-1 Ws 192/24

Eigener Leitsatz:

1. Der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist gegeben, wenn es bei Würdigung aller Umstände des Falles wahrscheinlicher ist, dass sich ein Beschuldigter dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich ihm zur Verfügung haften wird.
2. Aus der Eigenart und der gewählten Begehungsweise des Delikts allein lässt sich im Allgemeinen die Verdunkelungsgefahr nicht ableiten. Hinzu kommen müssen für deren Annahme vielmehr noch weitere Umstände, aus denen auf die Gefahr der negativen, nämlich verdunkelnden Einflussnahme geschlossen werden kann.


OBERLANDESGERICHT HAMM

BESCHLUSS

III-1 Ws 192/24 OLG Hamm

Ermittlungsverfahren
gegen pp.
zurzeit in dieser Sache in Untersuchungshaft in der JVA pp.

Verteidiger:

wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (hier: (weitere) Haftbeschwerde).

Auf die (weitere) Beschwerde des Beschuldigten vom 10.04,2024 gegen den Beschluss der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 09.04.2024 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 16.05.2024 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft sowie des Beschuldigten und seines Verteidigers beschlossen:

Die Beschwerde des Beschuldigten wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Siegen vom 04.03.2024 (450 Gs 385/24, verkündet unter dem Az. 450 Gs 444124) in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses des Amtsgerichts Siegen vom 27.03.2024 (450 Gs 517/24) und des Beschlusses der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 09.04.2024 (10 Os 26/24) unter folgenden Auflagen außer Vollzug gesetzt wird:

1. Der Beschuldigte hat unverzüglich nach Haftentlassung wieder an der Anschrift pp. Wohnung zu nehmen und jeden Wohnsitzwechsel der Staatsanwaltschaft Siegen anzukündigen und gleichzeitig die neue Wohnanschrift zu dem Az. 46 Js 397/22 mitzuteilen.
2.. Der Beschuldigte wird angewiesen, vorhandene Personalpapiere - Personalausweis und Reisepass bei der Staatsanwaltschaft Siegen zu dem Az. 46 Js 397/22 zu hinterlegen. Er hat Reisen innerhalb Deutschlands oder in das Ausland, die länger als drei Tage dauern, der Staatsanwaltschaft Siegen anzukündigen.
3. Der Beschuldigte hat. sich dreimal wöchentlich, und zwar montags, mittwochs und freitags, bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienstelle, Polizeiwache Olpe, Kortemickestr. 2, 57462 Olpe, zu melden, und zwar erstmals am Freitag, dem 17.05.2024.
4. Der Beschuldigte hat allen Ladungen von Gerichten und Staatsanwaltschaft Folge zu leisten.
Bei jeder Zuwiderhandlung gegen diese Anweisungen hat der Beschuldigte mit sofortiger Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls zu rechnen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beschuldigte; jedoch wird die gerichtliche, Gebühr um 1,4 ermäßigt. Die Landeskasse hat die Hälfte der dem Beschuldigten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslägen zu tragen.

Gründe:

Der Beschuldigte ist alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer der pp.GmbH in pp.. Gegenstand des Unternehmens ist laut Gesellschaftsvertrag die Industrie-und Gebäudereinigung. Laut Internetauftritt bietet das Unternehmen zudem Sanierungsarbeiten (Brand- Wasser- Schimmel und Asbestsanierung) und logistische Lösungen (Spedition und Lagerung) an. So zählte im Tatzeitraum bspw. die pp2. GmbH, die - oftmals im Auftrag von Versicherungen -Instandsetzungen nach Brand- und Wasserschäden durchführt, zu den großen Auftraggebern der Pp.GmbH.

Aufgrund hoher Bargeldauszahlungsbeträge von dem Geschäftskonto der pp.GmbH im fünf- bis sechsstelligen Bereich unter Angabe von Verwendungszwecken wie „Löhne, Gehälter, Materialkosten, Lieferanten, Hotelkosten, Tankgelder, Nachunternehmer, Fremdfirmen" ergingen durch die kontoführende Bank Meldungen an die Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen (FIU), die die zur Kenntnis gebrachten Sachverhalte ihrerseits mangels Geldwäscheverdachts an das Hauptzollamt Dortmund (HZA) weiterleitete.

Im Juni 2022 wurde gegen den Beschuldigten ein Strafverfahren wegen des Verdachts des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt eingeleitet, da sich nach Auswertung der Kontoverdichtungen des Geschäftskontos der Pp.GmbH für den Zeitraum 06/2021 — 12/2021 und der bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) unter der Betriebsnummer des Unternehmens (pp.) für das Jahr 2021 gemeldeten Entgelte ein für das von der Pp.GmbH betriebene lohnintensive Arbeitsfeld auffällig niedriger Lohnanteil ergeben hatte, der in Verbindung mit den hohen Bargeldabhebungen den Verdacht von Schwarzlohnzahlungen aufkommen ließ.

Nach Durchführung weiterer Ermittlungen und einer vorläufigen Berechnung des Beitragsschadens für die Jahre 2019 bis 2021 durch die DRV, die einen Gesamtbetrag von rund 3,54 Mio. € ergab, beantragte die Staatsanwaltschaft Siegen den Erlass von Durchsuchungsbeschlüssen und Vermögensarresten sowie einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten.

Das Amtsgericht Siegen erließ am .04.03.2024 (antragsgemäß) einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten (450 Gs 385/24, verkündet unter dem Az. 450 Gs 444/24), da dieser dringend verdächtig sei, im Zeitraum jedenfalls ab 2019 bis heute in pp. durch eine unbekannte Anzahl von Einzelfällen, mindestens jedoch durch 36 selbständige Handlungen jeweils als vertretungsberechtigtes Organ des Arbeitgebers (Pp.GmbH) Beiträge der Arbeitnehmer und des Arbeitgebers zur Sozialversicherung der Einzugsstelle vorenthalten und veruntreut zu haben (§§ 266a Abs. 1, Abs. 2, 14 Abs. 1 Nr.1 52, 53 StGB). Der Haftbefehl ist auf die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Haftbefehls Bezug genommen.

Auch die beantragten Durchsuchungsbeschlüsse und Vermögensarreste in das Vermögen der Pp.GmbH und des Beschuldigten wurden antragsgemäß durch das Amtsgericht Siegen erlassen.

Am 14.03.2024 wurden die Durchsuchungsbeschlüsse vollzogen und der Beschuldigte vorläufig festgenommen. Noch am selben Tag wurde ihm der Haftbefehl verkündet. Seither befindet er sich in dieser Sache ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Siegen vom 27.03.2024 (450 Gs 517/24) wurde der Haftbefehl nach durchgeführter mündlicher Haftprüfung aufrechterhalten und zu den seitens der Verteidigung vornehmlich in Abrede gestellten Haftgründen ergänzend ausgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Haftfortdauerbeschlusses Bezug genommen.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten vom 03.04.2024, die im Kern damit begründet wurde, dass die angenommenen Haftgründe nicht durch bestimmte Tatsachen gestützt und die engen familiären Bindungen des Beschuldigten nicht ausreichend berücksichtigt worden seien, hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Siegen durch Beschluss vom 09.04.2024 (10 Qs 26/24) wiederum unter ergänzenden Ausführungen zu den Haftgründen der Flucht- und Verdunkelungsgefahr als unbegründet verworfen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Beschlusses Bezug genommen.

Dagegen wendet sich der Beschuldigte mit der weiteren Beschwerde vom 10.04.2024, mit der er auf sein früheres Beschwerdevorbringen Bezug nimmt und geltend macht, die dortigen Argumente seien durch den Beschluss des Landgerichts Siegen nicht ausgeräumt worden.

Die 2. große Strafkammer des Landgerichts Siegen hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen und zum Haftgrund ausgeführt. aus den von dem Amtsgericht und vom Landgericht ausgeführten Gründen bestehe jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr.

Die Akten sind am 06.05.2024 beim Senat eingegangen.

Der Senat hat nach telefonischer Anhörung des Verteidigers des Beschuldigten vor Ablauf der bis zum 21.05.2024 vorgesehenen Stellungnahmefrist wie aus der Beschlussformel ersichtlich entschieden.

II.

Die (weitere) Haftbeschwerde des Beschuldigten ist zulässig und auch insoweit begründet, als der Haftbefehl des Amtsgerichts Siegen vom 04.03.2024 in Gestalt der Haftfortdauerentscheidung des Amtsgerichts Siegen vom 27.03.2024 und des Beschlusses der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 09.04,2024 gegen die mit diesem Beschluss angeordneten Auflagen außer Vollzug gesetzt werden konnte.

1. Der Beschuldigte ist der, ihm zur Last gelegten Taten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer. der Pp.GmbH seit (mindestens) 2019 dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den bisherigen Ermittlungen, insbesondere der Strafanzeige eines ehemaligen Arbeitnehmers der Pp.GmbH vom 22.06.2022 (BI. 440 ff. der EA), der damit in Einklang stehenden anonymen Hinweise vom 22.11.2021 (dort wird neben dem Namen des Beschuldigten allerdings eine nicht existente „pp3.GmbH" genannt) und vom 02.08:2022 (BI. 537 der EA), der Auswertung der aus den Kontoverdichtungen des Geschäftskontos der Pp.GmbH hervorgehenden Lohnüberweisungen an einzelne Arbeitnehmer und deren Abgleich mit den Meldeentgelten (BI. 553 ff.,. 634 ff. der EA) sowie aus den hohen Bargeldabhebungen von dem Geschäftskonto der Pp.GmbH und den in Relation zu den erzielten Umsätzen der Pp.GmbH mit Blick auf das lohnintensive Arbeitsfeld des Unternehmens niedrigen Meldeentgelten.

2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.

Der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist gegeben, wenn es bei Würdigung der Umstände des Falles wahrscheinlicher ist, dass sich ein Beschuldigter dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich ihm zur Verfügung haften wird (BGH, Beschluss vom 08.05.2014 -1 StR 726/13 Rn. 15, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 17 m.w.N.). Die in dem Strafverfahren zu erwartenden Rechtsfolgen sind dabei zu berücksichtigen. Allerdings kann die Straferwartung allein die Fluchtgefahr nicht begründen; sie ist nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Beschuldigte werde ihm wahrscheinlich nachgeben und sich dem Strafverfahren entziehen. Maßgeblich ist insoweit die Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere auch. der persönlichen und sozialen Einbindung des Beschuldigten in familiäre und/oder berufliche Strukturen sowie aller sonstigen Umstände, die geeignet sind, den Fluchtanreiz Im Einzelfall maßgeblich zu erhöhen oder zu reduzieren (vgl. Senat, Beschlüsse vom 14.04.2011 -III-1 Ws 210/11; vom 08.10.2013 -III-1 Ws 463/13 - und vom 28,11.2017 -III-1 Ws 544/17-; OLG Hamm, Beschluss vom 14.01.2010 - 2 Ws 347/09 juris; OLG Hamm, Beschluss vom 19.02.2013 - III-5 Ws 59/13 -, juris; OLG Köln, StV 2000, 629; StV, 2018, 164; OLG Celle, Beschluss vom 07.09.2023 — 1 Ws 248/23 juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 112 Rn. 24 m.w.N.). Je höher allerdings die Straferwartung ist, desto weniger Gewicht ist auf weitere Umstände zu legen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 14.03.2013 - III-1 Ws 209113 - und vom 17.10.2013 - III-1 Ws 473/13 -; OLG Hamm, Beschluss vom 14.01.2010 - 2 Ws 347/09 -; juris; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.02_2022 - 1 HEs 509/21 beck-online; OLG
Celle, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.).

Die danach vorzunehmende Gesamtwürdigung ergibt, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr zwar zu bejahen ist. Dieser kann jedoch nach Bewertung des Senats durch mildere Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO begegnet werden, mit der Folge, dass dem Senat die Außervollzugsetzung des Haftbefehls unter den angeordneten Auflagen gerechtfertigt erscheint.

Der Beschuldigte ist in Olpe geboren und wohnte vor seiner Festnahme im familiären Verbund mit seinem 17-jährigen Sohn (Schüler), für den er das alleinige Sorgerecht ausübt, in pp. (Kreis pp.). Dort hat er auch ein Einfamilienhaus errichtet, dass er allerdings noch nicht bezogen hat. Der Beschuldigte hat zudem eine 16-jährige Tochter, die bei der Kindesmutter lebt und zu der er regelmäßigen Kontakt pflegt. Seine (Kern-)Familie wohnt ebenfalls in pp. und er hat dort seine Ausbildung bei dem Unternehmen pp. gemacht. Auch die von dem Beschuldigten 2015 gegründete Pp.GmbH ist in pp. angesiedelt.

Diesen engen Bindungen des mehrfach - wenn auch nicht einschlägig — vorbestraften Beschuldigten steht ausgehend von dem langen Tatzeitraum und einem beträchtlichen (vorläufigen) Gesamtbeitragsschaden die Erwartung einer einen Fluchtanreiz bietenden mehrjährigen Freiheitsstrafe im Falle einer Verurteilung gegenüber. Hinzu kommt, dass sich auf Grundlage der bisherigen Schadensberechnungen im Falle einer Verurteilung sowohl die Pp.GmbH als auch der Beschuldigte, der den. bisherigen Ermittlungen zufolge nicht unerheblich von den auf das Firmenkonto der Pp.GmbH geflossenen Geldern profitiert hat, nicht unerheblichen Forderungen gegen ihr Vermögen ausgesetzt sehen, die geeignet sind, dem Beschuldigten die wirtschaftliche Grundlage zu entziehen. Sofern das Amtsgericht darüber hinaus das mit einem hohen Maß an krimineller Energie gelebte System berücksichtigt hat, welches zum Zwecke der Vermögensmehrung auf Verschleierung und Entziehung von Vermögenswerten ausgerichtet gewesen sei, ist anzumerken, dass nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand keine Erkenntnisse über (systematische) Verschleierungen in der Buch- und Belegführung der Pp.GmbH vorhanden sind, die über die Eigenart des Delikts hinausgehen und Rückschlüsse über fluchtdienliche Fähigkeiten des Beschuldigten zulassen würden. Mit Ausnahme des aus der Strafanzeige vom 22.06.2022 hervorgehenden Hinweises, dass der bei der Pp.GmbH angestellte Zeuge pp. für diese Arbeitnehmer aus Rumänien und Moldavien organisiert haben soll, bestehen zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschuldigte über Verbindungen ins Ausland verfügt, die ihm eine Flucht erleichtern würden.

Die erforderliche Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles führt auch nach der Bewertung des Senats dazu, dass Fluchtgefahr besteht, diese ist aber nicht so stark, dass ihr nicht durch andere Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft begegnet werden könnte.

Dabei hat der Senat zunächst bedacht, dass die für die Straferwartung bedeutsame Schadensberechnung der DRV auf einer teilweise fehlerhaften Grundlage erfolgt ist. Die DRV hat ihren Berechnungen' die ihr vom HZA mitgeteilten Nettolohnsummen zugrunde gelegt; die sich aus der „Berechnungsgrundlage SV-Schaden" des HZA (BI. 748 der EA) ergeben (2019: 103.292 monatlich; 2020: 194.483,82 € monatlich; 2021: 185.964,56€ monatlich), Das HZA seinerseits hat das hochzurechnende Entgelt ausgehend von den Umsatzsteuer-Überwachungsbögen der Pp.GmbH für die Jahre 2019 bis 2021 (Bi. 498 ff. der EA) und den daraus hervorgehenden Umsatzzahlen („Summen für das Jahr in E") ermittelt. Dabei wurden allerdings fehlerhaft jeweils sämtliche Kennziffern aufsummiert und dabei bspw. nicht beachtet, dass unter den Kennziffern 46 und 84 von der Pp.GmbH bezogene Fremdleistungen erfasst werden, für die die Pp.GmbH als Leistungsempfängerin die Umsatzsteuer schuldet (§ 13b Abs. 5 UStG). Es handelt sich dabei gerade nicht um Nettoumsätze der Pp.GmbH als Leistungserbringerin. Daraus folgt zugleich, dass diese Kennziffern bei der Berechnung des hochzurechnenden Entgelts (vgl. zu der Berechnungsforme! des HZA Bl. 748 der EA) als Fremdleistung vom Nettoumsatz hätten in Abzug gebracht werden müssen. Auch weitere, vom HZA als Nettoumsatz berücksichtigte Kennziffern (86, 43, 48 und 89) weisen keinen erkennbaren Zusammenhang zu Leistungen der Pp.GmbH auf, für deren Erbringung Arbeitnehmer hätten eingesetzt müssen. Auf die Lesehilfe (BI. 540 der EA) und die im Internet auf der Seite des Bundesministeriums für Finanzen abrufbaren Vordrucke der Umsatzsteuer-Voranmeldungen und die dortigen Erläuterungen wird insofern Bezug genommen. Spart man die o.g. Kennziffern bei der Ermittlung des für die Schätzung der (Schwarz-)Lohnsummen relevanten Nettoumsatzes der Pp.GmbH aus und berücksichtigt zudem die Kennziffern 46 und 84 als Abzugsposten (Fremdleistungen), so ergeben sich jedenfalls für die Jahre 2019 und 2020 deutlich abweichende Nettolohnsummen (2019: 69.529,50 monatlich; 2020: 56.697,86 € mtl.; 2021: 183.850,94 E monatlich).

Daraus ergäbe sich auf Grundlage der von der Pp.GmbH im Rahmen ihrer Umsatzsteuer-Voranmeldungen getätigten Angaben und anhand der Berechnungsformel des HZA (BI. 748 der EA) zwar immer noch ein Gesamtbeitragsschaden in beträchtlicher Höhe (2019: 467.238,24 €; 2020: 381.009,63 €; 2021: 1.235,478,35 €), wobei die Jahre 2022 und 2023 noch nicht berücksichtigt sind. Jedoch ist Zurückhaltung geboten, aus diesem (vorläufigen) Beitragsschaden auf die Straferwartung im Falle einer Verurteilung - namentlich auf eine besonders hohe Straferwartung - :zu schließen. Dies aus den folgenden Erwägungen:

Die Berechnung des hochzurechnenden Entgelts durch das HZA ist unter der Prämisse erfolgt, dass 2/3 des (bereinigten) Nettoumsatzes der Pp.GmbH Lohnaufwendungen seien, Diese Schätzmethode ist zwar in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, allerdings nur als „fetztes Mittel", wenn keine anderweitig verlässlichen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu beschaffen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 10,11.2009 -1 StR 283/09 -, juris). Vorliegend wurden umfangreiche Beweismittel bei der Pp.GmbH und deren Auftraggebern sichergestellt, die derzeit ausgewertet werden und aus denen sich verlässlichere Schätzgrundlagen ergeben können. Zudem ist hier im Blick zu behalten, dass die Eigenart des vorliegenden Falles gerade darin besteht, dass die Pp.GmbH bzw. der Beschuldigte durch erhebliche Barabhebungen von dem Geschäftskonto u.a. mit den Verwendungszwecken „Löhne, Gehälter, Material, Lieferanten, Nachunternehmer, Fremdfirmen" auffällig geworden ist, was zwar einerseits den Verdacht der Barauszahlung von Schwarzlöhnen stützt, der Pp.GmbH zugleich aber auch eine Bezahlung von Subunternehmerleistungen und Materialkosten in bar ermöglichte. Anhaltspunkte für solche Barzahlungen ergeben sich bereits jetzt aus der Ermittlungsakte. Ausweislich des Betriebsprüfungsberichts des Finanzamts Olpe vom 13.04.2021 für die Jahre 2016 bis 2018 (BI. 1054 ff. der EA) wurden im dortigen Prüfungszeitraum Betriebsausgaben durch die Pp.GmbH in nicht unerheblichem Umfang in bar beglichen. Der Senat verkennt dabei nicht, dass angesichts des § 13b Abs, 2 Nr. 4 UStG (Bauleistungen) und § 13b Abs. 2 Nr. 8 UStG (Gebäudereinigung) unterfallenden Tätigkeitsfeldes der Pp.GmbH grundsätzlich zu erwarten wäre, dass in Anspruch genommene Subunternehmerleistungen sich (auch) den Umsatzsteuer-Voranmeldungen der Gesellschaft entnehmen lassen, da diese unter der Kennziffer 84 (oder 46 bei Leistungserbringung durch einen im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässigen Unternehmer) zu deklarieren sind, wenngleich die hierauf entfallende Umsatzsteuer nicht zu einer Zahllast führt, da sie als Vorsteuer wieder abgezogen werden kann (Kennziffer 67). Für das Jahr 2021 wurden jedoch in den Umsatzsteuer-Voranmeldungen 7 anders als in 2019 und 2020 – keine bezogenen Fremdleistungen unter diesen Kennziffern, angegeben und auch in den Jahren 2022 und 2023 allenfalls in einem sehr geringen Umfang (BI. 904 ff. der EA). Allerdings wurden auch in den Jahren 2017 und 2018 keine entsprechenden Angaben in den Umsatzsteuer-Voranmeldungen der Pp.GmbH gemacht (BI. 541 f. der EA), gleichwohl wurden in der Betriebsprüfung Subunternehmerleistungen in nicht unerheblichem Umfang festgestellt (BI. 1098 + 1099 der EA).

Insbesondere mit Blick auf die danach nicht überzubewertende Straferwartung und die starken Bindungen des Beschuldigten ist die Annahme gerechtfertigt, dass der bestehenden Fluchtgefahr mit den vom Senat festgesetzten Auflagen begegnet werden kann.

3. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 112 Abs, 2 Nr. 3 StPO ist nicht gegeben. Die Annahme dieses Haftgrundes setzt ein Verhalten des Beschuldigten voraus, das den dringenden Verdacht begründet, dass durch bestimmte Handlungen auf sachliche oder persönliche Beweismittel eingewirkt und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschwert werden wird. Dabei muss das Einwirken des Beschuldigten aktiv erfolgen, das bloße Bestreiten oder das Verweigern einer Einlassung reicht nicht aus. Die „Verdunkelungsgefahr' muss aufgrund bestimmter Tatsachen begründet sein. Diese müssen jedoch nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen, die bloße Möglichkeit verdunkelnder Handlungen genügt andererseits nicht. Ebenso reicht es allein nicht aus, dass noch weitere umfangreiche Ermittlungen erforderlich sind. Die „bestimmten Tatsachen" können sich aus dem Verhalten, den Beziehungen und den Lebensumständen des Beschuldigten ergeben (vgl, Senat, Beschluss vom 27.01.2014 - III-1 Ws 14/14 -; OLG Hamm, Beschluss vom 14.01.2010 - 2 Ws 347/09 juris; OLG Hamm, Beschluss vom 12.01.2004 - 2 Ws 326/03 -, juris; OLG Düsseldorf, StV 1997, 534; OLG München, StV 1996, 439; OLG Köln, StV 1992, 383; (KG Berlin, Beschluss vom 30.04,2019 — (4) 161 HEs 22/19 (10 - 11/19) —, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 26 ff., m.w.N.).

Derartige eine „Verdunkelungsgefahr" begründende Umstände liegen hier nicht vor. Sofern das Amtsgericht auf das besonders hohe Eigeninteresse des Beschuldigten an der Beseitigung der ihn belastenden Beweismittel und seinen beachtlichen Wissensvorsprung abgestellt hat, handelt es sich schon nicht um ein Verhalten des Beschuldigten. Darüber hinaus hat das Amtsgericht für die Annahme einer Verdunkelungsgefahr auf das von einem hohen Maß an Eigennutz und krimineller Energie getragene Verhalten des Beschuldigten in den letzten Jahren bzw. das aus der Akte ersichtliche geschäftliche Handeln des Beschuldigten abgestellt, das deutlich auf Verschleierung und Entziehung schließen lasse. Auch das Landgericht hat den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr damit begründet, die dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten seien gerade dadurch geprägt, dass er eine Vielzahl von Arbeitnehmern nicht zur Sozialversicherung angemeldet haben und diesen — nach Abhebung nicht aufgliederbarer Barbeträge in erheblicher Höhe — die Löhne bar ausgezahlt haben soll, um die Nachvollziehbarkeit zu verhindern. Dieses im großen Stil und über mehrere Jahre betriebene Geschäftsmodell sei gerade darauf angelegt, staatliche Stellen durch fehlende Transparenz und fehlende Unterlagen an der Geltendmachung. bestehender Ansprüche zu hindern. Aufgrund dieser verschleiernden Handlungen bei der Tatbegehung erscheine es sehr wahrscheinlich, dass der Beschuldigte auch in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren Handlungen der in § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO beschriebenen Art vornehmer) werde, um die Wahrheitsermittlung zu erschweren.

Amtsgericht und Landgericht haben die Verdunkelungsgefahr damit letztlich aus dem Charakter des dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikts hergeleitet. Denn das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt geht regelmäßig damit einher, das strafbare Handeln gegenüber den staatlichen Stellen zu verschleiern. Auch sind Fälle des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt regelmäßig von einem eigennützigen Gewinnstreben getragen. Aus der Eigenart und der gewählten Begehungsweise des Delikts allein lässt sich jedoch im Allgemeinen die Verdunkelungsgefahr nicht ableiten. Hinzu kommen müssen für deren Annahme vielmehr noch weitere - hier nicht feststellbare - Umstände, aus denen auf die Gefahr der negativen, nämlich verdunkelnden Einflussnahme geschlossen werden kann (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14,01.2010 - 2 Ws 347/09 juris; OLG Hamm, Beschluss vom 06.02.2002 - 2 Ws 27/02 -, juris; KG Berlin, Beschluss vom 18,12.1998 - 2 AR 144/98 (K) - 4 Ws 264/98 -, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.10.2006 - 1 Ws 87/06 -, Rn.128, juris, m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 25.01.1996 - 2 Ws 37/96 -, beck-online; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.02.2022 1 HEs 509/21 -, beck-online). Ginge man davon aus, dass bestimmte - auf Verschleierung und Manipulation angelegte - Delikte, wie z.B. Betrug und/oder Steuerhinterziehung allein wegen ihres Charakters die Verdunkelungsgefahr begründen, wäre bei diesen Delikten mit der Bejahung des dringenden Tatverdachts zugleich immer auch der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr indiziert. Eine solche Sicht widerspricht aber der gesetzlichen Regelung, nach der der Erlass eines Haftbefehls eben nicht nur vom Vorliegen des dringenden Tatverdachts abhängt, sondern als weitere Voraussetzung das Vorliegen eines Haftgrundes als eigenständige ‚Voraussetzung geprüft und bejaht werden muss (vgl. OLG Hamm, a.a.O.).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der in dem Beschluss des Landgerichts Siegen zitierten Entscheidung des KG Berlin (Beschluss vom 30.04.2019 — (4) 161 HEs 22/19 (10 - 11/19) juris). Dort wird u.a. erwähnt, Verdunkelungsgefahr könne auch „durch die Deliktsnatur und die Umstände der verfolgten Tat nahegelegt werden, etwa Mitgliedschaft in kriminellen oder terroristischen Vereinigungen, Taten der organisierten Kriminalität oder auf Irreführung und Verschleierung angelegte Taten". Dass das KG meint, allein aus der Deliktsnatur könne auf Verdunkelungsgefahr geschlossen werden, lässt sich daraus nicht entnehmen, zumal für die in der dortigen Entscheidung angenommene Verdunkelungsgefahr eine Gesamtschau von Tatsachen bedeutsam war. Der Deliktsnatur kam dabei keine erkennbare Bedeutung zu.

Überdies ist der Haftbeschwerde darin zuzustimmen ist, dass es mit dem Vorwurf eines deutlich auf Verschleierung von Schwarzlohnzahlungen angelegten Verhaltens nur schwer in Einklang zu bringen ist, dass der Beschuldigte regelmäßig auffällig hohe Barbeträge von dem Geschäftskonto der Pp.GmbH abgehoben und hierbei als Verwendungszweck oftmals Bezeichnungen wie „Löhne" oder „Gehälter" verwendet hat. Sofern das Landgericht demgegenüber unter Hinweis auf die nicht aufgliederbaren Barabhebungen im fünf- und sechsstelligen Bereich ausführt, das Geschäftsmodell sei gerade darauf angelegt, staatliche Stellen durch fehlende Transparenz und fehlende Unterlagen an der Geltendmachung bestehender Ansprüche zu hindern, bleibt hierbei unberücksichtigt, dass nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand noch keine Erkenntnisse über die Buch- und Beleglage der Pp.GmbH im Tatzeitraum vorliegen. Ob sich daraus konkrete Anhaltspunkte für eine (systematische) Verschleierung von Sachverhalten durch den Beschuldigten ergeben, ist derzeit noch ungewiss.

Die Nebenentscheidung beruht auf § § 473 Abs. 1, Abs. 4 StPO.


Einsender: RA Dr. F. Nobis, Iserlohn

Anmerkung:


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