Gericht / Entscheidungsdatum: LG Magdeburg, Beschl. v. 23.04.2024 - 29 Qs 954 Js 86381/23 (27/24)
Eigener Leitsatz:
Liegt ausweislich eines psychiatrischen Gutachtens bei dem Angeschuldigten eine seelische Behinderung, nämlich eine psychotische Störung durch multiplen Substanzgebrauch (F19.5) vorm die ihn nach der Bewertung der Ärztin daran hindert seine Angelegenheiten in Bezug auf die Vermögenssorge, die Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden und der Krankenkasse, die Vertretung in Wohnungsangelegenheiten, die Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, die Hilfe im Insolvenzverfahren sowie die Gesundheitssorge selbst zu besorgen, ist Unfähigkeit zur Selbstverteidigung zu bejahen.
Landgericht Magdeburg
Beschluss
29 Qs 954 Js 86381/23 (27/24)
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt J
wegen Beleidigung
hier: sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbeiordnung
hat die 9. Große Strafkammer - Beschwerdekammer des Landgerichts Magdeburg durch die unterzeichnenden Richter am 23. April 2024 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Angeschuldigten wird die Entscheidung des Amtsgerichts Quedlinburg vom 19. Februar 2024 (Geschäftszeichen: 2 Ds 954 Js 86381/23 (150/23)) aufgehoben und dem Angeschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
I.
Die Staatsanwaltschaft Magdeburg — Zweigstelle Halberstadt — hat am 6. November 2023 gegen den Angeschuldigten Anklage erhoben mit dem Vorwurf, am 5. April 2023 einen Polizeibeamten im Rahmen einer Anzeigenaufnahme mit den Worten "Wichser" und "Lappen" beleidigt, mithin in dessen Ehre verletzt zu haben.
Am 22. November 2023 beantragte der Verteidiger des Angeschuldigten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und führte zur Begründung den Umstand aus, dass der Angeschuldigte unter amtlicher Betreuung stehe.
Ausweislich des psychiatrischen Gutachtens der Dipl. med. H., Fachärztin für Psychiatrie, welches diese unter dem 12. November 2022 im Auftrag des Amtsgerichts Quedlinburg erstattete, liegt bei dem Angeschuldigten eine seelische Behinderung, nämlich eine psychotische Störung durch multiplen Substanzgebrauch (F19.5) vor. In Anbetracht der gezeigten Symptomatik und der weiteren Prognose sei der Angeschuldigte nicht in der Lage, die Angelegenheiten der Vermögenssorge, der Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden und der Krankenkasse, der Vertretung in Wohnungsangelegenheiten, der Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, der Hilfe im Insolvenzverfahren sowie der Gesundheitssorge selbst zu besorgen. Ständige Hilfe sei bei der Bewältigung der Aufgaben des täglichen Lebens erforderlich. Der Angeschuldigte sei nicht in der Lage, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Beeinträchtigung zu bilden, sei aber in der Lage, nach seinen gewonnenen Erkenntnissen zu handeln.
Mit Beschluss vom 22. November 2022 (Geschäftszeichen: 6 XVII 309/22 (TH)) bestellte das Amtsgericht Quedlinburg dem Angeschuldigten eine Betreuerin für die Aufgabenkreise Sorge für die Gesundheit, Vermögenssorge, Durchsetzung sozialer Leistungen und Wohnungsangelegenheiten. Nachdem zwischenzeitlich ein Betreuerwechsel stattgefunden hatte, hob das Amtsgericht Quedlinburg mit Beschluss vom 19. Dezember 2023 (Geschäftszeichen: 6 XVII 309/22 (TH)) die Betreuung des Angeschuldigten auf. Der Betreuer habe seine Entlassung beantragt, weil er von dem Angeschuldigten beleidigt und verleumdet worden sei. Darüber hinaus sei es auch für jeden anderen Betreuer nicht zumutbar, die Betreuung des Angeschuldigten zu übernehmen, sodass diese aufzuheben gewesen sei.
Mit Entscheidung vom 19. Februar 2024 (Geschäftszeichen: 2 Ds 954 Js 86381/23 (150/23)) wies das Amtsgericht Quedlinburg den Antrag auf Bestellung des Verteidigers des Angeschuldigten zum Pflichtverteidiger zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO nicht vorliegen. Darüber hinaus könne eine Pflichtverteidigerbeiordnung auch nicht damit begründet werden, dass der Angeschuldigte unter Betreuung stehe, weil diese aufgehoben worden sei.
Die Entscheidung wurde dem Verteidiger am 29. Februar 2024 und dem Angeschuldigten am 6. März 2024 zugestellt.
Am 29. Februar 2024 legte der Verteidiger des Angeschuldigten in dessen Namen sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Quedlinburg vom 19. Februar 2024 ein. Zur Begründung führte er aus, dass gegen den Angeschuldigten weitere Strafverfahren anhängig seien, sodass möglicherweise eine Gesamtstrafe zu bilden sei, weshalb das vorliegende Verfahren nicht isoliert betrachtet werden könne. Darüber hinaus sei die Betreuung zwar aufgehoben worden, allerdings ändere dies nichts daran, dass ein entsprechendes intellektuelles Defizit weiter existiere, weil die Betreuung auf Wunsch des Betreuten aufgehoben worden sei und nicht, weil ein Gutachten ergeben habe, dass die Defizite, welche ursprünglich Anlass für die eingerichtete Betreuung gewesen seien, zwischenzeitlich weggefallen seien.
Die Staatsanwaltschaft Magdeburg — Zweigstelle Halberstadt — beantragt, der sofortigen Beschwerde stattzugeben und dem Angeschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen.
Das Amtsgericht Quedlinburg hat die Akten dem Landgericht Magdeburg über die Staatsanwaltschaft Magdeburg — Zweigstelle Halberstadt —zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vorgelegt.
II.
Die sofortige Beschwerde, über die grundsätzlich ausschließlich das Beschwerdegericht ohne Abhilfeentscheidung des Ausgangsgerichts entscheidet (§ 311 Abs. 3 StPO), ist gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO in Verbindung mit § 311 StPO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Das Amtsgericht Quedlinburg hat die Bestellung von Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger des Angeschuldigten zu Unrecht abgelehnt, weil die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen. Es ist ersichtlich, dass sich der Angeschuldigte nicht selbst verteidigen kann, weshalb die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist.
Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung auch dann vor, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Die Unfähigkeit der Selbstverteidigung richtet sich dabei nach der individuellen Schutzbedürftigkeit, wobei im Wege einer Gesamtwürdigung die persönlichen Fähigkeiten und der Gesundheitszustand des Beschuldigten sowie die sonstigen Umstände des Falles zu berücksichtigen sind (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 66. Auflage 2023, § 140 Rn. 30). Die Verteidigung ist vor diesem Hintergrund notwendig, wenn Zweifel daran bestehen, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann; eine bestehende Betreuung kann dabei einen Anhaltspunkt für die Unfähigkeit der Selbstverteidigung bilden (Kämpfer/Travers in: MüKo zur StPO, 2. Auflage 2023, § 140 Rn. 47, 49).
Ausweislich des psychiatrischen Gutachtens der Dipl. med. H. Schwarz, Fachärztin für Psychiatrie, welches diese unter dem 12. November 2022 im Auftrag des Amtsgerichts Quedlinburg erstattete, liegt bei dem Angeschuldigten eine seelische Behinderung, nämlich eine psychotische Störung durch multiplen Substanzgebrauch (F19.5) vor. Nach der Bewertung der Ärztin hindere diese Störung die Fähigkeit des Angeschuldigten, seine Angelegenheiten in • Bezug auf die Vermögenssorge, die Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden und der Krankenkasse, die Vertretung in Wohnungsangelegenheiten, die Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, die Hilfe im Insolvenzverfahren sowie die Gesundheitssorge selbst zu besorgen. Der Angeschuldigte benötige darüber hinaus ständige Hilfe bei der Bewältigung der Aufgaben des täglichen Lebens und sei nicht in der Lage, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Beeinträchtigung zu bilden, auch wenn er in der Lage sei, nach seinen gewonnenen Erkenntnissen zu handeln.
Diese fachärztliche Bewertung zugrunde gelegt bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Angeschuldigte in der Lage ist, sich in dem Strafverfahren seinen Interessen entsprechend zu verhalten und sich selbst zu verteidigen. Wenn schon alltägliche Aufgaben die Unterstützung durch Dritte erfordern, so gilt dies erst Recht für die zur Strafverteidigung erforderlichen Handlungen. Dem steht auch nicht entgegen, dass die am 22. November 2022 angeordnete Betreuung mit Beschluss des Amtsgerichts Quedlinburg vom 19. Dezember 2023 aufgehoben wurde. Denn die Aufhebung der Betreuung erfolgte vor dem Hintergrund, dass es in Anbetracht des beleidigenden und verleumdenden Verhaltens des Angeschuldigten niemandem zumutbar sei, die Betreuung des Angeschuldigten zu übernehmen. Wie der Verteidiger des Angeschuldigten zu Recht ausführt, sind Anhaltspunkte dafür, dass sich die der Betreuerbestellung zugrundeliegenden Umstände in der Weise geändert haben, dass eine Betreuung des Angeschuldigten nicht mehr für notwendig erachtet werde, nicht ersichtlich. Die Zweifel an der Fähigkeit des Angeschuldigten, sich im Strafverfahren selbst zu verteidigen, sind mit der Aufhebung der Betreuung daher nicht ausgeräumt worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig
Anmerkung:
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