Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Nürnberg, Beschl. v. 08.04.2024 - Ws 248/24
Leitsatz des Gerichts:
1. Soll Ordnungshaft wegen Ungebühr angeordnet werden, muss der Sachverhalt im Protokoll gemäß § 182 GVG so deutlich dargestellt werden, dass das Beschwerdegericht nachprüfen kann, ob eine Ungebühr vorlag. Die Niederschrift muss ein so deutliches Bild von dem Vorgang geben, dass der Grund und die Höhe der Sanktion in der Regel ohne weiteres nachzuprüfen sind.
2. Grundsätzlich ist dem, gegen den ein Ordnungsmittel festgesetzt werden soll, vorher rechtliches Gehör zu gewähren, Art. 103 Abs. 1 GG.
3. Die Verhängung von Ordnungsmitteln steht unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Oberlandesgericht Nürnberg
Ws 248/24
In dem Strafverfahren
gegen pp.
wegen Körperverletzung
hier: Beschwerde des Angeklagten gegen den (Ordnungshaft-) Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg
erlässt das Oberlandesgericht Nürnberg - Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 8. April 2024 folgenden
Beschluss
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird festgestellt, dass die mit Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 21.03.2024 angeordnete Ordnungshaft rechtswidrig war.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Gegen den Angeklagten fand im Strafverfahren wegen Körperverletzung (Az.: 403 Cs 258 Js 29634/23) am 21.03.2024 die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht - Strafrichter - Nürnberg statt. Im Sitzungsprotokoll von diesem Tage, Beginn war um 10:18 Uhr, ist Folgendes vermerkt:
„Der Angeklagte unterbrach durch Dazwischenreden die Aussage der Zeugin.
Der Angeklagte wurde vom Vorsitzenden wegen Dazwischenredens ermahnt. Ihm wurde angedroht, dass für jede weitere Unterbrechung oder ein sonstiges ungebührliches Verhalten während der Hauptverhandlung gegen ihn ein Ordnungsgeld von 300,00 € oder eine Ordnungshaft von drei Tagen verhängt werden wird.
Die Zeugin W. blieb gemäß § 59 Abs. 1 StPO unvereidigt und wurde im allseitigen Einverständnis um 11:02 Uhr entlassen.“
Dem Protokoll ist weiter zu entnehmen, dass die Hauptverhandlung um 11:36 Uhr unterbrochen und in Anwesenheit aller Beteiligter um 14:22 Uhr fortgesetzt wurde. Die Hauptverhandlung wurde um 14:31 Uhr ein weiteres Mal unterbrochen und um 14:50 Uhr fortgesetzt. Nach der Verkündung der Urteilsformel findet sich Folgendes im Protokoll:
„Der Richter wurde durch das Zwischenschreien des Angeklagten während der Urteilsverkündung unterbrochen. Es erging folgender
Beschluss
Gegen den Angeklagten wird eine Ordnungshaft von drei Tagen angeordnet, die sofort zu vollstrecken ist.
Gründe:
Trotz mehrfacher Ermahnung und vorheriger Androhung von Ordnungshaft schrie der Angeklagte während der Urteilsbegründung dazwischen (§ 178 Abs. 1 S. 1 GVG).
Rechtsmittelbelehrung wurde erteilt.“
Die Ordnungshaft wurde im Anschluss an die Hauptverhandlung vollstreckt. Der Angeklagte wurde am 24.03.2024 aus der Haft entlassen.
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 22.03.2024, eingegangen bei Gericht am 25.03.2024, legte der Angeklagte Beschwerde gegen den Beschluss vom 21.03.2024 ein.
Das Amtsgericht hat mit Verfügung vom 25.03.2024 der Beschwerde nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg hat beantragt, auf die Beschwerde des Angeklagten hin festzustellen, dass der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 21.03.2024 über die Anordnung der Ordnungshaft rechtswidrig war, und die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten in diesem Verfahren der Staatskasse aufzuerlegen. Das Gericht habe weder die angebliche Ungebühr ausreichend beschrieben, das „Dazwischenreden“ werde nicht näher dargelegt, noch sei dem Angeklagten vor der Verhängung des Ordnungsmittels rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gewährt worden. Die Hauptverhandlung habe eine Zäsur erfahren und eine erneute Androhung der Ordnungsmittel am Nachmittag habe nicht stattgefunden. Auch sei gegen den Angeklagten sogleich Ordnungshaft angeordnet worden.
II.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 21.03.2024 ist zulässig und als Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ordnungshaftbeschlusses auszulegen, und hat auch in der Sache Erfolg. Es ist festzustellen, dass die mit Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 21.03.2024 angeordnete Ordnungshaft offensichtlich rechtswidrig war.
1. Das Rechtsmittel ist zulässig.
a) Es liegt ein Ordnungsgeldbeschluss wegen Ungebühr (§ 178 Abs. 1 GVG) gegen den Angeklagten vor.
b) Die Beschwerde des Angeklagten wurde innerhalb der Wochenfrist des § 181 Abs. 1 GVG und damit fristgerecht eingelegt.
c) Der Zulässigkeit des Rechtsmittels steht nicht entgegen, dass vor Eingang der Beschwerde bei Gericht und somit vor einer Entscheidung über die Beschwerde der Angeklagte nach vollständiger Vollstreckung aus der Haft bereits entlassen wurde, denn die Vollstreckung macht die Beschwerde nicht gegenstandslos (OLG Celle, Beschluss vom 17. 1. 2012 - 1 Ws 504/11 -, BeckRS 2012, 2798, zitiert nach beck-online, m.w.N.). Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass im Falle einer nachträglichen Aufhebung des Ordnungshaftbeschlusses weder § 51 StGB noch § 2 StrEG zur Anwendung gelangen und insofern ein Interesse an der Feststellung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Maßnahme nicht verneint werden kann. Dieses Feststellungsinteresse im vorliegenden Fall ergibt sich auch aus verfassungsrechtlichen Gründen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfGE 96, 27 in NJW 1997, 2163) bleibt auch nach der Erledigung die Beschwerde zur Feststellung der Rechtswidrigkeit nach Art. 19 Abs. 4 GG zulässig, wenn Wiederholungsgefahr besteht oder das Interesse des Betroffenen an dieser Feststellung auch nach deren Erledigung fortbesteht. Dies gilt auch in Fällen tiefgreifender, in tatsächlicher Hinsicht jedoch nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe, falls sich die Belastung durch die Maßnahme nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung im Beschwerdeverfahren kaum erlangen kann. Ferner kommt das Feststellungsinteresse insbesondere bei Eingriffen in die persönliche Freiheit in Betracht; insoweit liegt dies nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung jedoch nur dann vor, wenn die persönliche Freiheit tatsächlich entzogen wurde (BVerfG [Kammer], NJW 2006, 40 [Beugehaft nach § 70 II StPO]; StraFo 2006, 20 [Untersuchungshaft]; NStZ-RR 2004, 252 [Vollstreckungshaftbefehl]; NJW 1999, 3773 [polizeilicher Platzverweis]). Deshalb bleibt das Rechtsmittel des Angeklagten trotz zwischenzeitlich eingetretener Erledigung mit dem Feststellungsbegehren zulässig, da die Ordnungshaft bereits vollstreckt wurde und der Angeklagte trotz Einlegung der Beschwerde keine Entscheidung des Beschwerdegerichts nach dem normalen Verlauf eines Beschwerdeverfahrens vor der Vollstreckung erreichen konnte.
2. In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg und es ist festzustellen, dass die mit Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 21.03.2024 angeordnete Ordnungshaft aus mehreren Gründen rechtswidrig war.
a) Die Rechtswidrigkeit ergibt sich bereits daraus, dass das Amtsgericht die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Ungebühr nicht gemäß § 182 GVG in der Weise protokolliert hat, dass das Beschwerdegericht die Berechtigung der verhängten Ordnungshaft zu überprüfen vermag.
aa) Nach § 182 GVG ist bei einem Ordnungsmittel wegen Ungebühr sowohl der darüber gefasste Beschluss wie auch dessen Veranlassung in das Protokoll aufzunehmen. Dabei muss der Sachverhalt so deutlich dargestellt werden, dass das Beschwerdegericht nachprüfen kann, ob eine Ungebühr vorlag. Die Niederschrift muss ein so deutliches Bild von dem Vorgang geben, dass der Grund und die Höhe der Sanktion in der Regel ohne weiteres nachzuprüfen sind. Wesentliche Lücken können nicht durch dienstliche Erklärungen oder sonstige Beweiserhebungen ausgefüllt werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., zu § 182 GVG Rn. 1 m.w.N.).
bb) Gemessen daran ist das Verhalten des Angeklagten, welches zur Anordnung des Ordnungsmittels führte, im Protokoll nicht ausreichend beschrieben. Aus der Begründung der angefochtenen Entscheidung ergibt sich, dass Ordnungshaft wegen „Dazwischenschreiens“ während der Urteilsverkündung trotz mehrfacher Ermahnung und vorheriger Androhung von Ordnungshaft verhängt wurde. Art und Umfang dieses „Dazwischenschreiens“ sind aber nicht protokolliert. Die fehlende Konkretisierung eines Dazwischenredens eines Betroffenen kann sich als wesentliche Lücke erweisen, wenn das Beschwerdegericht nicht mit hinreichender Sicherheit erkennen kann, ob der Angeklagte dabei in Ausübung berechtigter Interessen gehandelt hat, etwa um eine Pause zu beantragen oder einen prozessualen Antrag zu stellen, so dass in Betracht kommt, dass das „Dazwischenschreien“ im konkreten Fall keine Störung der Verhandlung durch ungebührliches Verhalten dargestellt hat (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 14.03.2013, 1 Ws 102/13). Nicht jede Unterbrechung der Verhandlung bzw. Unterbrechung der in der Verhandlung sprechenden Personen rechtfertigt Ordnungsmittel. Der Senat kann daher nicht beurteilen, ob durch das „Dazwischenschreien“ am Nachmittag eine Ungebühr im Sinne des § 178 GVG vorliegt und ob die verhängte Ordnungshaft in Höhe von drei Tagen eine angemessene Ahndung darstellt.
b) Zudem liegt eine Verletzung der Gewährung des rechtlichen Gehörs vor Erlass des Ordnungshaftbeschlusses vor, woraus sich ebenfalls die Rechtswidrigkeit der Anordnung ergibt, weil dem Angeklagten und seinem Verteidiger vor der Verhängung der Ordnungshaft wegen des „Dazwischenschreiens“ während der Urteilsverkündung kein rechtliches Gehör gewährt wurde.
aa) Grundsätzlich ist dem, gegen den ein Ordnungsmittel festgesetzt werden soll, vorher rechtliches Gehör zu gewähren, Art. 103 Abs. 1 GG. So muss ihm die Möglichkeit gewährt werden, eine Unmutsäußerung zu erläutern und sich gegebenenfalls zu entschuldigen (Kissel/Mayer/Mayer, 10. Aufl. 2021, GVG § 178 Rn. 45,zitiert nach beck-online). Eine Ausnahme kann dann gelten, wenn dem Gericht mit Rücksicht auf die Intensität oder die Art der Ungebühr eine solche Anhörung nicht zugemutet werden kann, wenn etwa mit weiteren Ausfällen des Täters gerechnet werden muss, wenn der Betroffene weiter tobt oder wegen seines (z.B. alkoholbedingten) Zustandes eine Verständigung nicht möglich ist, ebenso, wenn bei groben Beleidigungen der Ungebührwille außer Zweifel steht (Kissel/Mayer/Mayer, ebenda, § 178 Rn. 46). Auch ist eine Anhörung entbehrlich, wenn dem Betroffenen die Festsetzung schon vorher ausdrücklich angedroht oder gegen ihn wegen der gleichen Art von Ungebühr nach §§ 177, 178 GVG verfahren worden war (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 07.02.2018, 2 Ws 22/18). Auch der Verteidiger ist anzuhören (KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, GVG § 178 Rn. 7, zitiert nach beck-online). Die unterbliebene Anhörung kann nicht in der Beschwerdeinstanz nachgeholt werden, da die Festsetzung eines Ordnungsmittels auf der Bewertung des unmittelbaren Geschehens in der ersten Instanz beruht (Kissel/Mayer/Mayer, ebenda § 178 Rn. 47 und § 181 Rn. 17 m.w.N.), so dass eine Ausnahme nur dann in Betracht kommt, wenn der Beschwerdeführer ausdrücklich zu erkennen gibt, dass er die Nichtgewährung des Gehörs hinnimmt, insbesondere, wenn er nur die Höhe der Festsetzung rügt (Kissel/Mayer/Mayer, ebenda, § 181 Rn. 17).
bb) Nach diesen Grundsätzen liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor der Verhängung des Ordnungsmittels vor. Vorliegend ist weder dem Angeklagten noch seinem Verteidiger am Nachmittag vor Verhängung der Ordnungshaft rechtliches Gehör gewährt worden.
cc) Ein Fall, in dem die Gewährung rechtlichen Gehörs ausnahmsweise entbehrlich wäre, liegt nicht vor. Auch liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Amtsgericht mit Rücksicht auf die Intensität oder die Art der Ungebühr eine solche Anhörung nicht zugemutet werden konnte oder der Ungebührwille außer Zweifel stand. Im Übrigen würde dies in keinem Fall die Anhörung seines Verteidigers erübrigen (vgl. Krauß in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 178 GVG Rn 33, juris).
c) Auch wenn das ungebührliche Verhalten des Angeklagten nicht hinreichend dokumentiert ist, liegt es nahe, dass die Verhängung von Ordnungshaft vorliegend im Übrigen unverhältnismäßig war.
aa) Die Verhängung von Ordnungsmitteln steht unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Dabei fällt die Meinungsfreiheit und das Rechtsstaatsprinzip ins Gewicht, mit der Folge, dass es einerseits auf die subjektive Sichtweise des Betroffenen, andererseits darauf ankommt, ob das ungebührliche Verhalten den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in nicht unerheblichem Ausmaß stört. Die ergriffene Ordnungsmaßnahme muss zudem dem Anlass angemessen sein. Einer Sanktion kann entgegenstehen, dass die Verfahrensstörung eine Spontanreaktion auf ein zumindest aus Sicht des Betroffenen beanstandungswürdiges Fehlverhalten der prozessualen Gegenseite oder des Gerichts war; in einer solchen Situation kann es jedenfalls dann unverhältnismäßig sein, eine Ordungsmaßnahme zu ergreifen, wenn der Betroffene vorher nicht ermahnt worden ist (BVerfG NJW 2007, 2839).
bb) Im Übrigen liegt es auf der Hand, dass die Verhängung von Ordnungshaft wegen des „Dazwischenredens“ während der Urteilsbegründung unverhältnismäßig war.
Die Hauptverhandlung fand mit Unterbrechungen von 10:18 Uhr bis 15:45 Uhr statt. Dabei musste der Angeklagte am Vormittag wegen „Dazwischenredens“ bei einer Zeugenvernehmung ermahnt und Ordnungsmittel angedroht werden. Mit dem amtsgerichtlichen Urteil wurde gegen ihn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zwei Monaten verhängt, nachdem zuvor gegen ihn mit dem von ihm angefochtenen Strafbefehl vom 18.01.2023 eine Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 40 € verhängt worden war. Es ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass der Angeklagte deshalb erregt war. Zudem stand die Hauptverhandlung mit der mündlichen Urteilsbegründung vor ihrem unmittelbaren Abschluss, so dass eine Störung des weiteren Verfahrensganges nicht mehr zu befürchten war. Die Verhängung der Ordnungshaft war somit offensichtlich dem Anlass nicht angemessen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: Strafsenat des OLG Nürnberg
Anmerkung:
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