Gericht / Entscheidungsdatum: LG Braunschweig, Beschl. v. 09.04.2024 - 7 Ns 811 Js 66743/21 (27/23)
Eigener Leitsatz:
1. Nicht jede Hinzuziehung eines Sachverständigen begründet die Schwierigkeit einer Sachlage mit der Folge, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre.
2. Der Beiordnung eines Pflichtverteidigers steht nicht entgegen, wenn der bisherige Wahlverteidiger des Angeklagten im Berufungsverfahren erklärt hat, er würde eine gegenseitige Berufungsrücknahme befürworten, und die Staatsanwaltschaft daraufhin angekündigt hat, im Falle einer Berufungsrücknahme des Angeklagten die ihrerseits eingelegte Berufung ebenfalls zurückzunehmen.
Landgericht Braunschweig
Beschluss
7 Ns 811 Js 66743/21 (27/23)
09.04.2024
In der Strafsache
gegen pp.
wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens
wird dem Angeklagten Herr Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.
Gründe:
Die Schwierigkeit der Sachlage gebietet die Bestellung eines Pflichtverteidigers (§ 140 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO)).
Die Erhebung eines Sachverständigenbeweises ist für sich genommen nicht geeignet, stets eine Schwierigkeit der Sachlage zu begründen. Dies lässt sich indes nicht einzig darauf gründen, dass der Gesetzgeber die Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO aufgenommen habe, woraus sich ergebe, dass auch der Gesetzgeber nicht jede Beteiligung eines Sachverständigen als Grund für eine notwendige Pflichtverteidigung angesehen habe (so jedoch LG Hannover, Beschluss vom 05.09.2023 —63 Qs 38/23, juris). So ist auch allgemein anerkannt, dass in der Regel jede Straferwartung von (mindestens) einem Jahr Freiheitsstrafe Anlass zur Beiordnung geben soll (statt vieler: Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 140, Rn. 23a m. w. N.); gleichwohl hat der Gesetzgeber auch die Strafandrohung von einem Jahr Freiheitsstrafe nicht in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO aufgenommen.
Vielmehr sind, ebenso wie Konstellationen, in denen ohne die Hinzuziehung eines Sachverständigen die Schwierigkeit einer Sachlage denkbar ist, jedenfalls auch Konstellationen vorstellbar, in denen trotz der Hinzuziehung eines Sachverständigen keine das Maß einer Beiordnung begründende Schwierigkeit der Sachlage anzunehmen ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage aus der Sicht des konkreten Beschuldigten, nicht etwa aus derjenigen des Gerichts oder eines „durchschnittlichen" Beschuldigten in Verfahren dieser Art, zu beurteilen ist (vgl. Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2021, § 140, Rn. 82).
Vorliegend ergibt sich eine Schwierigkeit der Sachlage jedoch aus der gebotenen wertenden Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls.
Das Sachverständigengutachten stellt sich vorliegend nicht als einziges Beweismittel gegen den Angeklagten dar (vgl. hierzu LG Braunschweig, Beschluss vom 19.04.2017 — 3 Qs 37/17, juris). Es erweist sich jedoch, da nicht von einer organisierten Rennveranstaltung ausgegangen werden kann, als ganz wesentliches belastendes Beweismittel in Bezug auf die Annahme eines Kraftfahrzeugrennens i. S. d. § 315d Abs. 1 StPO. Insofern ist im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau auch ergänzend zu berücksichtigen, dass die mit sachverständiger Hilfe ermittelten tatsächlichen Vorfragen für die Subsumtion unter einen für einen Laien jedenfalls nicht ganz einfach nachvollziehbaren Tatbestand des materiellen Rechts entscheidend sind (zu dem insofern bestehenden engen Zusammenhang zur Schwierigkeit der Rechtslage auch Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2021, § 140, Rn. 90).
Der Sachverständige hat im Rahmen der Hauptverhandlung im ersten Rechtszug ein mündliches Gutachten erstattet, welches durch eine Skizze gestützt wird, ohne dass — nach Aktenlage — aus sich heraus unmittelbar erkennbar und für den Angeklagten, der über einen Hauptschulabschluss verfügt und im Einzelhandel tätig ist, mithin jedoch keine höhere Schulbildung vorweisen kann, ohne Weiteres nachvollziehbar wäre, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen und welcher Ermittlungsmethoden, insbesondere welcher etwaigen Messungen und Berechnungen, der Sachverständige zu den geschilderten Befundtatsachen gelangt.
Der Beiordnung eines Pflichtverteidigers steht vorliegend auch nicht entgegen, dass der bisherige Wahlverteidiger des Angeklagten erklärt hat, er würde eine gegenseitige Berufungsrücknahme befürworten, und die Staatsanwaltschaft daraufhin angekündigt hat, im Falle einer Berufungsrücknahme des Angeklagten die ihrerseits eingelegte Berufung ebenfalls zurückzunehmen. Insbesondere erfolgt die Beiordnung nicht im bloßen Kosteninteresse, wobei dies nach Ansicht der Kammer auch bereits kein taugliches Kriterium für das Absehen von einer Beiordnung darstellt.
Diesbezüglich ist bereits zu berücksichtigen, dass die Regelung in § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, nach der unter bestimmten Voraussetzungen von einer Beiordnung abgesehen werden kann, auf die vorliegende Beiordnung auf Antrag des Angeklagten keine Anwendung findet. Überdies besteht auch keine vergleichbare, gesetzlich nicht geregelte Konstellation. Die Berufungen sind bislang nicht zurückgenommen worden. Die Erklärung des Verteidigers entfaltet auch keinerlei Bindungswirkung. Die gegenwärtige Verfahrenslage ist daher nicht mit einer Situation vergleichbar, in der eine Verfahrensbeendigung mit hinreichender Sicherheit unmittelbar bevorsteht.
Unabhängig davon dürfte es dem Angeklagten sogar freistehen, in die hinsichtlich der Frage einer Berufungsrücknahme einzustellenden Zweckmäßigkeitserwägungen gerade auch Kostenerwägungen einzubeziehen. Diesbezüglich geht die Kammer auch davon aus, dass in der justiziellen Praxis sogar die ausdrücklich auf eine Kostengünstigkeit abstellende gerichtliche Anregung einer etwaigen Rechtsmittelrücknahme einen in geeignet erscheinenden Konstellationen häufig zu beobachtenden Regelfall darstellen dürfte.
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Einsender: RA M. Voß LL.M., Braunschweig
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