Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bochum, Beschl. v. 22.03.2024 - II-1 Qs-822 Js 722/22-10/24
Eigener Leitsatz:
Für die Frage der Erforderlichkeit der Mitwirkung eines Verteidigers in einem Strafverfahren genügt, dass ein Beweisverwertungsverbot nicht völlig fernliegend ist. Das kann der Fall sein, wenn eine im Rahmen des Zwischenverfahrens durchgeführten Wahllichtbildvorlage ggf. nicht den Anforderungen der Rechtsprechung entspricht.
II-1 Qs-822 Js 722/22-10/24
Landgericht Bochum
Beschluss
In dem Beschwerdeverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort
hier: sofortige Beschwerde der Angeklagten gegen die Ablehnung der Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Bochum auf die sofortige Beschwerde der Angeklagten vom 20.02.2024, bei dem Amtsgericht Bochum per EGVP-Versand eingegangen am selben Tage, gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bochum vom 14.02.2024 (32a Ds 358/23) durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht pp, den Richter am Landgericht pp. und den Richter pp. am 22.03.2024 nach Anhörung der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers beschlossen:
Der Beschluss des Amtsgerichts Bochum vom 14.02.2024 (32a Ds 822 Js 722/22 - 358/23) wird aufgehoben.
Der Angeklagten wird Rechtsanwalt pp. aus pp. mit Wirkung vom 14.02.2024 als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Bochum erließ - nachdem die Angeklagte zu dem auf diesen Tag anberaumten Hauptverhandlungstermin unentschuldigt nicht erschienen war - am 06.12.2023 gegen die Angeklagte einen Strafbefehl gemäß § 408a StPO wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs sowie wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr. Der Angeklagten wird mit der dem Strafbefehl zugrundeliegenden Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bochum vom 08.05.2023 (822 Js 722/22) im Wesentlichen zur Last gelegt, mit dem auf ihre Mutter - die Zeugin pp. - zugelassenen Audi A6 (amtliches Kennzeichen pp.) auf dem Parkplatz der Diskothek pp., Bochum, zwei Fahrzeuge bei einem Ausparkvorgang in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand beschädigt und sich anschließend unerlaubt vom Unfallort entfernt zu haben. Gegen den Strafbefehl legte die Angeklagte am 14.12.2023 über ihren Verteidiger, Rechtsanwalt pp. aus pp., der sich noch im Ermittlungsverfahren mit Schriftsatz vom 05.12.2022 als (Wahl-)Verteidiger der Angeklagten legitimiert hatte, Einspruch ein.
Zu dem seitens des Amtsgerichts Bochum auf den 14.02.2024 bestimmten neuerlichen Hauptverhandlungstermin erschien die Angeklagte wiederum unentschuldigt nicht. Ihr Verteidiger, der das Mandat bisher als Wahlverteidiger geführt hatte, beantragte in dem Hauptverhandlungstermin am 14.02.2024 (erstmals), der Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden.
Mit Beschluss vom 14.02.2024 hat das Amtsgericht Bochum den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO nicht vorlägen. Weder die Schwere der der Angeklagten zur Last gelegten Tat noch die „Kompliziertheit der Sach- und Rechtslage" ließen „eine Verteidigung durch die Angeklagte persönlich nicht zu".
Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit der durch Schriftsatz ihres Verteidigers vom 20.02.2024, beim Amtsgericht Bochum eingegangen per EGVP-Versand am selben Tage, erhobenen sofortigen Beschwerde. Zur Begründung der sofortigen Beschwerde lässt die Angeklagte im Wesentlichen ausführen, es liege ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor. Es bestünde möglicherweise ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der - im Rahmen des Zwischenverfahrens - durchgeführten Wahllichtbildvorlage. Diese entspreche nicht den Anforderungen der Rechtsprechung, da es sich alleine bei dem Lichtbild der Angeklagten um ein „biometrisches Passbild" gehandelt habe. Bei einem „Durchblättern der in der Akte befindlichen Wahllichtvorlage" hätten „sowohl das Gericht als auch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft unmittelbar" die Angeklagte „als mögliche Täterin" erkannt. Die Berufung auf ein solches Beweisverwertungsverbot sei der rechtsunkundigen Angeklagten kaum möglich. Es bedürfe zudem der Auseinandersetzung mit der Frage, ob ein „Berufen auf ein Beweisverwertungsverbot taktisch sinnvoll" sei. Hierfür sei es erforderlich, „Rücksprache mit einem Rechtsanwalt zu halten". Zudem könnten „die insoweit relevanten Rechtsfragen regelmäßig nur nach vollständiger Akteneinsicht beurteilt werden".
Das Amtsgericht hat die sofortige Beschwerde der Kammer mit Verfügung vom 21.02.2024 unmittelbar vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft Bochum, der nachfolgend seitens der Kammer mit Verfügung des Vorsitzenden vom 27.02.2024 rechtliches Gehör gewährt worden ist, hat unter dem 05.03.2024 beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde der Angeklagten hat auch in der Sache Erfolg.
Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO aufgrund der schwierigen Rechtslage vor. Diese ist dann gegeben, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 140 Rn. 28 m.w.N.). Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich die Frage aufdrängt, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 05.06.2020 - 1 Ws 228/20, BeckRS 2020, 42755; OLG Brandenburg, Beschluss vom 26.01.2009 - 1 Ws 7/09, NJW 2009, 1287; BeckOK-StPO/Krawczyk, 50. Edition (Stand: 01.01.2024), § 140 Rn. 35 m.w.N.). Maßgeblich ist insoweit nicht, ob tatsächlich von einem Beweisverwertungsverbot auszugehen ist. Für die Frage der Erforderlichkeit der Mitwirkung eines Verteidigers genügt, dass ein solches Verbot nicht völlig fernliegend ist (vgl. OLG Oldenburg, a.a.O.; LG Schwerin, Beschluss vom 05.03.2020 - 33 Qs 12/20, BeckRS 2020, 4785; LG Hannover, Beschluss vom 23.01.2017 - 70 Qs 6/17, BeckRS 2017, 101242; LG Köln, Beschluss vom 19.07.2016 - 108 Qs 31/16, BeckRS 2016, 16493).
Vorliegend besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass hinsichtlich der durchgeführten Wahllichtbildvorlage ein Beweisverwertungsverbot greifen könnte. Die Personen auf den Vergleichsbildern müssen in den wesentlichen Vergleichsmerkmalen des äußeren Erscheinungsbildes übereinstimmen. Nach Aktenlage dürfte die Wahllichtbildvorlage diesen Vorgaben nicht entsprechen, da sich die Aufnahme der Angeklagten von den sonst verwendeten Aufnahmen optisch abhebt. Das Lichtbild, welches die Angeklagte zeigt, ist - anders als die übrigen sieben Bilder - unscharf und gleichsam pixelig; es hebt sich bereits deshalb von den anderen, in der Wahllichtbildvorlage verwendeten Bildern deutlich ab. Die Verwendung von Aufnahmen einer Beschuldigten, die sich erheblich von denen der Vergleichspersonen unterscheiden, aber macht den Beweiswert der Wahllichtbildvorlage praktisch gänzlich zunichte (vgl. BeckOK-StPO/Gertler, a.a.O., RiStBV 18 Rn. 12 m.w.N.). Ob in rechtlicher Hinsicht tatsächlich auch ein Verwertungsverbot vorliegt, wenn die durchgeführte Wahllichtbildvorlage fehlerhaft war, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht durchgehend einheitlich beurteilt. So wird teilweise ein Verwertungsverbot im Falle einer fehlerhaft durchgeführten Wahllichtbildvorlage angenommen bzw. zumindest in Betracht gezogen (vgl. LG Schwerin, a.a.O.; Burhoff. Pflichtverteidiger bei Kampf um Beweisverwertungsverbot, StRR 2020, 26); andere Stimmen lehnen ein Verwertungsverbot dagegen ab (vgl. etwa LG Dortmund, Urteil vom 20.12.2018 - 32 KLs 33/18; kritisch Kuhn: Die Wahllichtbildvorlage, JA 2005, 141).
Vor diesem Hintergrund erscheint es jedenfalls nicht fernliegend, dass tatsächlich ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der durchgeführten Wahllichtbildvorlage in Betracht kommt. Jedenfalls aber wird der rechtsunkundigen Angeklagten eine Beurteilung der Beweiskraft der durchgeführten, möglicherweise fehlerhaften Wahllichtbildvorlage sowie der Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot gegeben ist -ebenso wenig wie eine etwaige prozessuale Geltendmachung eines solchen Verwertungsverbots - kaum möglich sein.
Nach alledem war der Angeklagten auf ihren Antrag vom 14.02.2024 - die Kammer legt den Antrag des Verteidigers dahingehend aus, dass dieser im Namen der Angeklagten gestellt wurde - Rechtsanwalt pp. aus pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen. Zwar trat Rechtsanwalt pp. als Wahlverteidiger der Angeklagten auf; jedoch ist regelmäßig im Antrag eines Wahlverteidigers auf Beiordnung die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung zu sehen (vgl. etwa LG Passau, Beschluss vom 26.01.2021 - 1 Qs 6/21, BeckRS 2021, 868).
Die Wirkung der Beiordnung war ab dem 14.02.2024 zu bestimmen. Denn zu einem früheren Zeitpunkt hatte die Angeklagte, die bis dahin durch den Wahlverteidiger verteidigt war, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht gestellt. Für eine Bestellung von Amts wegen zu einem früheren Zeitpunkt bestand trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des § 140 Abs. StPO - angesichts der Verteidigung durch einen Wahlverteidiger seit Dezember 2022 - kein Anlass. Ein mögliches Beweisverwertungsverbot und die Frage des Beweiswerts der durchgeführten Wahllichtbildvorlage sowie die damit verbundene schwierige Rechtslage im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO ergaben sich erst nach Durchführung der Wahllichtbildvorlage mit der Zeugin pp. am 15.09.2023. Die Mandatierung des Wahlverteidigers erfolgte bereits im Dezember 2022.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 StPO.
Einsender: RA Dr. R. Bleicher, Dortmund
Anmerkung:
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