Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.03.2024 - 2 Ws 56/24
Eigener Leitsatz:
Allein die (theoretische) Möglichkeit einer „Präparierung" oder ggf. auch unbewussten Beeinflussung des Verletzten und seiner Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht, auf die der Nebenkläger gemäß § 406e Abs. 1 StPO grundsätzlich einen Anspruch hat, nicht aus.
2 Ws 56/24
Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt
wegen Vergewaltigung
hier: Beschwerde des Pflichtverteidigers
hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 2. Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 19. März 2024 beschlossen:
Die Beschwerde des Angeschuldigten gegen die Verfügung des Vorsitzenden der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Freiburg vom 24. Januar 2024 wird aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet werden, kostenpflichtig (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO) als unbegründet zurückgewiesen.
Gründe:
Am 24.10.2022 erhob die Staatsanwaltschaft Freiburg gegen den Angeschuldigten wegen Vergewaltigung in fünf Fällen zum Nachteil seiner geschiedenen Ehefrau Anklage zum Landgericht -Strafkammer - Freiburg. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens wurde noch nicht entschieden.
Bereits vor Anklageerhebung hatte Rechtsanwältin pp., die der Geschädigten pp. mit Beschluss des Amtsgerichts Freiburg vom 19.10.2020 gemäß §§ 395 Abs. 1 Nr. 1, 397a Abs. 1 Nr. 1, 406 h Abs. 1 und 3 StPO als Beistand bestellt worden war, bei der Staatsanwaltschaft Einsicht in die Ermittlungsakten beantragt und - soweit ersichtlich ohne vorherige Anhörung des Beschuldigten - auch erhalten. Nachdem die Geschädigte am 11.10.2021 erneut im Wege einer audiovisuellen richterlichen Vernehmung, in Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligten, vernommen worden war, erhielt Rechtsanwältin Rauf ihren Antrag hin am 25.01.2022 ergänzende Akteneinsicht. Schließlich wurde Rechtsanwältin pp. am 22.08.2022 ein Doppel des aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen pp. zur Verfügung gestellt.
Nach Anklageerhebung am 24.10.2022 erklärte Rechtsanwältin pp. dass sich die Geschädigte dem Strafverfahren als Nebenklägerin anschließe und beantragte die Zulassung der Nebenklage unter ihrer Beiordnung. Die Nebenklage-Zulassung und Beiordnung von Rechtsanwältin pp. als Beistand gemäß § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO erfolgte - nach Anhörung der Beteiligten - mit Beschluss der zum damaligen Zeitpunkt zuständigen 3. Großen Strafkammer vom 08.12.2022.
Am 25.09.2023 zeigte Rechtsanwältin pp. die Vertretung der Nebenklägerin pp. an und beantragte - nach Rücksprache mit Rechtsanwältin pp. und im Einverständnis mit der Mandantin - ihre „kostenneutrale Beiordnung anstelle von Rechtsanwältin pp. Zugleich beantragte sie, ihr kurzfristig Akteneinsicht zu gewähren unter gleichzeitiger anwaltlicher Versicherung, dass sie ihrer Mandantin keine Kenntnis vom Akteninhalt, insbesondere bezogen auf ihre Vernehmungen, vermitteln werde. Der Verteidiger des Angeschuldigten erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme und trat mit Schriftsatz vom 14.11.2023 der Gewährung von Akteneinsicht an Rechtsanwältin MO. mit näherer Begründung entgegen. Bei der gegebenen Aussage-gegen-Aussage-Konstellation sei bei Gewährung von Akteneinsicht der Untersuchungszweck gefährdet.
Mit Verfügung des Vorsitzenden vom 24.01.2024 wurde Rechtsanwältin pp. unter gleichzeitiger Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwältin pp. als Beistand der Nebenklägerin bestellt. Zugleich wurde bestimmt, dass Rechtsanwältin pp. Einsicht in die Hauptaktenbände (Bände I bis IV - ohne Datenträger AS 1019 und AS 1023 aus Band II und ohne Datenträger AS 221 und AS 241 aus Band III), in den Sonderband „Aussagepsychologisches Gutachten über pp.. in den Sonderband ,,Anregungen und Beschlüsse" und den Sonderband XIII aus dem Leitzordner „Sonderbände II" gewährt werde, wobei die Vollziehung der gewährten Akteneinsicht bis zum 07.02.2024 sowie, für den Fall der Anfechtung innerhalb dieser Frist, bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichts ausgesetzt wurde.
Hiergegen richtet sich die mit Schriftsatz des Verteidigers vom 31.01.2024 eingelegte Beschwerde des Angeschuldigten, der der Vorsitzende nicht abgeholfen und auf deren Verwerfung als un-begründet die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe angetragen hat. Rechtsanwältin Minhat hierzu mit Schriftsatz vom 28.02.2024 Stellung genommen und erneut anwaltlich versichert, ihrer Mandantin keine Aktenkenntnis weiterzugeben.
II.
1. Die Beschwerde des Angeschuldigten ist zulässig, insbesondere gemäß §§ 304 Abs. 1, 406e Abs. 4 S. 4 StPO - die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen abgeschlossen und Anklage erhoben - statthaft (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 06.07.2020 - 1 Ws 81/20,-, BeckRS 2020, 17128; KG, Beschluss vom 10.05.2021 - 5 Ws 85/21 - 161 AR 62/21 -, BeckRS 2021, 55985; Senat, Beschluss vom 05.02.2021 - 2 Ws 27/21 -, juris; BeckOK/Weiner, StPO, 50. Ed. Stand 01.01.2024, § 406e StPO Rn. 19).
2. In der Sache erweist sich die Beschwerde des Angeschuldigten indes als unbegründet.
a) Auch wenn dem Vorsitzenden bei seiner Entscheidung darüber, ob einem Akteneinsichtsbegehren § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO entgegensteht, ein weiter Ermessensspielraum zusteht (BGH NJW 2005, 1519; OLG Schleswig StraFo 2016, 157), ist der Senat nicht auf eine Prüfung der angefochtenen Entscheidung auf Ermessensfehler beschränkt. Vielmehr hat er - mangels abweichender gesetzlicher Regelung - gemäß § 309 Abs. 2 StPO als Beschwerdegericht selbst die in der Sache gebotene Entscheidung zu treffen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 309 Rn. 4; KK-Zabeck, StPO, 9. Aufl., § 309 Rn. 6).
b) Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks ist zwar auch dann anzunehmen, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihm noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte (BT-Drs. 10/5305 S. 18).
Allerdings ist auch in Verfahrenskonstellationen, in denen der Aussage des Verletzten für die Wahrheitsfindung besondere Bedeutung zukommt - namentlich wenn allein seine Aussage gegen die des Beschuldigten steht oder sich dieser nicht zur Sache einlässt - nicht generell davon aus-zugehen, dass eine Beeinflussung der Aussage durch die Gewährung von Akteneinsicht zu be-sorgen ist. Vielmehr ist auch dann eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls geboten (BGH NStZ 2016, 367). Allein die (theoretische) Möglichkeit einer „Präparierung" oder ggf. auch unbewussten Beeinflussung des Verletzten und seiner Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht, auf die der Nebenkläger gemäß § 406e Abs. 1 StPO grundsätzlich einen Anspruch hat, nicht aus (KG a.a.O.; OLG Brandenburg, a.a.O.).
Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die Nebenklägerin bereits polizeilich und richterlich, in Anwesenheit der ihr damals beigeordneten Rechtsanwältin, vernommen wurde und dass dieser bereits umfassend Akteneinsicht seitens der Staatsanwaltschaft gewährt worden war. Die Sachverständige hat in ihrem vorläufigen schriftlichen Gutachten nach sorgfältiger Aussageanalyse keinerlei Anhalte für eine suggestive Beeinflussung der Nebenklägerin ermitteln können. Eine nachträgliche Beeinflussung der Zeugin durch Vermittlung von Aktenkenntnis oder gar durch die ihr nunmehr beigeordnete Rechtsanwältin selbst erscheint fernliegend. Der Senat hält im Übrigen an seiner Auffassung fest, dass jedenfalls die anwaltliche Zusicherung der mit der Akteneinsicht betrauten Rechtsanwältin, keinerlei Aktenkenntnis an die Nebenklägerin weiterzugeben, geeignet ist, eine Beeinflussung der Aussage der Verletzten und damit eine Gefährdung des Untersuchungs-zwecks auszuschließen (vgl. Senat, Beschluss vom 05.02.2021, a.a.O.). Eine entsprechende Zusicherung hat Rechtsanwältin pp. vorliegend abgegeben.
Einsender: RA P. Rinklin, Freiburg
Anmerkung:
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