Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 26.03.2024 – 7 Ws 45/24
Leitsatz des Gerichts:
1. Die Voraussetzung, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist, kann bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eher als erfüllt angesehen werden, als dies sonst der Fall ist.
2. Zur Komplexität der Rechtslage bezüglich des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes.
In pp.
Auf die sofortige Beschwerde der Angeklagten wird die Anordnung des Vorsitzenden des Landgerichts Gießen - 8. kleine Strafkammer - vom 9. Februar 2024 aufgehoben.
Der Angeklagten wird Rechtsanwalt A, Stadt1, als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen der Beschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Mit Urteil des Amtsgerichts Gießen vom 8. November 2023 [Az. 505 Ds - 404 Js 20722/22 (154/23)] wurde die Angeklagte wegen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und in Tateinheit mit Körperverletzung mit einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen und 60 € belegt.
Für die erstinstanzlich anwaltlich nicht vertretene Angeklagte hat Rechtsanwalt A mit am selben Tag beim Amtsgericht eingegangen Schriftsatz vom 13. November 2023 angezeigt, die Angeklagte nunmehr zu vertreten, zugleich Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Gießen vom 8. November 2023 eingelegt und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Den Antrag auf Beiordnung hat der Verteidiger unter Hinweis auf § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO damit begründet, dass die Angeklagte ein Flüchtling aus der Ukraine und der deutschen Sprache nicht mächtig sei. Außerdem sei aufgrund des Verfahrens der ersten Instanz offensichtlich, dass sie sich nicht selbst verteidigen könne.
Die Staatsanwaltschaft hat mit Datum vom 24. Januar 2024 beantragt, den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zurückzuweisen. Die Angeklagte sei nicht sprachbehindert im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO und die Verständigung könne durch einen Dolmetscher sichergestellt werden; auch andere Gründe im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO seien nicht gegeben.
Ergänzend hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 30. Januar 2024 vorgetragen, dass die Angeklagte die Ausführungen im Urteil trotz Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht habe nachvollziehen können. Zudem sei - bei der gegebenen schwierigen Sachlage - für eine aussichtsreiche Verteidigung Aktenkenntnis erforderlich, um eventuelle Widersprüche in den Angaben der Belastungszeugen aufzudecken. Alle zu erwartenden Zeugen sowie Geschädigten seien Polizeibeamte und weitere Beweismittel seien nicht ersichtlich.
Mit der angegriffenen Anordnung vom 9. Februar 2024 hat der Vorsitzende den Antrag auf die Beiordnung von Rechtsanwalt A zurückgewiesen. Zur Begründung führt der Vorsitzende aus, dass kein Fall des § 140 Abs. 1 StPO vorliege, insbesondere stelle die fehlende Beherrschung der deutschen Sprache keine Sprachbehinderung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO dar. Auch ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO sei nicht gegeben. Die Beweissituation sei nicht komplex, vielmehr habe das Amtsgericht die Verurteilung auf die Aussagen von zwei Polizeibeamten, deren Angaben inhaltlich voll miteinander übereinstimmten, gestützt. Auch mit der Notwendigkeit der Akteneinsicht durch einen Verteidiger könne der Antrag nicht begründet werden. Eine Akteneinsicht durch einen Verteidiger sei zur sachgerechten Verteidigung nur dann erforderlich, wenn die Beweissituation ungewöhnliche Besonderheiten aufweise, wenn etwa ein zentraler Zeuge seine Aussage wiederholt geändert habe oder, wenn widersprüchliche Angaben wichtiger Belastungszeugen vorliegen würden. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Vielmehr hätten die Zeugen das Tatgeschehen konstant und widerspruchsfrei geschildert. Schließlich sei auch nicht zu erkennen, weshalb die Angeklagte nicht fähig sei, sich selbst zu verteidigen. Sofern wegen mangelnder Beherrschung der deutschen Sprache Verständigungsschwierigkeiten bestünden, so rechtfertige dies eine Pflichtverteidigerbestellung nur dann, wenn die Mitwirkung eines Dolmetschers nicht ausreiche, um das Kommunikationsdefizit auszugleichen. Weshalb die Angeklagte die Ausführungen des angefochtenen Urteils auch unter Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht habe nachvollziehen können, sei für die Kammer nicht nachvollziehbar. Der Sachverhalt sei einfach gelagert und verhältnismäßig übersichtlich, weshalb sich die Beweiswürdigung auf die Wiedergabe und Bewertung von zwei Zeugenaussagen beschränke.
Gegen diese dem Verteidiger der Angeklagten am 19. Februar 2024 zugestellte Anordnung hat er mit Schriftsatz vom 25. Februar 2024, beim Landgericht Gießen am selben Tag eingegangen, namens der Angeklagten Beschwerde eingelegt. Ergänzend trägt er insbesondere vor, dass der Sachverhalt sich nicht als klar darstelle, da sowohl das Amts- als auch das Landgericht verkannt hätten, dass die erste körperliche Gewalt von den Polizeibeamten ausgegangen sei. Außerdem hätten sie nicht in Erwägung gezogen, dass sich die Angeklagte möglicherweise während der gesamten Tathandlung im Recht wähnte. So dürften in der Ukraine nicht nur Polizeieinsätze uneingeschränkt gefilmt werden, sondern diese Aufnahmen auch von den Gerichten als Beweismittel verwendet werden. Die Angeklagte habe ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht bereits bekundet, dass sie nicht gewusst habe, dass sie nicht habe filmen dürfen. Damit habe sich die Angeklagte möglicherweise in einem Rechtfertigungsirrtum befunden.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 12. März 2024 die Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und die Beiordnung von Rechtsanwalt A als Pflichtverteidiger beantragt.
II.
Die von dem Verteidiger namens der Angeklagten eingelegte Beschwerde, welche - wie sich im Wege der Auslegung ergibt (vgl. § 300 StPO) - als das einzig statthafte Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu qualifizieren ist (vgl. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO), ist gemäß §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig.
Die zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO vor. Dementsprechend hatte der Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO die Beiordnung von Rechtsanwalt A, den die Angeklagte selbst als Verteidiger bestimmt hat, auszusprechen.
Die Notwendigkeit einer Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO beurteilt der Vorsitzende zwar nach pflichtgemäßen Ermessen. Diesem Ermessen sind jedoch durch die überprüfbaren Rechtsbegriffe der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage Grenzen gesetzt (Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Auflage, § 140 Rn 22) und unterliegt insoweit der vollständigen Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (vgl. BeckOK StPO-Krawczk, 50. Edition, Stand: 1. Januar 2024, § 140 Rn 22).
Für die hier relevante Frage, ob eine schwierige Sach- bzw. Rechtslage vorliegt, hat der Vorsitzende einen zu engen Maßstab angelegt. Zwar geht der Vorsitzende zutreffend davon aus, dass das Fehlen ausreichender Sprachkenntnisse kein Fall der Sprachbehinderung im Sinne von § 140 Abs. S. 1 Nr. 11 StPO darstellt. Gleichwohl ist die Herkunft der Angeklagten sowie der ihr (noch) fehlende Einblick in das deutsche Rechtssystem (vgl. hierzu BeckOK StPO-Krawczyk, 50. Edition, Stand: 1. Januar 2024, § 140 Rn 47) sowie die Sprachbarriere im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen. Die sprachbedingten Verständnisschwierigkeiten können nämlich dazu führen, dass die Voraussetzungen, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers notwendig wird, eher als erfüllt angesehen werden müssen, als dies sonst der Fall ist (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 17. Mai 1983 - 2 BvR 731/80 = NJW 1983, 2762, 2764).
Jedenfalls die bei der Angeklagten bestehende Sprachbarriere führt vorliegend dazu, dass die rechtlich komplexe Fragestellung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigt. Einer Auseinandersetzung mit den vorliegend aufgeworfenen schwierigen rechtlichen Fragestellungen ist die Angeklagte nämlich zumindest aufgrund der Sprachbarriere nicht gewachsen. Es steht zu befürchten, dass der Einsatz eines Dolmetschers allein nicht Abhilfe schaffen kann (vgl. hierzu BeckOK StPO-Krawczyk, a.a.O., § 140 Rn 46).
Soweit es die Komplexität des vorliegenden Sachverhalts betrifft, hat der Vorsitzende allein auf die Sach- und Beweislage abgestellt. Für die Beurteilung der Strafbarkeit der Angeklagten wird gemäß § 114 Abs. 3 i.V.m. § 113 Abs. 3 S. 1 StGB aber auch die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung entscheidend sein. Unter Berücksichtigung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs im Sinne von § 114 Abs. 3 i.V.m. § 113 Abs. 3 S. 1 StGB kommt es zwar nur auf die formelle Rechtmäßigkeit und nicht auf die materielle Richtigkeit der Diensthandlung an. Aber auch diese formelle Rechtmäßigkeit ist nur gegeben, wenn für die Vollstreckungshandlung eine gesetzliche Eingriffsgrundlage gegeben ist, die Polizeibeamten also berechtigt waren, der Angeklagten - unter Einsatz körperlicher Gewalt - das von dieser zum Filmen eingesetzte Smartphone wegzunehmen. Eine Eingriffsgrundlage für polizeiliche Handlungen kommt aus strafprozessualen Gründen oder aus Gründen der Gefahrenabwehr in Betracht, weshalb letztlich entscheidend sein wird, ob die Angeklagte zum Filmen des Polizeieinsatzes berechtigt war. Ob bzw. in welchen Situationen das Filmen eines Polizeieinsatzes erlaubt oder dies gemäß § 33 i.V.m. §§ 22, 23 KUG und nach § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar ist, ist - wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 12. März 2024 ausführlich dargestellt hat - in Rechtsprechung und Literatur umstritten (siehe hierzu auch LG Hanau, Beschluss vom 20. April 2023 - 1 Qs 23/22 Rn 10 m.w.N.; Ullenboom, NJW 2019, 3108 ff. [bezogen insbesondere auf die Situation einer Demonstration]).
Eine weitere rechtlich anspruchsvolle und vom Amtsgericht nicht vorgenommene Prüfung, bezieht sich auf das Vorliegen eines Verbotsirrtums im Sinne von § 114 Abs. 3 i.V.m. § 113 Abs. 4 StGB. Diese Prüfung liegt nahe, hat doch bereits die Angeklagte ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 8. November 2023 eingewandt, entsprechend den Gegebenheiten in ihrem Heimatland davon ausgegangen zu sein, zum Filmen des Polizeieinsatzes berechtigt gewesen zu sein, was nunmehr auch vom Verteidiger im Beschwerdeverfahren vorgebracht und näher ausgeführt wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.
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