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Entscheidungen

StPO

Auslegung eines Rechtsmittels, Fertigstellung des Protokolls, Wirksamkeit der Zustellung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 18.10.2023 – 7 ORs 37/23

Eigener Leitsatz:

1. Das gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO angerufene Revisionsgericht hat auch zu prüfen, ob das Rechtsmittel überhaupt als Revision anzusehen ist. Eine Auslegung der Rechtsmittelerklärung ist veranlasst, wenn mehrere Rechtsmittel zulässig sind und unklar bleibt, welches eingelegt werden soll. Das Rechtsmittel ist so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreichbar ist; im Zweifel gilt das Rechtsmittel als eingelegt, das die umfassendere Nachprüfung erlaubt.
2. Eine wirksame Zustellung eines Urteils setzt gemäß der zwingenden Verfahrensvorschrift des § 273 Abs. 4 StPO die vorherige Fertigstellung des Protokolls voraus. Gleichwohl kann ein Rechtsmittel bereits zuvor wirksam eingelegt werden. Allerdings steht es dem Angeklagten frei, innerhalb der mit der wirksamen Zustellung des Urteils in Gang gesetzten Rechtsmittelfrist einen Wechsel in der Art des Rechtsmittels zu erklären.


In pp.

Auf den Antrag des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Hanau vom 9. August 2023 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbehelfs - an das Amtsgericht Hanau zurückgegeben. Das Rechtsmittel des Angeklagten ist als Berufung zu behandeln.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Hanau erließ gegen den Angeklagten unter dem 25. Mai 2022 einen Strafbefehl, mit welchem er wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 30 € verurteilt wurde. Zu der auf seinen form- und fristgerecht eingelegten Einspruch anberaumten Hauptverhandlung am 25. Juli 2022 erschien der Angeklagte nicht. Nachdem dem Angeklagten nach Vorlage eines ärztlichen Attests mit Beschluss des Amtsgerichts Hanau vom 2. August 2022 von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden war, wurde ein neuer Hauptverhandlungstermin zunächst für den 19. September 2022 und nach erneuter Vorlage eines ärztlichen Attests ein solcher für den 24. April 2023 anberaumt. Bereits mit der Ladung wurde der Angeklagte darauf hingewiesen, dass das zuletzt übersandte ärztliche Attest keinen ausreichenden Entschuldigungsgrund für ein etwaiges Nichterscheinen für den zuletzt anberaumten Termin darstellt.

Am Morgen des 24. April 2023 teilte der Angeklagte per E-Mail mit, aufgrund einer mentalen Dysfunktion und Überbelastung, wie dies mehrfach bereits durch einen Arzt festgestellt worden sei, nicht zur Hauptverhandlung erscheinen zu können. Nachdem der Angeklagte entsprechend seiner Ankündigung zur Hauptverhandlung nicht erschienen war, verwarf das Amtsgericht den Einspruch gegen den Strafbefehl. Dieses Verwerfungsurteil vom 24. April 2023 wurde dem Angeklagten am 17. Juni 2023 zugestellt.

Hiergegen legte der Angeklagte mit dem bei den Justizbehörden am 22. Juni 2023 eingegangenen Schreiben vom 21. Juni 2023 „der Ordnung halber, um Ihre rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen und gleichsam keine Fristen zu versäumen […] Revision“ ein. Das Amtsgericht hat das Rechtsmittel als Sprungrevision gemäß § 335 Abs. 1 StPO gewertet und nach Anhörung des Angeklagten die Revision nach Ablauf der in § 345 Abs. 1 StPO vorgesehenen Revisionsbegründungsfrist mit Beschluss vom 9. August 2023 als unzulässig verworfen. Auf die dem Angeklagten vor der Verwerfung eingeräumte Gelegenheit zur Stellungnahme teilte er mit einem offenkundig fehlerhaft auf den 6. Juni 2023 datierten Schreiben, das am 8. August 2023 bei den Justizbehörden Hanau einging, abermals mit, ausweislich ärztlicher Befundberichte, die er gegebenenfalls übersenden könnte, unter einer „nicht unerheblichen mentalen Belastung“ zu leiden.

Gegen diesen Beschluss vom 9. August 2023 legte der Angeklagte nach Zustellung desselben am 12. August 2023 mit Schreiben vom 15. August 2023 „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ ein; dieses Schreiben ging bei den Justizbehörden Hanau am 16. August 2023 ein.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 20. September 2023 beantragt, den Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts zu verwerfen.

II.

Der von dem Angeklagten eingelegte „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ ist gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO auszulegen, da es sich hierbei um den alleinigen statthaften Rechtsbehelf gegen den angefochtenen Beschluss handelt.

Der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Das gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO angerufene Revisionsgericht hat die Zulässigkeit der Revision in umfassender Weise zu prüfen. Diese Prüfung umfasst auch die - vorgelagerte - Frage, ob das Rechtsmittel überhaupt als Revision bzw. hier als Sprungrevision oder als Berufung anzusehen ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 7. Dezember 2017 - 6 Rv 34 Ss 555/17 = BeckRS 2017, 138934 Rn 10 m.w.N.; OLG Nürnberg, Beschluss vom 27. April 2010 - 1 St OLG Ss 39/10 = BeckRS 2010, 26965), mithin eine Verwerfung der Revision aufgrund der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist in Betracht kommt und eine Entscheidungszuständigkeit des Senats nach § 346 Abs. 2 S. 1 StPO überhaupt eröffnet ist.

1. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts ergibt sich im Wege der Auslegung, dass das von dem Angeklagten eingelegte Rechtsmittel nicht als Sprungrevision, sondern als Berufung zu qualifizieren ist.

Eine Auslegung der Rechtsmittelerklärung ist veranlasst, wenn mehrere Rechtsmittel zulässig sind und unklar bleibt, welches eingelegt werden soll. Maßgebend sind der Gesamtinhalt der Verfahrenserklärungen und die Erklärungsumstände, wobei - aus Gründen der Rechtssicherheit - nur diejenigen maßgeblich sind, die innerhalb der für die Einlegung des Rechtsmittels geltenden Frist erkennbar geworden sind (vgl. Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 27. September 1973 - GSSt 1/73 = BayObLGSt 1973, 146; Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Auflage 2023, § 300 Rn 3; anders wohl OLG Nürnberg, Beschluss vom 27. April 2010 - 1 St OLG Ss 39/10, a.a.O., das auch die vom Angeklagten eingereichte „Revisionsbegründungsschrift“ in die Auslegung einbezieht). Bei der Beurteilung, ob und inwieweit eine Erklärung der Auslegung oder Umdeutung zugänglich ist, können die (erwarteten oder fehlenden) Rechtskenntnisse des Äußernden von Bedeutung sein. Erklärungen eines nicht verteidigten Beschuldigten sind daher regelmäßig auch entgegen juristischer Fachbezeichnungen einer Auslegung oder Umdeutung zugänglich (MüKo-Allgayer StPO, 2016, § 300 Rn 9 m.w.N.). Das Rechtsmittel ist so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreichbar ist; im Zweifel gilt das Rechtsmittel als eingelegt, das die umfassendere Nachprüfung erlaubt (OLG Stuttgart, Beschluss vom 7. Dezember 2017- 6 Rv 345 Ss 555/17, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 300 Rn 3) und mit den geringeren Begründungsanforderungen verbunden ist (OLG Nürnberg, Beschluss vom 27. April 2010 - 1 St OLG Ss 39/10, a.a.O.).

Daran gemessen ist der Angeklagte nicht an dem von ihm gewählten Wortlaut „Revision“ in seiner Rechtsmittelschrift vom 21. Juni 2023 festzuhalten. Die in diesem Schreiben verwendete Formulierung, dass er „der Ordnung halber, um Ihre rechtliche Voraussetzungen zu erfüllen und gleichsam keine Fristen zu versäumen“ dieses Rechtsmittel wählte, lässt erkennen, dass es sich bei dem Angeklagten um einen rechtlichen Laien handelt, weshalb im Rahmen der Auslegung des Rechtsmittels ein großzügigerer Maßstab anzulegen ist. Da der Angeklagte bis zur Hauptverhandlung am 24. April 2023 - trotz dem entsprechenden Hinweis in der Ladung - kein ärztliches Attest mehr vorgelegt hat, das als ausreichende Entschuldigung für das Nichterscheinen hätte gewertet werden können, müsste er bei einer Behandlung des Rechtsmittels als Revision, das auf die Überprüfung von Rechtsfehlern beschränkt ist, von vornherein damit rechnen, dass diesem der Erfolg versagt bleibt. Ein solches Rechtsmittel würde ein Rechtsmittelführer vernünftigerweise nicht wählen, wenn ihm die Möglichkeit offensteht, noch nicht vorgelegte Unterlagen, die die Verhandlungs- oder Reiseunfähigkeit im Zeitpunkt der versäumten Hauptverhandlung bescheinigen, noch vorlegen zu können, wie dies eben im Rahmen eines Berufungsverfahrens der Fall ist (vgl. hierzu KK-Maur StPO, 9. Auflage 2023, § 412 Rn 18 ff., 22 ff.).

2. Das als Berufung zu qualifizierende Rechtsmittel gegen das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Hanau vom 24. April 2023 ist auch bereits wirksam eingelegt, obschon dieses Urteil bislang nicht wirksam zugestellt und damit die Rechtsmittelfrist noch nicht in Gang gesetzt wurde.

Eine wirksame Zustellung eines Urteils setzt gemäß der zwingenden Verfahrensvorschrift des § 273 Abs. 4 StPO die vorherige Fertigstellung des Protokolls voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2013 - 4 StR 246/12 = NStZ 2014, 420, 41; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 273 Rn 34). Die Fertigstellung des Protokolls erfolgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Zeitpunkt, zu dem die letzte der für die Beurkundung des gesamten Protokollinhalts erforderlichen Unterschriften geleistet wurde (BGH Beschluss vom 13. Februar 2013 - 4 StR 246/12, a.a.O., m.w.N.). Der Tag der Fertigstellung muss nach § 271 Abs. 1 S. 2 StPO im Protokoll vermerkt oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht werden. Das in der Praxis übliche Vorgehen, den Fertigstellungstag unter dem Protokoll anzubringen, war ausweislich des in dem Protokoll enthaltenen Passus „Das Protokoll wurde fertiggestellt am:“, auch im vorliegenden Fall angelegt. Allerdings fehlt es an dieser Stelle an einer Eintragung des maßgeblichen Datums, das sich auch nicht aus anderen Umständen ergibt, wie etwa dem ausdrücklich in § 271 Abs. 1 S. 2 StPO vorgesehenen Vermerk oder auch der Übersendung des Protokolls an den Angeklagten (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 15. September 1969 - AnwSt (B) 2/69 = NJW 1970, 105 f.). Eine Anfertigung eines Vermerks betreffend den Zeitpunkt der Fertigstellung im Wege einer dienstlichen Stellungnahme der Vorsitzenden und der Protokollführerin ist aus Gründen der Rechtssicherheit nach der bereits tatsächlich erfolgten Zustellung nicht mehr möglich, um Unsicherheiten über die Wirksamkeit der Zustellung des Urteils und den hiervon abhängigen Fristenlauf zu verhindern; in diesem Fall muss die Zustellung - nachdem die Fertigstellung aktenkundig gemacht wurde - erneut veranlasst werden.

Die bislang fehlende Zustellung des Urteils steht der Zulässigkeit des Rechtsmittels indes nicht entgegen. Ein Rechtsmittel kann eingelegt werden, wenn und sobald die angefochtene Entscheidung ergangen ist; nicht erforderlich ist, dass der Rechtsmittelführer Kenntnis von dem Erlass der Entscheidung hatte (vgl. BeckOK-Cirener StPO, 49. Edition, Stand: 1. Oktober 2023, § 296 Rn 5). Allerdings steht es dem Angeklagten frei, nach der wirksamen Zustellung des Verwerfungsurteils vom 24. April 2023 und der damit (erstmals) in Gang gesetzten Rechtsmittelfrist, einen Wechsel von dem Rechtsmittel der Berufung hin zu dem Rechtsmittel der Revision zu erklären (vgl. LG Freiburg, Beschluss vom 3. März 2021 - 2/20 7 Ns 680 Js 39626/15). Hiervon wäre - aus den oben dargelegten Gründen - indes nur im Falle einer zweifelsfreien Erklärung auszugehen, wobei dem Angeklagten bewusst sein muss, dass - anders als im Falle der Berufung - eine Revision binnen Monatsfrist nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels zu begründen ist und dies nur durch eigene Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle bzw. einen von einem Rechtsanwalt einzureichenden Schriftsatz geschehen kann (vgl. § 345 Abs. 1 StPO).


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