Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 05.03.2024 - 511 Qs 5 u. 10/24
Eigener Leitsatz:
Der Gegenstandswert für die Einziehung richtet sich nach dem objektiven wirtschaftlichen Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Anordnung. Es kommt weder darauf an, ob der Erlass der Maßnahme rechtlich zulässig ist noch ob es an einer gerichtlichen Entscheidung über die Einziehung fehlt. Ebenfalls ist nicht erforderlich, dass die Einziehung ausdrücklich beantragt worden ist. Es genügt, dass sie nach Lage der Sache in Betracht kommt.
Landgericht Berlin
Beschluss
511 Qs 5 und 10/24
In der Strafsache des
früheren Angeklagten und rechtskräftig Freigesprochenen pp-
Verteidiger
Rechtsanwalt
hat die 11. große Strafkammer des Landgerichts Berlin I durch ihren Vorsitzenden als Einzelrichter am 5. März beschlossen:
Auf die Beschwerde des Verteidigers des Freigesprochenen wird der nicht datierte Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten, durch den der Gegenstandswert betreffend das Einziehungsverfahren auf 2.400 Euro festgesetzt worden ist, aufgehoben und der Gegenstandswert insoweit auf 5.850,83 Euro festgesetzt.
Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
1. Die Beschwerde gegen die Festsetzung des Gegenstandswertes ist zulässig. Deren Statthaftigkeit ergibt sich aus § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG. Da der jedenfalls nach dem 15. November 2023 ergangene (vgl. BI. 51 Bd. VI) Beschluss weder datiert noch - soweit ersichtlich -bekanntgegeben oder gar förmlich zugestellt worden ist, gilt die Beschwerde auch als innerhalb der Frist des § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG erhoben. Eine Zurückverweisung an das Amtsgericht zur
Durchführung des gemäß § 33 Abs. 4 Satz 1 RVG gebotenen Abhilfeverfahrens kommt vorliegend nicht in Betracht. Das Abhilfeverfahren ist für die Entscheidung des Beschwerdegerichts keine Verfahrensvoraussetzung (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner, StPO 65. Auflage, § 306 Rn. 10). Da die Kammer nicht an einer sofortigen eigenen Sachentscheidung gehindert ist, käme eine erneute Übersendung an das Amtsgericht zur Entscheidung über die Abhilfe vorliegend einer bloßen Förmelei gleich. Die Kammer ist bezüglich der Festsetzung des Gegenstandswertes schlussendlich auch trotz des - grundsätzliche vorrangigen - Antrags auf Feststellung einer Pauschgebühr nicht an einer Entscheidung gehindert, da der Vorrang hinsichtlich von Wertgebühren nicht gilt (§ 42 Abs. 1 Satz 2 RVG).
Über die Beschwerde entscheidet der Kammervorsitzende als Einzelrichter, § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG. Der angefochtene Beschluss ist durch einen Einzelrichter erlassen worden.
2. Die Beschwerde gegen die Festsetzung des Gegenstandswertes ist auch (teilweise) begründet.
Der Gegenstandswert für die Einziehung richtet sich nach dem objektiven wirtschaftlichen Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Anordnung (vgl. BGH, Beschluss vom 22.05.2019 ¬1 StR 471/18, m.w.N.). Es kommt weder darauf an, ob der Erlass der Maßnahme rechtlich zulässig ist noch ob es an einer gerichtlichen Entscheidung über die Einziehung fehlt. Ebenfalls ist nicht erforderlich, dass die Einziehung ausdrücklich beantragt worden ist. Es genügt, dass sie nach Lage der Sache in Betracht kommt (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 14. Februar 2020 - 1 Ws 40/20 -, Rn. 1, juris). Somit ist vorliegend unschädlich, dass weder in der Anklageschrift oder im Eröffnungsbeschluss noch in der Hauptverhandlung auf die Möglichkeit der Einziehung hingewiesen oder ein entsprechender Antrag gestellt worden ist. Maßgeblich ist vielmehr, dass nach dem konkreten Anklagesatz, der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen worden ist, bezüglich des Freigesprochenen (zumindest in jedenfalls sieben von acht ihm zur Last gelegten Taten) eine Einziehung tatsächlich in Betracht kam. Hiervon ist auch das Amtsgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgegangen.
Wie die Beschwerdebegründung zutreffend wiedergibt, ist ein Vermögensgegenstand oder sonstiger wirtschaftlicher Vorteil ist im Sinne des § 73 Abs. 1 Alternative 1 StGB „durch" eine rechtswidrige Tat als Tatertrag erlangt, wenn er dem Täter oder Teilnehmer unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes in irgendeiner Phase des Tatablaufs derart zugeflossen ist, dass er seiner faktischen Verfügungsgewalt unterliegt. Auf zivilrechtliche Besitz- oder Eigentumsverhältnisse kommt es dabei nicht an. Eine solche Verfügungsgewalt ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Tatbeteiligte im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf den betreffenden Vermögensgegenstand nehmen kann. Bei mehreren Beteiligten genügt zumindest eine tatsächliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand dergestalt, dass die Möglichkeit eines ungehinderten Zugriffs auf diesen besteht. Für die Bestimmung des Erlangten im Sinne von § 73 Abs. 1 StGB kommt es allein auf eine tatsächliche Betrachtung an; wertende Gesichtspunkte sind nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nicht zu berücksichtigen. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beteiligte eine zunächst gewonnene (Mit-)Verfügungsmacht später aufgegeben hat (ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. nur Beschluss vom 10. Januar 2023 - 3 StR 343/22 -, Rn. 5, mwN).
Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist somit maßgeblich, inwieweit der Freigesprochene ungehindert Zugriff auf vermeintlich betrügerisch erlangte Geldbeträge hatte. Dass er insoweit als Mitglied einer Bande angeklagt war, begründet nach dem Zuvorgesagten und der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung gerade keine gesamtschuldnerische Haftung hinsichtlich aller durch irgendwelche Bandenmitglieder (vermeintlich) erlangten wirtschaftlichen Vorteile (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2018 - 5 StR 196/18 -, juris).
Danach ist, da eine weitergehende faktische Verfügungsgewalt nicht ersichtlich ist, auf die Gutachterkosten abzustellen. Die in dem angefochtenen Beschluss in den acht angeklagten Fällen jeweils im Wege der Schätzung ermittelten 300 Euro erweisen sich hingegen als zu niedrig. Für eine Schätzung war bereits deshalb kein Raum, da in den die früheren Anklagevorwürfen betreffenden Fallakten jedenfalls Gutachten des Freigesprochenen vorlagen. Da nach der Anklagehypothese der Freigesprochene mit den vermeintlichen Unfallverursachern kollusiv zusammengewirkt haben soll, sind die gesamten Gutachterkosten wirtschaftlich wertlos und damit erlangtes „Etwas" im Sinne des § 73 StGB.
Danach gelten folgende Beträge als erlangt:
Fall 2 589,03 Euro (vgl. BI. 84 FA 3)
Fall 3 619,50 Euro (vgl. BI. 39 FA 5)
Fall 4 863,30 Euro (vg. BI. 39 FA 6)
Fall 5 832,83 Euro (vgl. BI. 187 FA 12)
Fall 6 924,05 Euro (vgl. BI. 103 FA 33)
Fall 8 832,83 Euro (vgl. BI. 69 FA 15)
Fall 12 1.189,29 Euro (vgl. BI. 138 FA 21)
Gesamt: 5.850,83 Euro
Bezogen auf Fall 14 war der Gegenstandswert mit 0 Euro zu bemessen, da es nach der Anklage beim Versuch verblieb und keine Regulierung erfolgte. Mithin hat der Freigesprochene auch aus der Tat nichts erlangt.
Veranlassung, die weitere Beschwerde zuzulassen, besteht nicht. Es handelt sich insoweit um hinlänglich geklärte Rechtsfragen.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt § 33 Abs. 9 RVG.
Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus sofortige Beschwerde gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der Rechtspflegerin beim Amtsgericht Tiergarten vom 9. Dezember 2023 erhebt, ist eine Entscheidung der Kammer wegen der vordringlichen Antrags auf Feststellung einer Pauschgebühr nicht veranlasst. Die Kammer wird die Sache nunmehr über die Staatsanwaltschaft Berlin dem Kammergericht zuleiten.
Einsender: RA K. Zaborowski, Berlin
Anmerkung:
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".