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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Rückwirkung, Bestellung, Zulässigkeit, unverzügliche Beiordnung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Dresden, Beschl. v. 29.02.2024 - 2 Qs 2/24

Eigener Leitsatz:

1. Unter besonderen Umständen ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO im Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde.
2. Unverzüglich im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet zwar nicht, dass die Pflichtverteidigerbestellung sofort zu erfolgen hat; vielmehr ist der Staatsanwaltschaft eine gewisse Überlegungsfrist zuzugestehen. Bei einem Zeitablauf von zehn Wochen zwischen der Stellung des Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und der Einstellung des Verfahrens verstößt die Staatsanwaltschaft allerdings gegen ihre Pflicht zur Herbeiführung einer unverzüglichen Entscheidung.
3. § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, bezieht sich ausdrücklich nur auf die in § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 bezeichneten Fälle, nicht aber auf Abs. 1 der Vorschrift.


3 Qs 2/24

BESCHLUSS

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger

Rechtsanwalt

wegen fahrlässiger Körperverletzung

hier Beschwerde gegen die Ablehnung der Beiordnung eines Pflichtverteidigers

ergeht am 29.02.2024

durch das Landgericht Dresden - 3. Strafkammer als Beschwerdekammer-
nachfolgende Entscheidung:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten pp. wird der Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 27.09.2023, mit der die Bestellung eines Verteidigers abgelehnt wurde, aufgehoben.
2. Dem Beschwerdeführer wird rückwirkend zum 11.07.2023 Rechtsanwalt pp, als Pflichtverteidiger beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Die Polizeidirektion Dresden führte gegen den inhaftierten Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen einer fahrlässigen Körperverletzung vom 28.03.2023. Am 28.06.2023 wurde diesem der Tatvorwurf in der JVA Bautzen eröffnet und seine Aussagebereitschaft erfragt. Mit anwaltlichem Schreiben vom 11.07.2023, eingegangen am selben Tag bei der Polizeidirektion Dresden, beantragte er die Beiordnung von Rechtsanwalt Renä -pp. als Pflichtverteidiger. Die Akte mit dem Beiordnungsantrag ging am 25.08.2023 bei der Staatsanwaltschaft ein. Mit Verfügung vom 11.09.2023 legte die Staatsanwaltschaft Dresden den Antrag des Beschwerde-führers auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers, dem sie nicht entgegen trat, dem Amtsgericht Dresden - Ermittlungsrichter - zur Entscheidung vor. Der Ermittlungsrichter leitete die Akte ohne Entscheidung über den Antrag an die Staatsanwaltschaft zurück, mit der Bitte, den dem Beschuldigten gemachten Tatvorwurf zu umreißen.

Die Staatsanwaltschaft Dresden stellte mit Verfügung vom 21.09.2023 das Verfahren gegen den Beschwerdeführer nach § 154 Abs. 1 StPO im Hinblick auf ein weiteres gegen ihn anhängiges Verfahren wegen Leistungserschleichung und der dort zu erwartenden Strafe vorläufig ein und legte den nach ihrer Ansicht nunmehr nicht mehr begründeten Beiordnungsantrag des zudem zwischenzeitlich (am 01.09.2023) aus der Haft entlassenen Beschwerdeführers vom 11.07.2023 erneut dem Amtsgericht Dresden - Ermittlungsrichter- vor.

Mit Beschluss vom 27.09.2023 lehnte das Amtsgericht - Ermittlungsrichter - den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt -pp. als Pflichtverteidiger mit der Begründung ab, die Einstellung des Verfahrens hätte auch nach § 170 Abs. 2 StPO erfolgen können und für eine rückwirkende Beiordnung wäre kein Raum, da eine justizinterne Verzögerung bei der Behandlung des Beiordnungsantrages nicht zu erblicken sei. Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschlusses wird auf diesen Bezug genommen.

Gegen diese, ihm am 13.10.2024 zugegangene, Entscheidung legte der Beschwerdeführer mit, taggleich beim Amtsgericht eingegangenen, anwaltlichem Schriftsatz vom 16.10.2023 sofortige Beschwerde ein. Das Amtsgericht Dresden - Ermittlungsrichter - legte die sofortige Beschwerde mit Verfügung vom 18.01.2023 über die Staatsanwaltschaft, die deren Verwerfung als unbegründet beantragt, dem Landgericht zur Entscheidung vor.

II.

Die durch den Beschwerdeführer eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig und auch begründet. Sie führt zur begehrten Beiordnung von Rechtsanwalt -pp..

1. Gegen die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers ist gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegeben, die gemäß 311 Abs. 2 StPO innerhalb einer Woche einzulegen ist. Diese Frist wurde durch den Eingang des Rechtsmittels bei Gericht am 16.10.2023 gewahrt, nachdem der Beschluss am 13.10.2023 zugestellt worden war.

2. Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 27.09.2023
hat auch in der Sache Erfolg.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung lag ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, der zur unverzüglichen Beiordnung eines Pflichtverteidigers hätte führen müssen. Der Beschwerdeführer befand sich jedenfalls am 28.06.2023, also zu dem Zeitpunkt, in dem ihm der Tatvorwurf förmlich eröffnet wurde, zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Bautzen. Ab diesem Zeitpunkt lagen die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor.

Nach Antragstellung am 11.07.2023 hätte die Staatsanwaltschaft mithin unverzüglich die Bestellung von Rechtsanwalt -pp. als Pflichtverteidiger veranlassen müssen (§ 141 Abs. 1 S. 1 StPO). Unverzüglich bedeutet in diesem Zusammenhang zwar nicht, dass die Pflichtverteidigerbestellung sofort zu erfolgen hat (vgl. BT-Dr. 19/13829, Seite 37); vielmehr ist der Staatsanwaltschaft dabei eine gewisse Überlegungsfrist zuzugestehen.

Bei einem Zeitablauf von zehn Wochen zwischen der Stellung des Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und der Einstellung des Verfahrens verstößt die Staatsanwaltschaft allerdings gegen ihre Pflicht zur Herbeiführung einer unverzüglichen Entscheidung.

Die Staatsanwaltschaft durfte die Herbeiführung der Entscheidung über den Bestellungsantrag auch nicht gemäß § 141 Abs. 2 S. 3 StPO unterlassen.

Denn § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, nach dem die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen, ist auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Diese Vorschrift bezieht sich ausdrücklich nur auf die in § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 bezeichneten Fälle, nicht aber auf Abs. 1 der Vorschrift (vgl. LG Mainz, Beschluss vom 11.10.2022 - 1 Qs 39/22; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 04.05.2020 - JKII Qs 15/20 jug; LG Mannheim, Beschluss vom 26.03.2020 - 7 Qs 11/20).

Das Amtsgericht hätte nach alldem im Zeitpunkt seiner Entscheidung am 27.09.2023 dem ehemaligen Beschuldigten ausnahmsweise rückwirkend einen Verteidiger beiordnen müssen.

Die Kammer geht zwar mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass nach dem endgültigen Abschluss eines Strafverfahrens die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt.

Unter besonderen Umständen ist allerdings eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO im Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn aufgrund von Umständen, die nicht in der Sphäre des Beschuldigten liegen, die Entscheidung über den Antrag auf Beiordnung gänzlich unterblieben ist oder erst mit Verzögerung bearbeitet wurde, insbesondere dann, wenn das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung verletzt wurde (vgl. LG Mannheim, Beschluss vom 26.03.2020 - 7 Qs 11/20; LG Bochum, Beschluss vom 18.09.2020 -11-10 Qs 6/20).

Denn bei dieser Fallkonstellation steht nicht das nachträgliche Verschaffen eines Gebührenanspruchs für den Verteidiger im Vordergrund, sondern die Korrektur einer fehlerhaften Behandlung des Beiordnungsantrages (vgl. u.a. LG Dresden, Beschluss vom 02.11.2020 - 2 Qs 18/20, Beschluss vom 27.11.2020 - 16 Qs 60/20; LG Passau, Beschluss vom 15.04.2020 - 1 Qs 38/20; LG Trier, a.a.O.; LG Stade, Beschluss vom 03.09.2019 - 70 Qs 145/19; LG Mannheim, Beschluss vom 26.03.2020 - 7 Qs 11/20).

Im Übrigen wäre ein apodiktisches Festhalten an dem eingangs genannten Grundsatz, dass eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers schlechthin unzulässig und unwirksam ist, mit Blick auf die mit dem Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 verfolgten Zwecke nicht sachgerecht. Denn die Neukonzeption der §§ 140 ff. StPO wurde notwendig, um Art. 4 PKH-Richtlinie umzusetzen. Dieser verlangt von den Mitgliedsstaaten, beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügen, Anspruch auf PKH zu gewähren, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die Intention des Gesetzgebers (und der PKH-Richtlinie) war es also nicht nur, eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern gleichermaßen, mittellose Beschuldigte von den Kosten des Verfahrens freizustellen. Dies spricht ebenfalls dafür, eine rückwirkende Bestellung für zulässig zu erachten, wenn trotz der Voraussetzung der §§ 140, 141 StPO über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung - wie im vorliegenden Fall - erst mit erheblicher Verzögerung entschieden wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, Rn. 20 zu § 142 StPO m. w. N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA. R Boer und RA M. Stephan, beide Dresden

Anmerkung:


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