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Entscheidungen

StPO

Berufungsverwerfung, ausländischer Angeklagter, Visum, abgeschobener/ausgewiesener Angeklagter

Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 28.12.2023 - 204 StRR 548/23

Leitsatz des Gerichts:

1. Wird mit der Revision gegen ein gemäß § 329 Abs. 1 StPO ergangenes Verwerfungsurteil geltend gemacht, dieses gehe zu Unrecht davon aus, dass ein Angeklagter nicht genügend entschuldigt gewesen sei und dass die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO sonst nicht gegeben waren, setzt die Überprüfung der vom Landgericht vorgenommenen Wertung die Erhebung einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge voraus. An die Zulässigkeit der Rüge einer Verletzung des § 329 StPO dürfen allerdings keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden. Es kann der Vortrag genügen, dass sich der Angeklagte bereits vor Erlass des Verwerfungsurteils auf die von ihm geltend gemachten Entschuldigungsgründe berufen habe.
2. Dem Senat obliegt im Revisionsverfahren die Prüfung, ob das Landgericht den Rechtsbegriff der „genügenden Entschuldigung“ i.S.d. § 329 Abs. 1 StPO zutreffend seiner Entscheidung zugrunde gelegt und gewürdigt hat. Das Ausbleiben eines Angeklagten ist entschuldigt, wenn ihm bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles daraus billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann.
3. Einem Angehörigen der Republik Kosovo, der aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht ausgewiesen oder abgeschoben worden war, ist es zumutbar, zur Wahrnehmung eines Hauptverhandlungstermins bei der zuständigen Deutschen Botschaft ein Visum zu beantragen.
4. Dagegen ist das Ausbleiben eines Angeklagten, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, genügend entschuldigt, da dieser sich strafbar machen würde, wenn er erneut in das Bundesgebiet einreist und ihm zuvor keine Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise erteilt worden ist. In diesem Fall ist es Sache der Strafverfolgungsbehörden, in Absprache mit der Verwaltungsbehörde zu klären, ob der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem öffentlichen Interesse an einem Aufenthalt des Ausländers außerhalb des Bundesgebietes der Vorrang einzuräumen ist.
5. Die unter Ziffer IV. dargestellte Rechtslage ist auf die Fallkonstellationen gemäß Ziffer III. nicht übertragbar.


Bayerisches Oberstes Landesgericht
204 StRR 548/23

In dem Strafverfahren
gegen pp.

wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

erlässt das Bayerische Oberste Landesgericht - 4. Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 28. Dezember 2023 folgenden

Beschluss

I. Die Revision des Angeklagten X. gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 14. Juni 2023 wird als offensichtlich unbegründet verworfen.
II. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
-

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Straubing hat den Angeklagten, einen kosovarischen Staatsangehörigen, am 04.10.2021 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 45 € verurteilt.

Die hiergegen am 05.10.2021 eingelegte Berufung hat das Landgericht Regensburg im Hauptverhandlungstermin am 14.06.2023 ohne Verhandlung zur Sache verworfen, da der Angeklagte ohne Entschuldigung ausgeblieben und auch nicht durch einen mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden sei. Es führt aus, dass die dem Angeklagten im Rechtshilfeweg am 26.04.2023 ordnungsgemäß zugestellte Ladung zum Hauptverhandlungstermin am 14.06.2023 mit dem Hinweis versehen war, dass der Angeklagte mit der gerichtlichen Ladung bei der Deutschen Botschaft ein Visum für die Einreise zur Wahrnehmung der Berufungshauptverhandlung beantragen und erhalten könne. Die Bearbeitungs- und Versandzeit für das Visum betrage nach den Bekanntmachungen auf der Homepage der Deutschen Botschaft in Pristina aktuell bis zu drei Wochen ab Antragstellung. Der Angeklagte hätte also genügend Zeit (sieben Wochen) gehabt, ein Visum zu beschaffen.

Gegen dieses seiner Pflichtverteidigerin am 22.06.2023 zugestellte Urteil hat der Angeklagte durch Schreiben seiner Pflichtverteidigerin vom 19.06.2023 am selben Tag Revision eingelegt und diese mit Schreiben seiner Pflichtverteidigerin am 27.06.2023 mit der ausgeführten Verfahrensrüge begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft München hat die kostenpflichtige Verwerfung der Revision als unbegründet beantragt.

Die Verteidigerin hat mit Schreiben vom 02.12.2023 eine Gegenerklärung abgegeben.

II.

Die gemäß §§ 333, 341 Abs. 2, §§ 342, 344, 345 StPO zulässige Revision des Angeklagten ist offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Wird mit der Revision gegen ein gemäß § 329 Abs. 1 StPO ergangenes Verwerfungsurteil geltend gemacht, dieses gehe zu Unrecht davon aus, dass ein Angeklagter nicht genügend entschuldigt gewesen sei und dass die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO sonst nicht gegeben waren, setzt die Überprüfung der vom Landgericht vorgenommenen Wertung die Erhebung einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge voraus (vgl. nur OLG Nürnberg, Beschlüsse vom 21.05.2008 – 2 St OLG Ss 228/07 –, StraFo 2008, 248, juris Rn. 9 m.w.N.; vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, juris Rn. 8; OLG Celle, Beschluss vom 18.01.2021 – 2 Ss 119/20 –, NStZ 2021, 764, juris Rn. 6; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 329 Rn. 48). Danach sind die den Mangel enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau mitzuteilen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung prüfen kann, ob die Rüge begründet ist, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen. An die Zulässigkeit der Rüge einer Verletzung des § 329 StPO dürfen allerdings keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden (vgl. nur OLG Nürnberg, Beschlüsse vom 21.05.2008 – 2 St OLG Ss 228/07 –, StraFo 2008, 248, juris Rn. 12; vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, juris Rn. 8, jeweils unter Hinweis auf BayObLG, Urteil vom 24.03.1999 – 5St RR 245/98 –, BayObLGSt 1999, 69, juris Rn. 7 ff.). In Fällen, in denen sich das Urteil nicht oder nicht ausreichend mit möglichen Entschuldigungsgründen auseinandersetzt, genügt die Verfahrensrüge schon dann den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, wenn mit ihr vorgetragen wird, der Angeklagte habe sich bereits vor Erlass des Verwerfungsurteils auf die von ihm geltend gemachten Entschuldigungsgründe berufen. Die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils brauchen hingegen nicht wiederholt zu werden; solches wäre bloßer Formalismus (OLG Nürnberg, Beschluss vom 21.05.2008 – 2 St OLG Ss 228/07 –, StraFo 2008, 248, juris Rn. 10). Ergibt sich, dass ein Angeklagter vor dem Hauptverhandlungstermin Entschuldigungsgründe vorgebracht hat, ist es demgemäß ausreichend, wenn ausgeführt wird, das Berufungsgericht hätte das Ausbleiben des Angeklagten nicht als unentschuldigt ansehen dürfen (OLG Nürnberg, Beschlüsse vom 21.05.2008 – 2 St OLG Ss 228/07 –, StraFo 2008, 248, juris Rn. 12; vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, juris Rn. 8).

Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung gerecht. Mit dieser wird vorgetragen, dass sich das Berufungsgericht nicht mit allen im Schriftsatz der Verteidigerin des Angeklagten vom 03.11.2022 (also vor der Berufungshauptverhandlung) genannten (in der Revisionsbegründung inhaltlich wiedergegebenen) Entschuldigungsgründen für das Nichterscheinen des Angeklagten auseinandergesetzt habe, und nicht auszuschließen sei, dass die Berufung nicht verworfen worden wäre, wenn das Gericht diese Entschuldigungsgründe beachtet hätte. Im Schriftsatz vom 03.11.2022 habe sie darauf hingewiesen, dass der Angeklagte, der allein die Staatsangehörigkeit der Republik Kosovo besitze, aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden sei und nicht über eine Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise verfüge. Hinzu komme, dass Angehörige dieses Staates für die Einreise in die EU allgemein ein Visum benötigen und die dortige Deutsche Botschaft mit Visumsanträgen chronisch überlastet sei (unter Hinweis auf VG Berlin, Beschluss vom 04.09.2020 - 12 K 520.19 V). Da der Angeklagte nicht über eine Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise verfüge, sei er nach der Rechtsprechung u.a. des Bayerischen Obersten Landesgerichts entschuldigt.

Damit sind diejenigen Umstände angegeben, die nach Auffassung der Revision das Berufungsgericht zur weiteren Sachaufklärung hätten drängen müssen (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, Rn. 8, juris).

2. Die Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge gleichwohl keinen Erfolg, weil sich das Berufungsgericht aufgrund der ihm bekannten Umstände des Einzelfalles nicht mit den in der Revisionsbegründung angestellten Entschuldigungsgründen auseinandersetzen musste und die ihm bei einer Entscheidung nach § 329 Abs. 1 StPO obliegende Aufklärungspflicht nicht verletzt hat.

a) Dem Senat obliegt im Revisionsverfahren die Prüfung, ob das Landgericht den Rechtsbegriff der „genügenden Entschuldigung“ i.S.d. § 329 Abs. 1 StPO zutreffend seiner Entscheidung zugrunde gelegt und gewürdigt hat. Dabei darf das Revisionsgericht nur solche Entschuldigungsgründe berücksichtigen, die der Berufungskammer im Zeitpunkt der Entscheidung erkennbar waren (OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, juris Rn. 10 m.w.N.).

Das Ausbleiben eines Angeklagten ist entschuldigt, wenn ihm bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles daraus billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann (Schmitt in: Meyer-Goßner/ Schmitt, a.a.O., § 329 Rn. 23). Als Entschuldigungsgründe können deshalb alle Umstände in Betracht kommen, die den Angeklagten am Erscheinen hinderten oder die sein Erscheinen bei Abwägung der widerstreitenden Interessen oder Pflichten als unzumutbar erscheinen ließen (Löwe-Rosenberg/Gössel, StPO, 26. Aufl. 2012, § 329 Rn. 35). War dem Angeklagten somit das Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht zumutbar und kann ihm wegen seines Fernbleibens der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung nicht gemacht werden, so gilt er als genügend entschuldigt (vgl. Löwe-Rosenberg/Gössel, a.a.O., § 329 Rn. 34 m.w.N.).

b) Ein nach § 329 Abs. 1 StPO ergangenes Verwerfungsurteil muss so begründet sein, dass das Revisionsgericht die maßgebenden Erwägungen des Berufungsgerichts nachprüfen kann. Insbesondere müssen etwa vorgebrachte Entschuldigungsgründe und sonstige gegebenenfalls als Entschuldigung in Betracht kommende Tatsachen wiedergegeben und gewürdigt werden. Das folgt schon daraus, dass das Revisionsgericht bei der ihm obliegenden Prüfung der Frage, ob das Berufungsgericht die in § 329 Abs. 1 StPO enthaltenen Rechtsbegriffe verkannt hat, an die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Verwerfungsurteil gebunden ist. Das Revisionsgericht darf diese Feststellungen weder in Frage stellen noch im Freibeweisverfahren ergänzen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 21.05.2008 – 2 St OLG Ss 228/07 –, StraFo 2008, 248, juris Rn. 15 m.w.N.). Auf die umfassende Würdigung des Entschuldigungsvorbringens darf nur dann verzichtet werden, wenn es ganz offensichtlich ungeeignet ist, das Ausbleiben des Angeklagten zu entschuldigen [vgl. KG, Beschluss vom 14.01.1997 – (4) 1 Ss 358/96 (144/96) –, juris Rn. 5; OLG Bremen, Beschluss vom 14.06.2005 – Ss 39/03 –, juris Rn. 9].

Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil. Die vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei festgestellten tatsächlichen Umstände (Bearbeitungsdauer für die Erteilung eines Visums) entschuldigen das Nichterscheinen des Angeklagten zum Hauptverhandlungstermin nicht. Der von der Revision darüber hinaus genannte rechtliche Entschuldigungsgrund (fehlende Pflichtverletzung mangels Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise) greift nicht durch, ist also offensichtlich ungeeignet, das Ausbleiben des Angeklagten zu entschuldigen, so dass das Urteil hierauf nicht beruht.

aa) Das Berufungsgericht muss von Amts wegen prüfen, ob Umstände ersichtlich sind, die das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, juris Rn. 11; Löwe-Rosenberg/Gössel, a.a.O., § 329 Rn. 22 m.w.N. zur Rspr.). Werden dem Gericht Entschuldigungsgründe bereits vor der Hauptverhandlung bekannt, etwa weil der Angeklagte seine voraussichtliche Verhinderung mitteilt, dann muss das Gericht die Zeit bis zur Hauptverhandlung nützen, um die Entschuldigungsgründe auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Es muss von Amts wegen die dazu erforderlichen Erhebungen durchführen oder den Angeklagten auffordern, ungenügende Angaben zu ergänzen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, juris Rn. 11 f.; Löwe-Rosenberg/Gössel, a.a.O., § 329 Rn. 25). Hierzu kann auch ein inhaltlich unzureichendes Entschuldigungsschreiben hinreichenden Anlass bieten (OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.01.2009 – 2 St OLG Ss 259/08 –, NJW 2009, 1761, juris Rn. 12; Löwe-Rosenberg/ Gössel, a.a.O., § 329 Rn. 22). Ein solches stellt der Schriftsatz der Verteidigerin vom 03.11.2022 dar. Dieser betraf zwar zunächst nur den ursprünglich angeordneten und dann wieder abgesetzten Hauptverhandlungstermin am 07.11.2022. Er bezieht sich aber unabhängig vom konkreten Termin auf die generelle Frage der Möglichkeit des Erscheinens des kosovarischen Angeklagten zur Hauptverhandlung in Deutschland.

bb) Dieser Prüfungs- und Aufklärungspflicht ist das Berufungsgericht hinsichtlich der entscheidungserheblichen Umstände nachgekommen. Es ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass dem Angeklagten die rechtzeitige Beschaffung eines Visums möglich war.

(1) Das Berufungsgericht hat den Angeklagten bereits mit der im Rechtshilfeweg zugestellten Ladung darüber informiert, dass dieser mit der gerichtlichen Ladung bei der Deutschen Botschaft ein Visum für die Einreise zur Wahrnehmung der Berufungshauptverhandlung beantragen könne.

Wie der Senat ergänzend aufgrund der zulässigen Aufklärungsrüge durch einen Blick in die Akten feststellen kann (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17.03.2006 – 1 StR 577/05 –, NStZ 2006, 587, juris Rn. 5; Urteil vom 04.03.1987 – 3 StR 623/86 –, juris Rn. 4; OLG Bamberg, Beschluss vom 06.03.2013 – 3 Ss 20/13 –, juris Rn. 13; s.a. Thüringer OLG, Beschluss vom 07.03.2006 – 1 Ss 193/05 –, NStZ-RR 2006, 278, juris Rn. 32), erfolgte ein gleichlautender Hinweis des Berufungsgerichts nochmals, nachdem sich der Angeklagte mit am 22.05.2023 eingegangenem Schreiben persönlich mit dem Berufungsgericht in Verbindung gesetzt und darum gebeten hatte, ihm die Möglichkeit zu geben, ein Visum zur Teilnahme an der Sitzung zu erhalten. Daraufhin hat der Vorsitzende Richter der Berufungskammer den Angeklagten mit Schreiben vom 23.05.2023 darüber informiert, dass dieser mit der gerichtlichen Ladung bei der Deutschen Botschaft ein Visum für die Einreise zur Wahrnehmung der Berufungshauptverhandlung beantragen könne. Dieses Schreiben ist am 01.06.2023 zur Post gegeben worden.

(2) Die Revision dringt auch nicht damit durch, dass der Angeklagte nicht rechtzeitig ein Visum hätte erhalten können.

Der Angeklagte hat zwar auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin (Beschluss vom 04.09.2020 - 12 K 520.19 V) hingewiesen. Danach ist - für das Jahr 2020 - von einer Überlastung der Visastelle der Deutschen Botschaft in Pristina auszugehen. Maßgebliche Ursache hierfür sei die Öffnung des Arbeitsmarktes für die Westbalkanstaaten seit 2016 gemäß § 26 Abs. 2 BeschV und eine daraus herrührende Steigerung der Antragszahlen binnen vier Jahren um mehr als 300 % (Vergleich 2015 - 2019). Die Bundesrepublik habe auf diese Antragsflut mit geeigneten organisatorischen Maßnahmen reagiert, etwa durch Erweiterung der baulichen Kapazitäten der Visastellen, der Schaffung zusätzlicher vier Schalterstellen für Visumsanträge und der deutlichen Aufstockung der personellen Kapazitäten. Daneben würden Anträge auf Visa in anspruchsgebundenen Kategorien, wie im Falle der begehrten Familienzusammenführung, prioritär behandelt, worin eine sachgemäße Differenzierung entsprechend der gesetzlichen Wertung zu erblicken sei. Diese organisatorischen Maßnahmen hätten angesichts der weiterhin bestehenden – derzeit (also im Jahr 2020) auch durch die Coronavirus-Pandemie bedingten – Wartezeiten von 15 - 17 Monaten für Termine zur Antragstellung bisher nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt. Das Verwaltungsgericht Berlin bezog sich insoweit auf eine Information auf der Homepage der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Pristina, zuletzt abgerufen am 4. September 2020 (a.a.O., juris Rn. 15).

Unter Berücksichtigung des Zeitablaufs von rund zwei Jahren und acht Monaten bis zur Hauptverhandlung am 14.06.2023, des Endes der Coronavirus-Pandemie und der identischen Informationsquelle des Verwaltungsgerichts Berlin stellt es keine Verletzung der Aufklärungspflicht dar, wenn das Berufungsgericht seine Erkenntnisse von einer bis zu drei Wochen dauernden Bearbeitungszeit der Deutschen Botschaft in Pristina ab Antragstellung für ein Visum ebenfalls auf die aktuelle Bekanntmachung auf der Homepage der Deutschen Botschaft in Pristina gestützt hat.

Es kommt hinzu, dass der Angeklagte in seinem undatierten, am 22.05.2023 eingegangenen Schreiben nicht auf eine verzögerte Behandlung oder sonstige Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Visums hingewiesen hat. Vielmehr ergibt sich aus diesem Schreiben, dass er bislang überhaupt keinen solchen Antrag gestellt hat, obwohl er bereits mit der Ladung hierauf hingewiesen wurde.

Damit kann er sich für sein Nichterscheinen in der Hauptverhandlung nicht damit entschuldigen, er habe kein Visum erhalten.

cc) Entgegen der Rechtsansicht seiner Verteidigerin bedurfte der Angeklagte keiner Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise. Dass sich das Berufungsgericht mit dieser Frage nicht auseinandergesetzt hat, bleibt revisionsrechtlich ohne Folgen, da das Berufungsurteil hierauf aus Rechtsgründen nicht beruht.

(1) Allerdings ist das Ausbleiben eines Angeklagten, der nach einer Ausweisung das Bundesgebiet verlassen hat, genügend entschuldigt, da dieser sich strafbar machen würde, wenn er erneut in das Bundesgebiet einreist und ihm auch keine Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise erteilt wurde (vgl. BayObLG, Beschlüsse vom 31.01.2000 – 4St RR 6/00 –, StV 2001, 339, juris Rn. 7; vom 20.06.1994 – 5St RR 49/94 –, juris Rn. 11; OLG Dresden, Beschluss vom 14.12.2010 – 1 Ss 866/10 –, juris Rn. 6; OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.08.2004 – 1 Ss 132/04 –, NStZ-RR 2004, 338, juris Rn. 19; Löwe-Rosenberg/ Gössel, a.a.O., § 329 Rn. 43; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 Rn. 25; KK-StPO/ Paul, 9. Aufl. 2023, StPO § 329 Rn. 11; s.a. BeckOK StPO/Eschelbach, 49. Ed. 01.10.2023, StPO § 329 Rn. 25; Burhoff/Hillenbrand/Laudon in: Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn. 815). Dasselbe soll gelten, wenn ein Ausländer zur Vermeidung seiner drohenden Ausweisung und Abschiebung freiwillig die Bundesrepublik verlassen hat und ihm bei Wiedereinreise die Strafbarkeit droht (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 14.06.2005 – Ss 39/03 –, StraFo 2005, 381, juris Rn. 11; dem folgend OLG Köln, Beschluss vom 17.09.2007 – 2 Ws 480/07 –, StraFo 2008, 29, juris Rn. 15).

In diesem Fall ist der Angeklagte auch nicht verpflichtet, sich als ausgewiesener Ausländer bei der Ausländerbehörde um eine kurzzeitige Betretenserlaubnis oder um ein Visum zum Zweck der Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens zu bemühen. Eine solche Mitwirkungspflicht eines Angeklagten besteht nicht. Es ist Sache der Strafverfolgungsbehörden, in Absprache mit der Verwaltungsbehörde zu klären, ob der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem öffentlichen Interesse an einem Aufenthalt des Ausländers außerhalb des Bundesgebietes der Vorrang einzuräumen ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 31.01.2000 – 4St RR 6/00 –, StV 2001, 339, juris Rn. 8). Den Angeklagten trifft insoweit keine ihm billigerweise zumutbare prozessuale Mitwirkungspflicht an der Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens (OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.08.2004 – 1 Ss 132/04 –, NStZ-RR 2004, 338, juris Rn. 20). Ist somit dem im Ausland lebenden Angeklagten die Einreise untersagt, ist ein Erscheinen nicht zumutbar und sein Ausbleiben daher entschuldigt (MüKoStPO/Quentin, 2. Aufl. 2024, § 329 Rn. 39; HK-GS/Halbritter, 5. Aufl. 2022, StPO § 329 Rn. 13). Um eine kurzzeitige Betretenserlaubnis muss er sich nicht bemühen (MüKoStPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn. 39).

(2) In einem solchen Fall stellt es einen Verfahrensfehler dar, wenn sich das Berufungsgericht in seinem Urteil mit der festgestellten Abschiebung (oder Ausweisung) und dem sich daraus möglicherweise ergebenden Entschuldigungsgrund nicht auseinandersetzt (vgl. BayObLG, Beschluss vom 20.06.1994 – 5St RR 49/94 –, juris Rn. 11).

Ein derartiger Fall liegt aber nicht vor. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, dass der Angeklagte ausgewiesen oder abgeschoben worden ist. Insoweit hat die Revision auch mit ihrer Verfahrensrüge keine Umstände aufgezeigt, die das Berufungsgericht hätten veranlassen müssen, eine Ausweisung oder Abschiebung festzustellen. Eine solche lag, wie ein aufgrund der Verfahrensrüge zulässiger Blick in die Akten ergibt, auch nicht vor. Die Stadt Straubing hat mit Bescheid vom 13.07.2021 (Bl. 45 und 48 ff. d.A.), der am selben Tag der Prozessbevollmächtigten des Angeklagten zugestellt worden ist (Bl. 70 d.A.), den Antrag des Angeklagten auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis vom 29.04.2021 abgelehnt, ihn verpflichtet, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung des Bescheids zu verlassen, und - sollte er dieser Verpflichtung nicht nachkommen - seine Abschiebung angedroht sowie darauf hingewiesen, dass im Falle einer Abschiebung gegen ihn ein auf 24 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden wird.

Im Hinblick auf diese Ausreiseaufforderung ist der Angeklagte am 17.11.2023 freiwillig ausgereist (vgl. Bl. 107 d.A.), also nicht abgeschoben worden. Ob ihm die Abschiebung durch Mitarbeiter der Ausländerbehörde nochmals mündlich angedroht worden ist, wie die Verteidigerin vorträgt, kann dahinstehen, da es nicht zu einer Abschiebung gekommen ist (so auch zutreffend OLG Nürnberg im Beschluss vom 17.08.2023 - Ws 712/23, Seite 3 = Bl. 244 d.A. -, mit dem die gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gerichtete sofortige Beschwerde des Angeklagten als unbegründet verworfen worden ist).

Dies entspricht auch der Rechtslage. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot kann abgesehen von den in § 11 Abs. 6 und 7 AufenthG geregelten Tatbeständen grundsätzlich nur in den in § 11 Abs. 1 AufenthG genannten Fällen, dass der Ausländer ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben wurde, verhängt werden, nicht aber wegen einer Ablehnung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels (vgl. BeckOK AuslR/Maor, 39. Ed. 01.10.2023, AufenthG § 11 Rn. 5). Gemäß § 11 Abs. 6 AufenthG kann zwar gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden. Es ist aber aus der Ermittlungsakte nicht ersichtlich, dass der Angeklagte im maßgeblichen Zeitraum vorgetragen hätte, dass eine solche gesonderte Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen ihn erfolgt wäre. Vielmehr wurde ein solches im Bescheid vom 13.07.2021 nur für den nicht eingetretenen Fall der Abschiebung angedroht. Einer Wiedereinreise in das Bundesgebiet stand somit kein Einreiseverbot im Wege, was auch von der Ausländerbehörde bestätigt wurde (vgl. Telefonvermerk des ermittelnden Staatsanwalts vom 29.12.2022, Bl. 178 d.A., und E-Mail an die Staatsanwaltschaft vom 30.12.2022, Bl. 170 d.A.).

(3) Eine Strafbarkeit wegen eines Verstoßes gegen ein behördlich angeordnetes Einreise- oder Aufenthaltsverbot im Sinne des § 11 AufenthG droht dem hiesigen Angeklagten somit nicht. Strafbar würde dieser sich gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG mithin nur dann machen, wenn er entgegen § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in das Bundesgebiet einreist, also den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt. Einen solchen stellt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ein Visum im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 AufenthG dar, das der Angeklagte als Staatsangehöriger der Republik Kosovo auch benötigt [vgl. Anhang I Nr. 2 zur Verordnung (EU) 2018/ 1806 (EU-Visum VO)]. Anders als die Beschaffung einer Ausnahmeerlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG war ihm die Beantragung eines solchen Visums aber zumutbar.

(3.1) Die o.g. Rechtsprechung, wonach ausgewiesene Ausländer nicht verpflichtet sind, sich bei der Ausländerbehörde um eine kurzzeitige Betretenserlaubnis oder um ein Visum zum Zweck der Durchführung des gegen sie gerichteten Strafverfahrens zu bemühen, und es Sache der Strafverfolgungsbehörden sei, in Absprache mit der Verwaltungsbehörde zu klären, ob der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem öffentlichen Interesse an einem Aufenthalt des Ausländers außerhalb des Bundesgebietes der Vorrang einzuräumen ist, ist für die vorliegende Fallkonstellation nicht einschlägig. Gegen eine entsprechende Anwendung dieser Grundsätze auf den hiesigen Fall spricht, dass bei der erforderlichen Visumserteilung an den Angeklagten mangels eines Wiedereinreiseverbots die Ausländerbehörde nicht eingebunden wird, sondern dieses durch den Angeklagten bei der zuständigen Deutschen Botschaft unter Vorlage der Ladung zum Hauptverhandlungstermin beantragt werden kann, ohne dass es einer Abstimmung der Ausländerbehörde mit den Strafverfolgungsbehörden bedürfte.

(3.2) Soweit das Oberlandesgericht Bremen der Ansicht ist, die Grundsätze der zitierten Rechtsprechung gelten auch dann, wenn ein Ausländer zur Vermeidung seiner drohenden Ausweisung und Abschiebung freiwillig die Bundesrepublik verlassen hat und ihm bei Wiedereinreise die Strafbarkeit droht (Beschluss vom 14.06.2005 – Ss 39/03 –, StraFo 2005, 381, juris Rn. 11), liegt dieser Fall gerade nicht vor. Es weist darauf hin, dass der Angeklagte in einem solchen Fall nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf (§ 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG) und im Falle einer erneuten Einreise oder eines Aufenthaltes mit strafrechtlicher Verfolgung wegen eines Vergehens gegen § 92 Abs. 2 Nr. 1a und b AuslG rechnen müsse, es sei denn, dass ihm ausnahmsweise eine Erlaubnis nach § 9 Abs. 3 AuslG erteilt worden sei. Damit geht es von der Anwendung einer aufenthaltsrechtlichen - mittlerweile durch § 11 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 8 AufenthG abgelösten - Norm aus, die in dem vom Senat zu entscheidenden Fall gerade nicht einschlägig ist.

Auch die sich dem Oberlandesgericht Bremen anschließende Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln steht der vom Senat vertretenen Rechtsansicht nicht entgegen. Dieses wendet die genannten Rechtsgrundsätze nur entsprechend auf den Fall an, dass dem Angeklagten nicht nur die Bewährungsauflage erteilt worden ist, unverzüglich das Land zu verlassen, sondern ihm auch nachdrücklich deutlich gemacht worden ist, dass sein weiteres Verbleiben in der Bundesrepublik unverzüglich den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach sich ziehen werde (Beschluss vom 17.09.2007 – 2 Ws 480/07 –, StraFo 2008, 29, juris Rn. 15).

Ein mit beiden Entscheidungen vergleichbarer Sachverhalt, der zur Unzumutbarkeit der Einreisebemühungen führen würde, liegt nicht vor. Demgemäß ging das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass sich der Angeklagte ein Visum für die Teilnahme am Hauptverhandlungstermin hätte beschaffen müssen.

3. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass auch die weiteren Voraussetzungen für eine Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne Verhandlung zur Sache vorliegen, insbesondere der Angeklagte auch nicht durch einen mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden sei. Dies hat die Revision mit ihrer Verfahrensrüge nicht angegriffen. Insoweit hätte es des Vortrages bedurft, dass eine solche schriftliche Vollmacht für den Verteidiger in der vorliegenden Strafsache erteilt worden sei (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 18.01.2021 – 2 Ss 119/20 –, NStZ 2021, 764, juris Rn. 17; OLG Hamm, Beschluss vom 24.11.2016 – III-5 RVs 82/16 –, juris Rn. 15). Dies ist nicht geschehen.

Im Übrigen wird auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrem Antragsschreiben vom 21.11.2023 hingewiesen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.


Einsender: 4. Strafsenat des BayObLG

Anmerkung:


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